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IX. Gesundheitsrecht
63 Ärztliche Sorgfaltspflicht im Zusammenhang mit der Beihilfe zum Suizid. - Die Verordnung eines rezeptpflichtigen Betäubungsmittels stellt eine aufsichtsrechtlich relevante Tätigkeit im Rahmen der ärztlichen Be- rufsausübung dar; hierin eingeschlossen sind die der Rezeptierung vorausgehenden Untersuchungen und Abklärungen (Art. 9 Abs. 1 Satz 1, 10 Abs. 1 und 11 Abs. 1 BetmG; §§ 22 Abs. 1 und 33 Abs. 1 GesG) (Erw. 2). - Völkerrechtliche Aspekte, insbesondere Anwendung von Art. 8 EMRK (Erw. 3). - Rückgriff auf die SAMW-Richtlinien (Erw. 4/a). Würdigung der Ein- zelfälle (Erw. 4/b). - Verhältnismässigkeit des Verbots, von der Betäubungsmittelgesetzge- bung erfasste Stoffe zu rezeptieren abzugeben (Erw. 5).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 28. Januar 2005 in Sa- chen M. gegen Regierungsrat.
Aus den Erwägungen
1. Das Gesundheitsdepartement wirft dem Beschwerdeführer vor, gegen § 22 Abs. 1 GesG und gegen Art. 11 BetmG verstossen zu haben, dies namentlich weil er Suizidbeihilfe bei psychisch Kranken geleistet, die Diagnosestellung und die Abklärung der Urteilsfähig- keit nicht mit der nötigen Sorgfalt durchgeführt sowie unzureichende Zeugnisse ausgestellt habe. Auch der Regierungsrat bejahte eine Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflichten. Der Beschwerdeführer nimmt nun unter Hinweis auf die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) den Stand- punkt ein, Beihilfe zum Suizid sei keine ärztliche Tätigkeit im Sinne der Behandlung eines Patienten; folglich gebe es für eine staatliche
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Aufsicht über diese Gutachtertätigkeit auch keine gesetzliche Grundlage. 2. a) Gemäss Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BetmG können Ärzte, Zahn- ärzte, Tierärzte und verantwortliche Leiter von öffentlichen Spitalapotheken, die ihren Beruf auf Grund der von der zuständigen kantonalen Behörde gemäss Bundesgesetz vom 19. Dezember 1877 betreffend die Freizügigkeit des Medizinalpersonals in der Schweize- rischen Eidgenossenschaft erteilten Ermächtigung selbständig aus- üben, Betäubungsmittel nach Massgabe des Bedarfs der vorschrifts- gemässen Berufsausübung ohne besondere Bewilligung beziehen, lagern, verwenden und abgeben. Zum Verordnen von Betäubungs- mitteln sind die in Art. 9 genannten Ärzte und Tierärzte befugt (Art. 10 Abs. 1 BetmG). Auch § 33 Abs. 1 GesG schreibt unter dem Randtitel "Rezeptbefugnis" vor, dass Arzneimittel nur von Ärzten, Zahnärzten und behandelnden Tierärzten verordnet werden dürfen. Die Verordnung eines rezeptpflichtigen Betäubungsmittels - und um ein solches handelt es sich bei dem hier in Frage stehenden Wirkstoff Natrium-Pentobarbital (Anhang a der Verordnung des Schweizeri- schen Heilmittelinstituts über die Betäubungsmittel und psychotro- pen Stoffe vom 12. Dezember 1996 [SR 812.121.2, Fassung vom 15. November 2001]) - darf somit von Bundesrechts wegen wie auch nach kantonalem Recht nur im Rahmen der ärztlichen Berufsaus- übung erfolgen, welche der Aufsicht durch den Kantonsarzt und das Gesundheitsdepartement untersteht (§ 4 und § 7 Abs. 4 GesG). b) Handelt es sich beim Verordnen eines Betäubungsmittels um eine aufsichtsrechtlich relevante Tätigkeit im Rahmen der Berufs- ausübung, trifft dies selbstverständlich auch auf die der Verordnung vorausgehenden Untersuchungen und Abklärungen zu. Diese bilden eine unabdingbare Voraussetzung für die Ausstellung des Rezepts, denn Betäubungsmittel dürfen nur in dem Umfang verordnet werden, wie dies nach den anerkannten Regeln der medizinischen Wissen- schaften notwendig ist (Art. 11 Abs. 1 BetmG; siehe auch Art. 26 Abs. 1 HMG). Die behördliche Beurteilung, ob die Verordnung eines Betäubungsmittels im Einzelfall rechtmässig war, erfolgt daher aufgrund der vorgängig durchgeführten Untersuchungen und Abklärungen, über die der Arzt von Gesetzes wegen Aufzeichnungen
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zu machen hat (§ 23 Abs. 3 Sätze 1 und 2 GesG). Ob der Arzt dabei im direkten Auftrag des Suizidwilligen handelt aber als "Gut- achter" im Auftrag einer Institution (z.B. DIGNITAS EXIT), welcher er das Betäubungsmittel schliesslich rezeptiert, ist aus aufsichtsrechtlicher Sicht unerheblich. In beiden Fällen muss die Verordnung des Betäubungsmittels den erwähnten Anforderungen von Art. 11 Abs. 1 BetmG, aber auch jenen von § 22 Abs. 1 GesG genügen, wonach sich die Medizinalpersonen bei der Berufsaus- übung an die Grundsätze der Wissenschaft, der Berufsethik und der Wirtschaftlichkeit der Behandlung zu halten haben. Diese Vorgaben sind naturgemäss auch zu beachten, wenn die Leistungen des Arztes unentgeltlich gegen Überweisung eines symbolischen Honorars an eine gemeinnützige Organisation erbracht werden. Insofern überzeugt der Standpunkt des Beschwerdeführers, der zwischen ärztlicher und nichtärztlicher Tätigkeit unterscheidet und auf den Umstand verweist, dass kein Vertragsverhältnis mit den Patienten bestand, nicht. Dem Beschwerdeführer hilft auch nicht, dass in den vom Senat der SAMW am 25. November 2004 genehmigten medi- zinisch-ethischen Richtlinien "Betreuung von Patienten am Lebens- ende" (Ziff. 4.1, S. 7) festgestellt wird, die Beihilfe zum Suizid sei "nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit". Diese Aussage ist klarerweise mit Blick auf die Ziele der Medizin gemeint, Krankheiten zu heilen, Schmerzen zu lindern und den Patienten in seiner Krankheit zu be- gleiten; Freitodbegleitung gehört - zumindest in einem engeren Sinne - nicht dazu (a.a.O., S. 7). c) Als Zwischenergebnis ist mithin festzuhalten, dass der Be- schwerdeführer, soweit er die medizinischen Akten von suizidwilli- gen Personen studierte, mit ihnen Gespräche führte, ihnen ärztliche Zeugnisse ausstellte und zuhanden von DIGNITAS Natrium-Pento- barbital rezeptierte, im Rahmen der ärztlichen Berufsausübung han- delte, welche der Aufsicht durch den Kantonsarzt und das Gesund- heitsdepartement unterstand. Die sachliche Zuständigkeit des Ge- sundheitsdepartements ist daher zu bejahen; es war nach Massgabe von § 4 Abs. 2 GesG befugt, die aufsichtsrechtlich notwendigen Massnahmen und Verfügungen zu erlassen.
