2010 Gesundheitsrecht 213
VIII. Gesundheitsrecht
40 Medikamentenabgabe; Normenkontrollverfahren. - Für die Besserstellung von Ärzten der medizinischen Grundversor- gung bei der Selbstdispensation gemäss § 24 Abs. 3 HBV besteht keine zureichende gesetzliche Grundlage. - Weil eine erleichterte Zulassung der Ärzte zur Medikamentenabgabe auch keine Grundlage in den Massnahmen zur Sicherstellung der ärztlichen Grundversorgung im ambulanten Bereich (§ 40 GesG) findet, ist § 24 Abs. 2 HBV aufzuheben.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 25. Mai 2010 in Sachen H. gegen Kanton Aargau (WNO.2010.1).
Aus den Erwägungen
4.2.
Am 1. Januar 2002 ist das Bundesgesetz über Arzneimittel und
Medizinprodukte vom 15. Dezember 2000 (Heilmittelgesetz, HMG;
SR 812.21) in Kraft getreten, womit der Bund die Vorschriften im
Rahmen seiner Zuständigkeiten gemäss Art. 118 Abs. 2 BV erlassen
hat. Art. 24 Abs. 1 lit. a HMG sieht als Regel die Abgabe von ver-
schreibungspflichtigen Arzneimitteln durch die Apotheker vor. Die
Abgabe durch die Ärzte (weitere Medizinalpersonen) erfolgt nach
den Bestimmungen über die Selbstdispensation (Art. 24 Abs. 1 lit. b
HMG). Als Grundsatz gelten sodann gemäss Art. 26 Abs. 1 HMG,
dass bei der Verschreibung und der Abgabe von Arzneimittel die an-
erkannten Regeln der medizinischen und pharmazeutischen Wissen-
schaften beachtet werden müssen. In den Bestimmungen des KVG
wird zwischen der Abgabeberechtigung der Apotheken als primäre
Leistungserbringer für Medikamente und der Selbstdispensation der
Ärzte differenziert. Art. 37 Abs. 3 KVG weist die Regelung der
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Selbstdispensation den Kantonen zu (vgl. BGE 131 I 198 Erw. 2.5
mit Hinweisen). Dabei wird das Hauptkriterium dieser Regelung
vorgegeben, nämlich die Möglichkeit des Zugangs von Patienten zu
einer öffentlichen Apotheke.
Nachdem der Bundesgesetzgeber auch in den Ausführungsver-
ordnungen auf eine Normierung der Selbstdispensation verzichtete,
haben die Kantone die entsprechenden Bestimmungen zu erlassen
(Art. 83 Abs.1 lit. b HMG; vgl. Moritz W. Kuhn/Tomas Poledna,
Arztrecht in der Praxis, 2. Aufl., 2007, S. 475). Die Bestimmungen
über die Selbstdispensation sind damit selbstständiges kantonales
Recht.
4.3.
Gemäss § 44 Abs. 2 GesG kann der Kantonsarzt Ärzten die
Führung einer Privatapotheke in Ortschaften ohne öffentliche Apo-
theke bewilligen, wenn die rasche und für jedermann mögliche Ver-
sorgung mit Arzneimitteln nicht durch eine öffentliche Apotheke
einer nahe gelegenen Ortschaft gewährleistet ist.