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3. a) Der Beschwerdeführer setzt dem nun allerdings das Völ- kerrecht, insbesondere Art. 8 EMRK entgegen. Diese Bestimmung verschaffe dem Einzelnen einen Anspruch auf Achtung seines Pri- vatlebens, wozu auch das Recht gehöre, seinem eigenen Leben ein selbstbestimmtes Ende zu bereiten; die Suizidfreiheit bestehe vor- aussetzungslos, vollkommen unabhängig von irgend einer medizini- schen Indikation. Der Anspruch aus Art. 8 EMRK reiche aber noch weiter. Die Schwierigkeit bestehe nämlich darin, dass aufgrund der heutigen technischen und pharmazeutischen Gegebenheiten keine allgemein zugängliche Methode des Suizids mehr bestehe, die eini- germassen risikofrei wirke, wogegen die einzige Methode, welche bei regelrechter Durchführung risiko- und schmerzfrei wirke - die Verwendung von Natrium-Pentobarbital -, auch dann nicht allgemein und ohne weiteres zugänglich sei, wenn für einen Menschen wirklich ernsthafte Gründe vorhanden seien, seinem eigenen Leben ein Ende zu bereiten. Soweit das Landesrecht nicht die Möglichkeit vorsehe, Natrium-Pentobarbital zur Durchführung eines risiko- und schmerz- losen Suizids zu beziehen, bestehe das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierte Recht auf Beendigung des eigenen Lebens nur theore- tisch. Dies stelle eine Verletzung der EMRK dar. Dieser Standpunkt stützt sich im Wesentlichen auf den Aufsatz "Die EMRK schützt die Suizidfreiheit" von Ludwig A. Minelli ab (veröffentlicht in: AJP 5/2004, S. 491 ff. [Zusammenfassung auf S. 497 f.]). b) Art. 8 EMRK lautet wie folgt: "(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Fami-
lienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz."
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen,
soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokrati-
schen Gesellschaft notwendig ist für die nationale öffentliche
Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechter-
haltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der
Gesundheit der Moral zum Schutz der Rechte und Frei-
heiten anderer."
aa) Wegleitend für die Auslegung von Art. 8 EMRK ist das Ur- teil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 29. April 2002 in der Sache Diane Pretty v. The United
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Kingdom (2346/02). Zu beurteilen war der Fall einer 43-jährigen Frau, die an einer fortgeschrittenen Form der amyotrophen Lateral- sklerose litt. Es handelt sich dabei um eine unheilbare neurologische Erkrankung, die zum Verlust der Muskelsubstanz und damit einher- gehend zu einer fortschreitenden Lähmung führt (Erw. 7). Diane Pretty war vom Hals an abwärts gelähmt, konnte kaum noch ver- ständlich sprechen und wurde mittels eines Schlauchs ernährt. Ihre Lebenserwartung war kurz und konnte nur noch in Wochen Monaten gemessen werden. Nicht beeinträchtigt waren ihr Intellekt und ihre Urteilsfähigkeit. Sie äusserte mit Nachdruck den Wunsch, selber bestimmen zu können, wann sie sterbe, um auf diese Weise von Leiden und Unwürdigem verschont zu bleiben (Erw. 8). Ihr Ehegatte sollte ihr beim Freitod behilflich sein, aber nur, wenn ihm von den Strafverfolgungsbehörden Straffreiheit garantiert würde, was diese mit Verweisung auf den "Suicide Act 1961" jedoch ablehnten (Erw. 10 ff.). Der EGMR führte in diesem Zusammenhang und mit Blick auf Art. 8 EMRK wörtlich aus (Erw. 67): "The applicant in this case is prevented by law from exercising her
choice to avoid what she considers will be an undignified and
distressing end of her life. The court ist not prepared to exclude that
this constitutes an interference with her right to respect for private
life as guaranteed under Article 8 § 1 of the Convention."
Ob das Recht auf Achtung des Privatlebens gemäss Art. 8 Abs. 1 EMRK auch das Recht, seinem eigenen Leben ein selbst- bestimmtes Ende zu bereiten, umfasst, ist damit vom EGMR noch nicht endgültig entschieden worden. Dies räumt im Übrigen auch Minelli ein (a.a.O., S. 492). bb) Selbst wenn man davon ausginge, Art. 8 Abs. 1 EMRK ga- rantiere dieses Recht, bestünde es nicht voraussetzungslos, wie dies der Beschwerdeführer postuliert. Im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK sind nämlich Einschränkungen des Rechts auf Achtung der Privatsphäre möglich. Dort sind für die staatlichen Behörden die Rechtfertigungsgründe für Eingriffe, für das Individuum die Schran-
ken der Ausübung des jeweiligen Rechts festgelegt. Eingriffe staat-
licher Behörden bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, welche hin- reichend zugänglich und hinreichend präzise formuliert sein muss.
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Der Eingriff muss darüber hinaus einen in Art. 8 Abs. 2 EMRK ab- schliessend genannten Zweck verfolgen. Schliesslich muss der be- hördliche Eingriff "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein. Der EGMR hat diesen Rechtfertigungsgrund in ständiger Rechtsprechung so ausgelegt, dass die Massnahmen einem "dringen- den gesellschaftlichen Bedürfnis" entsprechen und verhältnismässig erscheinen müssen (Mark E. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK], 2. Auflage, Zürich 1999, Rz. 543 ff. mit Hinweisen; Jochen Frowein / Wolfgang Peukert, Europäische MenschenRechtsKonvention, 2. Auflage, Kehl 1996, Art. 8 N 12 ff.). In diesem Sinne prüfte der EGMR, ob der "Suicide Act 1961" den Anforderungen von Art. 8 Abs. 2 EMRK genüge (Erw. 67); er führte dazu aus (Erw. 74): "Nonetheless, the Court finds, in agreement with the House of Lords
and the majority of the Canadian Supreme Court in Rodriguez, that
States are entitled to regulate through the operation of the general
criminal law activities which are detrimental to the life and safety of
other individuals (see also Laskey, Jaggard and Brown, cited above,
pp. 132-33, § 43). The more serious the harm involved the more
heavily will weigh in the balance considerations of public health and
safety against the countervailing principle of personal autonomy. The
law in issue in this case, section 2 of the 1961 Act, was designed to
safeguard life by protecting the weak and vulnerable and especially
those who are not in a condition to take informed decisions against
acts intended to end life or to assist in ending life. Doubtless the
condition of terminally ill individuals will vary. But many will be
vulnerable and it is the vulnerability of the class which provides the
rationale for the law in question. It is primarily for States to assess
the risk and the likely incidence of abuse if the general prohibition
on assisted suicides were relaxed or if exceptions were to be created.
Clear risks of abuse do exist, notwithstanding arguments as to the
possibility of safeguards and protective procedures."
Für den EGMR sind somit öffentliche Gesundheit und Privat- autonomie gegeneinander abzuwägen. Der Schutz der schwachen und verletzlichen Personen rechtfertige ein Gesetz, das die Beihilfe zum Suizid unter Strafandrohung verbietet. Es sei hauptsächlich
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Sache der Staaten, die Risiken abzuwägen und die Wahrscheinlich- keit von Missbräuchen zu bewerten, welche mit einer Lockerung der gesetzlichen Regelung bzw. mit einer Schaffung von Ausnahmen einhergingen. Es existierten klare Missbrauchsrisiken, und zwar ungeachtet der Möglichkeit schützender Verfahren. Gestützt hierauf gelangte der EGMR im Fall Pretty zur Schlussfolgerung, dass der betreffende Eingriff als "in einer demokratischen Gesellschaft not- wendig" für den Schutz Dritter sei und dementsprechend keine Ver- letzung von Art. 8 EMRK vorliege (Erw. 78). Insofern erweist sich die Auffassung des Beschwerdeführers, es sei in keiner Weise er- sichtlich, dass das Recht, seinem eigenen Leben ein selbstbestimmtes Ende zu bereiten, von den Vertragsstaaten unter Berufung auf Art. 8 Abs. 2 EMRK irgendwie eingeschränkt gar entzogen werden dürfe, da die für derartige Eingriffe erforderlichen Voraussetzungen, wie sie von Art. 8 Abs. 2 EMRK gefordert würden, vollständig fehl- ten, als nicht haltbar. Eine genügende gesetzliche Grundlage vor- ausgesetzt, ist ein solcher Eingriff auch nach Auffassung des EGMR aufgrund der Schwere des betroffenen öffentlichen Interesses durch- aus zulässig. In gleicher Weise lässt sich gestützt auf Art. 36 BV ein Eingriff in die durch Art. 10 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 1 BV geschützte individuelle Selbstbestimmung rechtfertigen, sofern dadurch das Grundrecht weder völlig unterdrückt noch seines Gehalts als fundamentale Institution der Rechtsordnung entleert wird (Ulrich Häfelin / Walter Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 6. Auf- lage, Zürich 2005, Rz. 370 ff. mit Hinweisen). c) aa) Der Selbstmordversuch ist nach kontinental-europäischer Auffassung straflos bzw. "unverboten" (siehe den Bericht der Ar- beitsgruppe "Sterbehilfe" an das Eidgenössische Justiz- und Polizei- departement vom März 1999 [im Folgenden: Bericht "Sterbehilfe"], S. 12). So statuiert auch Art. 115 StGB die Straflosigkeit des Dritten, der dem Suizidenten die Mittel zur Selbsttötung beschafft, sofern er aus uneigennützigen Motiven handelt. Aus der Straffreiheit der Suizidbeihilfe lässt sich freilich nicht schliessen, das Recht, seinem eigenen Leben ein selbstbestimmtes Ende zu bereiten, erlaube Ärzten die Abgabe von Natrium-Pentobarbital an Suizidwillige. Für diese Berufsgruppe gelten mit Art. 11 Abs. 1 BetmG und § 22 Abs. 1 GesG
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besondere gesetzliche Vorgaben. Dies sind generell-abstrakte Normen, welche den Anforderungen von Art. 8 Abs. 2 EMRK an eine Eingriffsnorm genügen. bb) Es gibt heute weder auf völker- noch auf landesrechtlicher Ebene eine Norm, welche einen Arzt berechtigt, ausserhalb seiner Berufspflichten und losgelöst von einer medizinischen Indikation zu Handen von Suizidwilligen bzw. von Sterbehilfeorganisationen Na- trium-Pentobarbital zu verschreiben. Klarerweise liegt damit ein sogenanntes qualifiziertes Schweigen, d.h. eine bewusst negative Antwort des Gesetzgebers, und keine Gesetzeslücke vor (siehe zu diesen Begriffen BGE 125 V 11 mit zahlreichen Hinweisen; ferner Ulrich Häfelin / Georg Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2002, Rz. 233 ff.; AGVE 1993, S. 376; VGE III/38 vom 18. Mai 2004 [BE.2004.00019], S. 20). Wer im Bereich der Beihilfe zum Suizid Recht schaffen will, hat die ausserordentlich schwierige Frage zu entscheiden, wie sie sich zu Art. 2 EMRK verhält, wo die staatliche Pflicht zum Schutz des Le- bens statuiert ist (siehe auch das erwähnte Urteil des EGMR, Erw. 34 ff.). Die Frage hat in erster Linie eine moralisch-ethische Dimension, beschlägt daneben aber auch die Frage der Sozialkosten (siehe die Arbeit von Peter Holenstein, "Der Preis der Verzweiflung" [Über die Kostenfolgen des Suizidgeschehens in der Schweiz], September 2003). Ist die Lösung eines Problems aber derart von Weltan- schauungen und auch von politischen Randbedingungen geprägt, ist der Richter schlicht überfordert. Es muss vielmehr dem Gesetzgeber anheim gestellt bleiben, aktiv zu werden und, falls ein entsprechen- des öffentliches Bedürfnis ausgemacht wird, eine adäquate Regelung zur Lockerung der Suizidbeihilfe zu treffen (siehe auch das erwähnte Urteil des EGMR, Erw. 74). d) Nach dem Gesagten bleibt zu prüfen, ob mit Art. 11 Abs. 1 BetmG und § 22 Abs. 1 GesG ein in Art. 8 Abs. 2 EMRK aufge- führter Zweck verfolgt wird und die in diesen Bestimmungen ent- haltenen Massnahmen einem dringenden gesellschaftlichen Bedürf- nis entsprechen. Beide Voraussetzungen sind erfüllt. Die an die aner- kannten Regeln der medizinischen Wissenschaften bzw. die Grund- sätze der Wissenschaft anknüpfende Reglementierung der Rezeptie-