Im Rahmen der Totalrevision des Gesundheitsgesetzes war die
Selbstdispensation umstritten. Dem Vernehmlassungsentwurf vom
5. September 2007 ist zu entnehmen, dass die neue Bestimmung
(§ 45 E-GesG heute: § 44 GesG) die bisherige Ordnung in § 32
Abs. 1 und 2 aGesG unverändert übernehme (Botschaft des Regie-
rungsrats des Kantons Aargau an den Grossen Rat vom 21. Mai
2008, Gesundheitsgesetz [08.141], nachfolgend: Botschaft 1 GesG,
S. 77). Anlässlich der 1. Beratung im Grossen Rat am 16. Septem-
ber 2008 plädierte die Mehrheit für die Beibehaltung der bisherigen
Ordnung (Theres Lepori-Scherrer ["...Beibehaltung des bisherigen
Medikamentenversorgungssystems..."]; Dr. Rudolf Jost ["...dass an
diesem bewährten System nicht gerüttelt werden soll"]; Hans Dös-
segger ["...beim bewährten System Aargau zu bleiben,..."];
Dr. Andreas Brunner ["Die bisherige Lösung (...) hat sich be-
währt"]). Anträge im Parlament auf Lockerung der bisherigen
Ordnung, darunter auch der Prüfungsantrag von Dr. Robert Rhiner
betreffend Wahlfreiheit der Patienten beim Medikamentenbezug,
welcher Unterstützung von Susanne Hochuli erhielt, wurden ab-
gelehnt. Regierungsrat Ernst Hasler verwies auf die gefestigte und
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jahrelange Praxis zur Bedeutung der Begriffe "rasch" und "für jeder-
mann zugänglich" (vgl. 141. Sitzung, Art. 1869-1871; AGVE 2001,
S. 127 Erw. 6a; vgl. auch VGE III/121 vom 12. September 2000
[BE.1999.00160] Erw. 7b, bestätigt in: Urteil des Bundesgerichts
vom 24. Oktober 2001 [2P.52/2001] = ZBl 2002, S. 322). Der Grosse
Rat hat die Regelung des Selbstdispensationsverbots in der Schluss-
abstimmung praktisch wortwörtlich (ausser: "Arzneimittel" statt
"Medikamente") vom aGesG übernommen. Es darf daher davon
ausgegangen werden, dass die langjährig entwickelte Praxis zu den
Begriffen der "raschen" und "für jedermann mögliche Versorgung"
bestätigt wurden. Aus den Materialien nicht ersichtlich ist, ob der
Gesetzgeber von einer abschliessenden Regelung im Gesetz ausging,
wie dies der Gesuchsteller behauptet.
Im Rahmen einer Ausführungs- und Vollziehungsverordnung
können im Interesse der Rechtsgleichheit eine Verwaltungspraxis
festgehalten unbestimmte Rechtsbegriffe konkretisiert werden.
Von dieser Befugnis hat der Regierungsrat mit Bezug auf die Abgabe
von Medikamenten in § 24 Abs. 2 HBV Gebrauch gemacht und die
Voraussetzungen der Selbstdispensation näher umschrieben. Dem-
nach gilt die rasche und für jedermann mögliche Versorgung mit Arz-
neimitteln durch eine öffentliche Apotheke in einer nahe gelegenen
Ortschaft als gewährleistet, wenn der Zeitaufwand für den einfachen
Weg bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in der Regel nicht
mehr als eine Stunde beträgt und ungefähr stündlich ein öffentliches
Verkehrsmittel zur Verfügung steht. Die Parteien sind sich einig, dass
mit dieser Bestimmung die unter dem früheren Recht entwickelte
und vom Verwaltungsgericht bestätigte Praxis, rechtsatzmässig ver-
ankert wurde und zum Ausdruck bringt, dass das Selbstdispensa-
tionsverbot nach der bisherigen Praxis (...) vollzogen wird. Damit ist
auch erstellt, dass für die Konkretisierung der Voraussetzungen für
den Betrieb einer Privatapotheke durch Ärzte gemäss § 44 Abs. 2
GesG für den Gesetzgeber der Zeitaufwand von nicht mehr als einer
Stunde zur Beschaffung eines Medikaments massgebend war. Die
Zeitlimite muss zudem unter Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel
erfüllbar sein (AGVE 1993, S. 246 mit Hinweisen; AGVE 2001,
S. 142). Mit der Ausführungsbestimmung in § 24 Abs. 2 HBV
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wurden die inhaltlichen Vorgaben der gesetzlichen Regelung zur
Selbstdispensation umgesetzt und mit dieser Verordnungsbestim-
mung hat der Regierungsrat die generelle Ermächtigung zum Erlass
von Ausführungsvorschriften (§ 57 GesG) hinsichtlich der Selbst-
dispensation auch ausgeschöpft.