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rung von Betäubungsmitteln dient offensichtlich der Wahrung der öf- fentlichen Gesundheit, indem ein missbräuchlicher Umgang mit Be- täubungsmitteln verhindert werden soll; solche Risiken bestehen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch im Bereich der Suizid- beihilfe (siehe dazu das erwähnte Urteil des EGMR, Erw. 74). Ange- sichts der Gefährlichkeit von Betäubungsmitteln, insbesondere auch von Natrium-Pentobarbital, welches je nach Dosis zum Tode führt, ist auch das dringende gesellschaftliche Bedürfnis nach solchen Be- stimmungen ausgewiesen. Folglich vermögen die hinter Art. 11 Abs. 1 BetmG und § 22 Abs. 1 GesG stehenden gesetzgeberischen Zielsetzungen Eingriffe in die gemäss Art. 8 Abs. 1 EMRK ge- schützten Garantien, d.h. auch in das Recht auf Achtung der Pri- vatsphäre zu rechtfertigen. Ein Eingriff in den unantastbaren Kern- gehalt des Rechts, seinem eigenen Leben ein selbstbestimmtes Ende zu bereiten, liegt dabei nicht vor; weder wird die Ausübung dieses Rechts verboten noch sonst in einer Weise eingeschränkt, dass von einer völligen Unterdrückung bzw. Entleerung seines Gehalts ge- sprochen werden muss. Insbesondere kann aus der Rechtsordnung kein Anspruch auf einen risiko- und schmerzlosen Suizid abgeleitet werden, wie dies der Beschwerdeführer suggerieren will. 4. a) aa) Soweit Art. 11 Abs. 1 BetmG und § 22 Abs. 1 GesG auf die "anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften" bzw. auf die "Grundsätze der Wissenschaft" und "der Berufsethik" verweisen, bedienen sie sich unbestimmter Rechtsbegriffe. Diese Rechtsfiguren umschreiben die Voraussetzungen der Rechtsfolge die Rechtsfolge selbst in offener, unbestimmter Weise (BGE 98 Ib 509; AGVE 2002, S. 402; Häfelin/Müller, a.a.O., Rz. 445). Die Abgrenzung zwischen unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessen ist dabei fliessend; bei beiden Begriffen liegen offene Formulierungen vor, welche den rechtsanwendenden Behörden einen Entscheidungsspielraum gewähren. Der Unterschied liegt darin, dass die unbestimmten Rechtsbegriffe der Auslegung zugänglich sind und diese eine Rechts- und keine Ermessensfrage darstellt (AGVE 2002, S. 402; Häfelin/Müller, a.a.O., Rz. 448). bb) Nach Auffassung des Gesundheitsdepartements müssen die erwähnten Begriffe dahingehend verstanden werden, dass der Arzt
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verpflichtet sei, seine Tätigkeit lege artis, d.h. dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaften entsprechend, und unter Berück- sichtigung der ärztlich allgemein anerkannten ethischen Grundsätze auszuüben; bei der Konkretisierung dieser Begriffe spielten die Richtlinien der SAMW eine bedeutende Rolle. Der Regierungsrat teilt diese Auffassung. aaa) Den SAMW-Richtlinien fehlt aus der Sicht des Bundes- rechts ein für Ärzte und Patienten verbindlicher Charakter, denn dieses Recht verweist an keiner Stelle darauf. Anders verhält es sich in denjenigen kantonalen Rechtsordnungen, welche die Anwendbar- keit der Richtlinien ausdrücklich vorsehen sie aufgrund einer Verweisung zum Bestandteil des kantonalen Rechts erklären (Bericht "Sterbehilfe", S. 15, mit Hinweis auf ein unveröffentlichtes Gutach- ten des Bundesamtes für Justiz vom 3. März 1998 samt Zusatzbericht vom 7. April 1998). So hat das Bundesgericht kantonale Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen, welche die Anwendbarkeit der SAMW-Richtlinien ausdrücklich vorsahen, für zulässig erklärt (BGE 98 Ia 512 ff., 123 I 122 ff.). Weil eine solche Verweisung im vorliegenden Fall fehlt, ist nach dem Gesagten von der grundsätzli- chen Unverbindlichkeit der Richtlinien auszugehen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht zur Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe bzw. als Auslegungshilfe herangezogen werden dür- fen, sofern sie tatsächlich den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaften widerspiegeln. bbb) Bezüglich der Beihilfe zum Suizid sind heute in allge- meiner Hinsicht die bereits erwähnten medizinisch-ethischen SAMW-Richtlinien "Betreuung von Patienten am Lebensende" (vorne Erw. 2/b) relevant. Unter der Ziffer 4.1 ("Beihilfe zum Sui- zid") führen sie Folgendes aus: "Gemäss Art. 115 des Strafgesetzbuches ist die Beihilfe zum Suizid
straflos, wenn sie ohne selbstsüchtige Beweggründe erfolgt. Dies gilt
für alle Personen.
Die Rolle des Arztes besteht bei Patienten am Lebensende darin,
Symptome zu lindern und den Patienten zu begleiten. Es ist nicht
seine Aufgabe, von sich aus Suizidbeihilfe anzubieten, sondern er ist
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im Gegenteil dazu verpflichtet, allfälligen Suizidwünschen zugrunde
liegende Leiden nach Möglichkeit zu lindern.
Trotzdem kann am Lebensende in einer für den Betroffenen uner-
träglichen Situation der Wunsch nach Suizidbeihilfe entstehen und
dauerhaft bestehen bleiben.
In dieser Grenzsituation kann für den Arzt ein schwer lösbarer Kon-
flikt entstehen. Auf der einen Seite ist die Beihilfe zum Suizid nicht
Teil der ärztlichen Tätigkeit, weil sie den Zielen der Medizin wider-
spricht. Auf der anderen Seite ist die Achtung des Patientenwillens
grundlegend für die Arzt-Patienten-Beziehung. Diese Dilemmasitua-
tion erfordert eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes.
Die Entscheidung, im Einzelfall Beihilfe zum Suizid zu leisten, ist
als solche zu respektieren. In jedem Fall hat der Arzt das Recht, Sui-
zidbeihilfe abzulehnen. Entschliesst er sich zu einer Beihilfe zum
Suizid, trägt er die Verantwortung für die Prüfung der folgenden
Voraussetzungen:
- Die Erkrankung des Patienten rechtfertigt die Annahme, dass das
Lebensende nahe ist.
- Alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und
soweit gewünscht auch eingesetzt.
- Der Patient ist urteilsfähig, sein Wunsch ist wohlerwogen, ohne
äusseren Druck entstanden und dauerhaft. Dies wurde von einer
unabhängigen Drittperson überprüft, wobei diese nicht zwingend
ein Arzt sein muss.
Der letzte Akt der zum Tode führenden Handlung muss in jedem Fall
durch den Patienten selbst durchgeführt werden."
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich hat im ähnlich ge- lagerten Fall eines Arztes, der im Rahmen von Freitodbegleitungen wiederholt eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital verordnet hatte und dessen Praxisbewilligung in der Folge auf präventivmedizini- sche Tätigkeiten beschränkt worden war, die Frage aufgeworfen, ob die SAMW-Richtlinien im Bereich der aktiven Sterbehilfe einen für die ärztliche Sorgfalt massgebenden Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergäben ob darin nicht vielmehr nur Leitli- nien aufgezeigt würden, welche den Ärzten in den Grenzbereichen der Medizin und in bisher unbekannten Situationen eher ethisch mo-
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tivierte Empfehlungen abgäben; für letzteres spreche, dass die Bei- hilfe zum Suizid auf einem persönlichen Gewissensentscheid des verantwortlichen Arztes beruhe und aus religiösen und weltan- schaulichen Beweggründen abgelehnt werden könne, und dass aus der generellen Akzeptanz ärztlicher Suizidhilfe auch Missbräuche resultieren könnten (ZBl 101/2000, S. 491). Die angeführten SAMW-Richtlinien "Betreuung von Patienten am Lebensende" tragen indessen dieser Situation vollumfänglich Rechnung. Dem Arzt wird darin ausdrücklich zugebilligt, den mit dem Suizidwunsch eines Patienten regelmässig verbundenen Gewissenskonflikt in voller Freiheit für sich zu lösen. Für diejenigen Fälle, in welchen der Arzt Beihilfe zum Suizid leisten will, bilden die SAMW-Richtlinien eine durchaus taugliche Auslegungshilfe; sie bringen zum Ausdruck, was in der Grenzsituation der ärztlichen Sterbehilfe unter den "aner- kannten Regeln der medizinischen Wissenschaften" bzw. den "Grundsätzen der Wissenschaft" und "der Berufsethik" konkret zu verstehen ist. Die Medikation eines tödlich wirkenden Betäubungs- mittels setzt demnach eine nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommene Untersuchung und eine entsprechende Diagnose voraus. Es bedarf in jedem Falle einer medizinischen Indikation. So wenig für den Arzt der Wunsch eines Patienten nach einem be- stimmten Medikament im Normalfall den Ausschlag für dessen Re- zeptierung geben darf, so wenig kann bei der Sterbehilfe der (mängelfreie) Selbsttötungswunsch des Patienten allein für die Ver- abreichung des fraglichen Mittels genügen. Aufgrund der besondern Stellung des Arztes, namentlich seiner Verantwortung gegenüber dem Leben und der öffentlichen Gesundheit im Allgemeinen sowie dem gesundheitlichen Wohlergehen des Einzelnen im Besonderen, gehört es zu seiner Aufgabe, rezeptpflichtige Medikamente Betäubungsmittel nur soweit einzusetzen, als dies aus medizinischer Sicht erforderlich ist. Dies bedeutet, dass sich der behandelnde Arzt nicht nur über die Urteilsfähigkeit eines Sterbewilligen, sondern auch darüber Gewissheit zu verschaffen hat, dass im Sinne der SAMW- Richtlinien ein Leiden vorliegt, das unabwendbar zum Tod führt. Da es bei der Sterbehilfe um eine Massnahme mit tödlicher und damit irreversibler Folge für den Patienten geht, sind hinsichtlich Untersu-
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chung und Diagnose höchste Anforderungen an die ärztliche Sorgfalt zu stellen (ZBl 101/2000, S. 493 f.). b) Das Verwaltungsgericht ist aufgrund der Akten und der Par- teibefragung anlässlich der Verhandlung vom 28. Januar 2005 zur Überzeugung gelangt, dass der Beschwerdeführer bei seiner Tätig- keit, sterbewilligen Personen eine letale Dosis des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital zu verordnen, in zum Teil krasser und schwer- wiegender Weise gegen Art. 11 Abs. 1 BetmG und § 22 Abs. 1 GesG verstossen hat. Im Folgenden ist auf die einzelnen Fälle einzugehen: aa) Freitod von K. (geb. 1945) am 19. August 2001. Im Auftrag von DIGNITAS empfing der Beschwerdeführer K., die sich in Begleitung ihres Ehemanns und einer Freitodbegleiterin befand, am 12. Juni 2001 zu einem etwa 1½-stündigen Gespräch in seinen Praxisräumen in O. Ein paar Tage zuvor hatte er die einschlä- gigen Krankengeschichten und Arztberichte erhalten. Eine ärztliche Untersuchung fand nicht statt. Im Anschluss an das Gespräch ver- ordnete der Beschwerdeführer 15 g Natrium-Pentobarbital; das Rezept sandte er an DIGNITAS. Mit Hilfe des rezeptierten Mittels verübte K. am 19. August 2001 in Z. Suizid. In seinem Bericht vom 12. Juni 2001 hielt der Beschwerdefüh- rer über K. selber Folgendes fest: "Sie leidet an einem auch durch alle medizinisch und psychiatrischen
Abklärungen nie wirklich erklärten Schmerzsyndrom, ausgehend
vom Schulterbereich, beginnend nach schwierig erlebtem Kli-
makterium und Berufsstress, 1995. Sie ist wiederholt in Spezialkli-
niken untersucht und erfolglos behandelt worden, medizinisch, neu-
rologisch und psychiatrisch-psychotherapeutisch. 1999 begannen vor
allem psychiatrisch geführte Behandlungen, samt Versuch eigentli-
cher Psychotherapie. Später kamen dann noch Gallenkoliken dazu
und eine Überfunktion der Schilddrüse. Gegen Osteoporose nimmt
sie ein spezifisches (?) Mittel, gegen die 'Depression' ein Antide-
pressivum. Auch Morphin brachte keine Linderung."
In der Krankengeschichte, dokumentiert durch rund 25 Arzt- und Klinikberichte, welche dem Beschwerdeführer vorgelegen haben müssen (er erinnert sich allerdings nur an deren zwei), werden zusammenfassend sehr starke chronische Schmerzen im Bereich der
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Halswirbelsäule und eine ausgeprägte Osteopenie (Knochen- schwund) sowie eine psychische Überlagerung bzw. wahnhafte De- pression diagnostiziert. Der Beschwerdeführer verwarf diese Schlussfolgerungen und stellte selber die folgende "Differentialdia- gnose": "Schwerste frühkindlich angelegte Konversionsneurose ein
rätselhafter Gehirnprozess, der die Persönlichkeit völlig verändert (es
sollen sich Anomalien beim bildgebenden Verfahren des Gehirns
gezeigt haben, die aber nicht näher spezifiziert werden)."