Ein Vorbehalt eine Differenzierung des gesetzlichen Distri-
butionsmodells nach Art der Arztpraxen (Grundversorgung) der
Ausbildung der Ärzte (§ 29 Abs. 1 lit. a-d GesV) findet sich im Ge-
setz nicht. Die Regelung der Ausnahmen zum Selbstdispensations-
verbot sieht auch keine weiteren Lockerungsmöglichkeiten bzw.
"Ausnahmen von der Ausnahme" bei der Abgabe von Medikamenten
durch Ärztinnen und Ärzte vor. Ein Handlungsspielraum im Sinne ei-
ner Lockerung der Voraussetzungen für die Bewilligung einer Privat-
apotheke für bestimmte Arztpraxen geht über die im Gesetz um-
schriebenen Grundzüge der Selbstdispensation hinaus. Die gesetzli-
chen Vorgaben schliessen auch eine unterschiedliche Auslegung der
unbestimmten Rechtsbegriffe nach Ärztekategorien aus.
Für eine Besserstellung von Ärzten der medizinischen Grund-
versorgung bei den Voraussetzungen der Selbstdispensation besteht
in § 44 GesG keine gesetzliche Grundlage. Die Kompetenz zum Er-
lass von Ausführungsvorschriften in § 57 GesG erlaubt kein Abwei-
chen von der gesetzlichen Ordnung der Selbstdispensation. Die Ein-
führung einer erleichterten Selbstdispensationsbewilligung für be-
stimmte Ärzte(-gruppen) tangiert auch den Grundsatz, wonach nur
die Möglichkeit der Patienten zum Zugang zu Medikamenten das
Kriterium für eine Bewilligung ist (Erw. II./4.2).
4.4.
4.4.1.
Der Ausnahmetatbestand in § 24 Abs. 3 HBV stützt sich nach
Darstellung des Regierungsrates auf § 40 Abs. 3 GesG. Diese Be-
stimmung ist im Ingress der HBV auch aufgeführt.
Zur Sicherstellung der ärztlichen Grundversorgung im ambu-
lanten Bereich trifft der Kanton Massnahmen (§ 40 Abs. 1 GesG). Zu
diesem Zweck kann der Kanton finanzielle Mittel für Massnahmen
im Bereich der Aus-, Weiter- und Fortbildung von Ärzten, der Orga-
nisation des Notfalldiensts und weiteren Anreizmassnahmen, die der
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Förderung der ärztlichen Grundversorgung dienen (§ 40 Abs. 2 lit. a
bis c GesG), einsetzen. Die Delegationsnorm (§ 40 Abs. 3 GesG)
überträgt dem Regierungsrat die Regelung der Einzelheiten.
Die in Buchstabe a (Aus-, Weiter- und Fortbildung) und b (Or-
ganisation Notfalldienst) erwähnten Massnahmen kommen als ge-
setzliche Grundlage für die besondere Regelung der Selbstdispensa-
tion nicht in Betracht. Zu prüfen ist, ob sich die umstrittene, modifi-
zierte Ausnahme vom Selbstdispensationsverbot als "weitere Anreiz-
massnahme, die der Förderung der ärztlichen Grundversorgung
dient", auf § 40 GesG stützen kann.
4.4.2.
Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Be-
stimmung. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Inter-
pretationen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht
werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente. Abzustel-
len ist dabei namentlich auf die Entstehungsgeschichte der Norm und
ihren Zweck, auf die dem Text zu Grunde liegenden Wertungen so-
wie auf die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Be-
stimmungen zukommt. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht un-
mittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der
Norm zu erkennen. Namentlich bei neueren Texten kommt den Ma-
terialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder
ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger na-
helegen. Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen
stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann al-
lein auf das grammatische Element abgestellt, wenn sich daraus
zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergab (BGE 133 V 10 f. mit
Hinweisen; vgl. auch AGVE 2003, S. 191 f. mit Hinweisen).
4.4.3.