Es ist nun aber schlechterdings undenkbar, dass ein Arzt einzig aufgrund eines 1½-stündigen Gesprächs, ohne jede Untersuchung, eine seriöse Differentialdiagnose stellen kann. Im Bericht vom 12. Juni 2001 finden sich hierüber denn auch keine weiteren Aus- führungen. Nicht nachvollziehbar ist sodann, wie der Beschwerde- führer zu seiner Diagnose einer "frühkindlich angelegten Konver- sionsneurose" gelangt ist. An der Verhandlung vom 28. Januar 2005 relativierte er die fragliche Aussage denn auch stark; sie sei allgemein gemeint gewesen, und aus der ganzen Situation heraus habe er annehmen müssen, dass K. als Kind traumatisiert worden sei. Bezeichnend ist ferner, dass der Beschwerdeführer den - undatierten, aber offenbar aus dem Jahr 2001 stammenden - Bericht einer diplo- mierten Psychologin, welche die Weiterführung der begonnenen Ver- haltenstherapie (bisher 45 Stunden) als erfolgversprechend bewertete und dringend empfahl, weil der Teufelskreis, in welchem die Pa- tientin stecke, nur so unterbrochen werden könne, kurzerhand als nicht ernst zu nehmend abqualifizierte. Erstaunlich ist dies namentlich darum, weil der Beschwerdeführer Allgemeinmediziner ist und über keine Spezialausbildung auf den Gebieten der Psychiatrie und Psychotherapie verfügt. Das Verwaltungsgericht hat den Eindruck gewonnen, dass sich der Beschwerdeführer zu stark von den massiven Vorwürfen leiten liess, welche K. gegenüber den vorbehandelnden Ärzten erhob. Wenn der Beschwerdeführer die ihm vorliegenden Anamnesen und Diagnosen nicht akzeptieren wollte, musste er dies anhand gründlicher, dem ärztlichen Standard entsprechender Untersuchungen und Befunde belegen. Davon kann aber keine Rede sein.
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bb) Freitod von S. (geb. 1954) am 11. Dezember 2001. Für diese Patientin, an die er sich an der Verhandlung nicht mehr zu erinnern vermochte, stellte der Beschwerdeführer im Auf- trag von DIGNITAS ebenfalls ein Rezept für 15 g Natrium-Pento- barbital aus. Das Gespräch, bei welchem der Freitodwunsch erörtert wurde, fand am 6. November 2001 in O. statt, und der Freitod wurde am 11. Dezember 2001 in Z. vollzogen. S. war wegen einer Border- line-Persönlichkeitsstörung mit teilweise paranoiden Zügen und de- pressiven Anteilen in intensiver psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung; in somatischer Hinsicht wurde kein Befund von Krank- heitswert festgestellt. Auch der Beschwerdeführer diagnostizierte bei ihr eine schwere Depression. Anders aber als der behandelnde Facharzt, der eine kontinuierliche ambulante psychotherapeutische und psychiatrische Weiterbetreuung "dringend" empfahl und eine berufliche Wiedereingliederung als möglich erachtete, bezeichnete der Beschwerdeführer in seinem Bericht vom 7. November 2001 den Zustand von S. als "offensichtlich hoffnungslos"; sie komme aus ihrer schweren Depression trotz vielen psychiatrischen Behand- lungen und Hospitalisierungen nicht mehr heraus. Auch diesen Befund stützte der Beschwerdeführer auf das eine Gespräch mit S. vom 6. November 2001. Dies ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Anzahl der für die Meinungsbildung erforderlichen Konsultatio- nen klarerweise unzureichend. Vor allem hätte der Beschwerdeführer, wenn er als Nicht-Facharzt von einer fachärztlichen Beurteilung ab- weichen wollte, durch Einholung einer spezialärztlichen Zweitmei- nung ergründen müssen, ob es sich bei S. tatsächlich so verhielt, dass ihr "die heutige Medizin nicht mehr helfen kann". Zu beanstanden ist schliesslich auch, dass der Bericht des Beschwerdeführers vom 7. November 2001 überhaupt keine Aussagen zur Urteilsfähigkeit von S. enthält. Allein dies ist eine gravierende Unterlassung. cc) Freitod der Geschwister S.M. (geb. 1973) und P.M. (geb. 1971) am 11. Februar 2002. Die Geschwister M., beide französische Staatsangehörige, ka- men am 8. September 2001 als Mitglieder von DIGNITAS nach O. zu einem "ausgedehnten Gespräch" mit dem Beschwerdeführer; nach dessen Erinnerung dauerte die Konsultation "mehr als eine Stunde".
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Der Beschwerdeführer verordnete ihnen im Anschluss daran je 15 g Natrium-Pentobarbital. Der Freitod wurde dann rund fünf Monate später in Z. vollzogen. Eine eigentliche Krankengeschichte stand dem Beschwerde- führer nicht zur Verfügung. Bei den Akten befinden sich zwar ver- schiedene Berichte französischer Ärzte, doch enthalten diese weder eine Anamnese noch eine Diagnose, sondern äussern sich aus- schliesslich im Zusammenhang mit der auf 80% festgesetzten Invali- dität der Geschwister M.. Die Diagnose einer Schizophrenie im Be- richt vom 9. September 2001 stellte der Beschwerdeführer aufgrund des erwähnten Gesprächs sowie eines Rezepts, welches ein Psychia- ter zuhanden seines Patienten P.M. am 4. Mai 2000 ausgestellt hatte; der Beschwerdeführer führte dazu aus, wenn ein Psychiater die Me- dikamente "Floral" und "Fluanxol" rezeptiere, müsse man annehmen, es handle sich um eine schizophrene Psychose. Es bedarf keiner langen Erörterungen, dass solche Grundlagen viel zu dürftig sind, als dass sie für eine Diagnose- und Prognosestellung herangezogen werden könnten. Der Beschwerdeführer musste an der Verhandlung selber einräumen, dass seine Abklärungen ungenügend waren, doch äusserte er gleichzeitig die Meinung, er habe diesen Mangel durch seine Erfahrung als Arzt wettmachen können. Damit überschätzt sich der Beschwerdeführer offensichtlich. Um die Tragweite psychischer Erkrankungen richtig beurteilen zu können, bedarf es einer entspre- chenden fachärztlichen Ausbildung, über welche der Beschwerdefüh- rer wie erwähnt nicht verfügt (vorne Erw. aa). Es widersprach deshalb auch der ärztlichen Sorgfaltspflicht, allein aus den Angaben der Geschwister M. den Schluss zu ziehen, die Behandlungsmöglich- keiten seien ausgeschöpft; ein psychiatrisches Gutachten zumindest eine ausführliche psychiatrische Beurteilung, die sich auch über die Urteilsfähigkeit aussprechen, wären unabdingbar gewesen. dd) Freitod von F. (geb. 1941) zwischen dem 15. und 17. April 2003. Nach den Darlegungen des Beschwerdeführers war F. "schwer psychotisch und körperlich krank"; die sehr starken Schmerzen, wel- che sie am ganzen Körper verspürt habe, seien paranoiden Ursprungs
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gewesen. Die Beziehung zu ihm sei über EXIT zustandegekommen, denn diese Organisation habe ihrem Mitglied keine Sterbehilfe gewähren wollen. Er habe F. dann in Z. besucht und lange, d.h. etwa eine Stunde, mit ihr gesprochen. Er habe sie auch untersucht und dabei ein "Angstbauchweh" festgestellt. Insgesamt habe er sie zwei- bis dreimal gesehen. Weil die (damals noch im gleichen Haus wohnende) Schwägerin von F. ihm gegenüber eine ablehnende Haltung eingenommen habe, habe er selber keine Freitodbegleitung vornehmen können. Er habe F. das Natrium-Pentobarbital - zusammen mit einem Anti-Brechmittel - deshalb in einem Restau- rant in Z. übergeben, ihr gleichzeitig aber auch einen Beschrieb aus- gehändigt und sich vergewissert, ob sie das alles verstanden habe. Wie üblich habe er einen ärztlichen Bericht verfasst und an EXIT geschickt. Von den weiteren Geschehnissen, insbesondere vom Sui- zid - F. wurde am Abend des 19. April 2003 tot in ihrer Wohnung aufgefunden -, habe er keine Kenntnis erhalten. Wie sich aus den Akten ergibt, war F. bei Dr. med. V., in psychiatrischer Behandlung; dessen Diagnose lautete im Wesentli- chen auf chronische Schizophrenie, Status nach Brustkrebsoperation, leichte unbehandelte Zuckerkrankheit und Tinnitus. Laut dem Be- schwerdeführer habe ihm F. davon erzählt, ihm aber gleichzeitig "strengstens verboten, mit dem Psychiater darüber zu sprechen". Wenn der Beschwerdeführer diesen Patientenwillen respektieren wollte, so hätte er sich zumindest durch Einholung einer fundierten psychiatrischen Fachmeinung über Diagnose und Prognose sowie Urteilsfähigkeit der Patientin Gewissheit verschaffen müssen. Ge- rade die Urteilsfähigkeit war zwar nach dem Zeugnis von Dr. V. bei der letzten Konsultation etwa zehn Tage vor dem Tod "klar gegeben", doch sei F. vorher "durch ihre schizophrenen kognitiven Störungen enorm verlangsamt im Denken" gewesen. Die Angabe des Beschwerdeführers, F. sei im Zeitpunkt, als er ihr das Natrium-Pen- tobarbital ausgehändigt habe, urteilsfähig gewesen, wird dadurch doch etwas relativiert. Ein Widerspruch besteht auch zwischen der Äusserung von Dr. V., bei F. sei ungefähr drei Wochen vor ihrem Tod eine deutliche Besserung der psychiatrischen Erkrankung eingetre- ten, vermutlich weil sie sich durch ihn nach früheren Widerständen
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habe überzeugen lassen, ein Antidepressivum einzunehmen, und der auf seine langjährige Erfahrung als Allgemeinpraktiker gestützte Befund des Beschwerdeführers, ihr Zustand sei "unheilbar" gewesen. Schliesslich war die Abgabe des Natrium-Pentobarbital an F. nicht nur "am Rande der Legalität", wie es der Beschwerdeführer selber bezeichnet, sondern eindeutig gesetzwidrig, weil offensichtlich kein Notfall im Sinne von § 32 Abs. 1 GesG vorlag. ee) Freitod von P. (geb. 1930) am 6./7. Juni 2004. P. suizidierte sich in der Nacht vom 6. auf den 7. Juni 2004 in seinem Zimmer im Alters- und Pflegeheim C. mittels einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital. Anlässlich der Verhandlung gab der Beschwerdeführer an, wie F. sei P. Mitglied von EXIT gewesen, habe von dieser aber keine Freitodbegleitung erhalten. Sein Kontakt zu ihm sei über eine Freitodbegleiterin entstanden, die er gut kenne. Zusammen mit dieser Frau hätten er und P. sich in einem Hotel in V. getroffen, wo ein etwa eineinhalbstündiges Gespräch stattgefunden habe. Sein persönlicher Eindruck sei danach der eines sehr verein- samten und verzweifelten, depressiven Menschen gewesen; dabei habe es sich um eine sekundäre Depression gehandelt, welche die Folge der vielen Krankheiten und der Vereinsamung von P. gewesen sei. Auf Wunsch der Freitodbegleiterin habe er P. im Anschluss an das erwähnte Gespräch das Natrium-Pentobarbital in die Hand ge- geben, wiederum - wie bei F. - mit genauer Instruktion, wie es zu verwenden sei. Abgesprochen sei dabei gewesen, dass P. den Suizid in einigen Tagen in Anwesenheit der Freitodbegleiterin vornehmen werde. An dieses Versprechen habe sich P. dann aber nicht gehalten. Rückblickend müsse er sagen, dass er mit der Abgabe des Betäu- bungsmittels an P. einen Fehler gemacht habe. In einem undatierten Bericht der chirurgischen Klinik des kan- tonalen Spitals S., über den der Beschwerdeführer offenbar verfügte, wird auf eine vom 29. April bis zum 1. Mai 2002 dauernde Hospita- lisierung von P. Bezug genommen. Die Diagnose der Klinik lautet auf eine nicht akute Krebserkrankung (Harnblasen- und Prostatakar- zinom) und Zuckerkrankheit. Erwähnt werden ferner drei Herzin- farkte (1963, 1968 und 1988) sowie ein "Suizidversuch im Rahmen einer depressiven Erkrankung". Der allgemeininternistische Zustand
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des Patienten wird als "unauffällig" bezeichnet. Während des Kli- nikaufenthalts wurde bei P. Prostatastanzbiopsie vorgenommen. Da- nach konnte er "in einem guten Allgemeinzustand" entlassen werden. Damit steht fest, dass P. nicht an einer Krankheit litt, derrentwegen er mit dem baldigen Tod zu rechnen hatte. Was den psychischen Bereich anbelangt, gibt es nur sehr vage und in keiner Weise medizi- nisch abgestützte Angaben über eine Depression. Bezeichnend ist, wie sich der Beschwerdeführer diesbezüglich an der Verhandlung ausgedrückt hat: "Und er muss auch eine Depression gehabt haben. (Auf die Frage, ob
P. auch seelisch krank gewesen sei) Seelisch krank in dem Sinn, er
hatte sicher eine Depression."