Nach dem Wortlaut in § 40 GesG geht es um Massnahmen zur
Sicherstellung einer ärztliche Grundversorgung im ambulanten Be-
reich (Marginale und Abs. 1) und bei den Massnahmen handelt es
sich um den Einsatz von finanziellen Mitteln für zweckorientierte
Anreize (Abs. 2). Diese Beschränkung der Massnahmen auf den Ein-
satz staatlicher Mittel findet sich in den Materialien bestätigt. Ge-
mäss Botschaft wurden im Rahmen eines Pilotprojekts seit 2008 und
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mit Mitteln des Lotteriefonds (Ausbildungs-) Beiträge für Praxisassi-
stenzen in Hausarztpraxen finanziert. Das neue Gesundheitsgesetz
sah für diese Massnahmen die Finanzierung aus dem ordentlichen
Staatshaushalt vor. Was den Einsatz finanzieller Mittel für weitere
Anreizmassnahmen zur Förderung der ärztlichen Grundversorgung
gemäss § 40 Abs. 2 lit. b GesG angeht, geht es nach Darstellung des
Regierungsrates vor allem um die Erteilung eines entgeltlichen Leis-
tungsauftrags an den Aargauischen Ärzteverband für die Organisa-
tion der notfalldienstlichen Grundversorgung (Botschaft 1 GesG,
S. 73).
Der Delegationsvorbehalt in § 40 Abs. 3 GesG umfasst daher
den Einsatz finanzieller staatlicher Hilfe an die ärztliche Grundver-
sorgung und beschränkt sich auch auf solche Anreize. Einen Hand-
lungsspielraum zu andern Massnahmen als den Einsatz finanzieller
Mittel lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Insbesondere fehlt je-
der Bezug Hinweis zur Marktordnung für die Abgabe von Me-
dikamenten. Aus der systematischen Stellung von § 40 GesG ergeben
sich keine Anhaltspunkte für eine andere Auslegung. Die Förderung
der ärztlichen Grundversorgung ist im Kapitel 7 (Versorgungssicher-
heit) geregelt, während die kantonalen Bestimmungen über das Heil-
mittelwesen in einem separaten Kapitel 8 zusammengefasst sind. Ge-
rade die Antwort des Regierungsrats auf das Postulat der SP-Fraktion
betreffend Strategie gegen Ärztemangel bestätigt, dass die Förderung
der Hausarztmedizin finanzielle Massnahmen und nicht strukturpoli-
tische Massnahmen im Medikamentenhandel beinhaltet. Der Re-
gierungsrat sieht vor, die Entwicklung der Hausarztmedizin in den
kommenden Jahren aufmerksam zu verfolgen und bei Bedarf von
den im kantonalen Kompetenzbereich liegenden Möglichkeiten Ge-
brauch zu machen (vgl. Entgegennahme des Postulats der SP-Frak-
tion vom 31. März 2009 [GR.09.106]). In der Sache fraglich er-
scheint, ob eine Lockerung der Medikamentenabgabe nicht eher die
Versorgung mit Medikamenten als die ärztliche Grundversorgung
fördert.
4.5.
Ob dem Regierungsrat in § 40 GesG die Befugnis zu andern
Massnahmen als die im Gesetz erwähnten finanziellen Leistungen
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eingeräumt wurde, muss im vorliegenden Fall nicht abschliessend
beurteilt werden. Die Regelung der Selbstdispensation in § 44 Abs. 2
GesG lässt - auch aus Gründen der Rechtsgleichheit - unterschied-
liche Voraussetzungen für Grundversorger Arztpraxen im länd-
lichen Gebiet nicht zu. Eine Förderung der ärztlichen Grundversor-
gung mittels einer erleichterten Zulassung der Ärzte zur Medikamen-
tenabgabe überschreitet die Grenzen der gesetzlichen Befugnisse des
Regierungsrates aus § 40 GesG und die (Förder-) Massnahme in der
Verordnung verletzt die Grundordnung der Selbstdispensation in § 44
GesG und damit den Grundsatz der Gewaltenteilung.
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