Dieser Befund stützt sich auf das eine und einzige Gespräch in V. ab und ist auch nicht im Entferntesten durch eine ärztliche Fachmeinung untermauert. Dass der Beschwerdeführer trotzdem die 15 g Natrium-Pentobarbital verordnete und dazu noch an P. direkt abgab, war gemessen an den gesetzlichen Vorgaben grob sorgfalts- widrig. ff) Freitodfälle im Sterbehospiz in R. (Mai bis Dezember 2004). Im Gegensatz zu den vorstehend beschriebenen Fällen handelte sich bei den sterbewilligen Personen, die der Beschwerdeführer im Auftrag von DIGNITAS im Sterbehospiz in R. untersuchte, um somatisch schwerstkranke Personen. Insofern erweisen sich diese Freitodfälle als weniger problematisch. Gleichwohl zeichnen sich auch diese Fälle dadurch aus, dass der Beschwerdeführer die erfor- derliche Sorgfalt in verschiedener Hinsicht vermissen liess. Seine gegenüber der Beihilfe zum Suizid unkritische Haltung manifestierte er nicht nur anlässlich der Verhandlung, sondern auch in der Art und Weise, wie er die Untersuchungen im Sterbehospiz R. vornahm. Seine selten länger als eine Stunde dauernden Konsultationen er- folgten meistens erst unmittelbar vor dem Freitod, so dass den Patienten keine Bedenkzeit blieb. Das Natrium-Pentobarbital lag häufig auch schon bereit, obwohl der Beschwerdeführer das Rezept noch gar nicht ausgestellt hatte. Zudem untersuchte der Beschwerde- führer selbst englischsprachige Patienten, obwohl seine Eng- lischkenntnisse nach eigenen Angaben nicht sehr gut sind. Bedenk-
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lich ist schliesslich auch Folgendes: Anlässlich der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer mit den Namen der von ihm unter- suchten Personen konfrontiert und um eine Stellungnahme gebeten. Er konnte sich indessen, obwohl die angesprochenen Fälle bloss wenige Monate zurücklagen, verschiedentlich nicht mehr an die Personen deren Leiden erinnern; sein Erinnerungsvermögen versagte selbst nach Beschreibung des Krankheitsbildes wiederholt. Ein derart beeinträchtigtes Erinnerungsvermögen ist zwar angesichts des fortgeschrittenen Alters des Beschwerdeführers verständlich. Es lässt aber Zweifel daran aufkommen, ob der Beschwerdeführer über- haupt noch in der Lage ist, die ärztliche Tätigkeit in jeder Hinsicht korrekt auszuüben. c) Die aufgeführten Fälle zeigen wie bereits erwähnt, dass der Beschwerdeführer die ärztliche Sorgfaltspflicht, wie sie in Art. 11 Abs. 1 BetmG und § 22 Abs. 1 GesG sowie in den einschlägigen me- dizinisch-ethischen SAMW-Richtlinien festgelegt und definiert ist, in gravierendem Ausmass und wiederholt verletzt hat. Der Beschwer- deführer masst sich an, nach seinem Gutdünken eigene Massstäbe zu setzen und danach zu verfahren. Das Gesetz verlangt indessen, dass der Arzt nach wissenschaftlichen Grundsätzen vorgeht und es nicht dabei bewenden lässt, sich bei einem Gespräch, das in aller Regel nicht mehr als eine "Momentaufnahme" sein kann, des Sterbewillens des betreffenden Patienten zu versichern. Langjährige Erfahrung als Arzt ist für Befund und Diagnose sicher ein wesentliches Element, doch hat die Medizin erprobte wissenschaftliche Methoden entwickelt, die nach wie vor in den Vordergrund zu stellen sind. 5. Liegen schwerwiegende wiederholte Verletzungen der Berufspflichten gesundheitsrechtlicher Vorschriften vor, kann dem Arzt die Bewilligung zur selbständigen Berufsausübung entzo- gen werden (§ 21 Abs. 2 GesG). Zudem können die Kantone die Befugnisse nach Art. 9 BetmG für bestimmte Zeit dauernd ent- ziehen, wenn die ermächtigte Medizinalperson betäubungsmittelab- hängig ist eine Widerhandlung nach den Art. 19 - 22 BetmG be- gangen hat (Art. 12 Abs. 1 BetmG). Ein solcher Fall liegt u.a. vor, wenn der Arzt Betäubungsmittel anders als nach Art. 11 BetmG ver- wendet abgibt (Art. 20 Ziff. 1 al. 3 BetmG).
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Das öffentliche gesundheitspolizeiliche Interesse, die Einhal- tung der Randbedingungen im Bereich der ärztlichen Sterbehilfe für die Zukunft sicherzustellen und den unsachgemässen Umgang mit Betäubungsmitteln zu verhindern, ist ausserordentlich gross. Das (unbefristete) Verbot, von der Betäubungsmittelgesetzgebung er- fasste Stoffe als verwendungsfertige Arzneimittel über Magi- stralrezepturen zu verordnen, anzuwenden abzugeben, ist kla- rerweise geeignet, weitere gleichartige Verfehlungen gegen die Be- stimmungen des BetmG und GesG wirksam zu verhindern. Es er- scheint angesichts der Schwere der Sorgfaltspflichtverletzungen, ins- besondere aber auch mit Blick auf den nach wie vor sorglosen Um- gang des Beschwerdeführers mit dem Betäubungsmittel Natrium- Pentobarbital erforderlich; so fällt aus diesem Grunde insbesondere auch ein bloss befristeter Entzug ein solcher, der nur Personen mit psychischen Störungen betrifft, ausser Betracht. Wenn der Beschwerdeführer gegen die erwähnte Massnahme vorbringt, er sei dann beispielsweise nicht mehr in der Lage, einem Patienten, der an schweren, nur mit Morphinen zu behebenden wenigstens zu lindernden Schmerzzuständen leide, solche Mittel zu verschreiben, so ist ihm entgegenzuhalten, dass angesichts seines hohen Alters das Interesse an der uneingeschränkten Ausübung seines Arztberufs im Gegensatz zu den beschriebenen öffentlichen Interessen nicht schwer wiegt, zumal seine Tätigkeit heute auf einige wenige Patienten beschränkt ist. Die Verhältnismässigkeit der gestützt auf § 21 Abs. 2 GesG angeordnete Massnahme ist deshalb ebenfalls zu bejahen. 6. Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich nicht nur die Hauptanträge, sondern auch die Eventualanträge als unbegründet erweisen, weshalb die Beschwerde abzuweisen ist.
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