Zusammenfassung des Urteils UH160268: Obergericht des Kantons Zürich
Der Beschwerdeführer wurde vom Bezirksgericht Zürich wegen heimlicher Filmaufnahmen von Kindern verurteilt. Das Bildungsdepartement des Kantons St. Gallen beantragte Akteneinsicht in die Gerichtsakten. Das Bezirksgericht gewährte das Akteneinsichtsgesuch, obwohl es zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr zuständig war. Die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen diese Entscheidung wurde aufgrund der Nichtigkeit der Verfügung nicht angenommen. Es wurde beschlossen, dass keine Kosten erhoben werden und dem Beschwerdeführer eine Entschädigung von Fr. 324.- zugesprochen wird.
Kanton: | ZH |
Fallnummer: | UH160268 |
Instanz: | Obergericht des Kantons Zürich |
Abteilung: | III. Strafkammer |
Datum: | 11.11.2016 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Akteneinsicht |
Schlagwörter : | Verfügung; Akten; Bezirksgericht; Gericht; Verfahren; Obergericht; Akteneinsicht; Verfahrens; Kammer; Kanton; Nichtigkeit; Beschwerde; Kantons; Urteil; Berufung; Verfahrensleitung; Abteilung; Obergerichts; Staatsanwaltschaft; Zürich-Limmat; Akteneinsichtsgesuch; Bundesgerichts; Empfang; Meyer; Klasse; Stellung; Bezirksgerichts; Hinweis; Berufungsgericht |
Rechtsnorm: | Art. 102 StPO ;Art. 379 StPO ;Art. 390 StPO ;Art. 399 StPO ;Art. 428 StPO ;Art. 436 StPO ; |
Referenz BGE: | 132 II 342; |
Kommentar: | - |
Obergericht des Kantons Zürich
III. Strafkammer
Geschäfts-Nr.: UH160268-O/U/HEI
Mitwirkend: die Oberrichter lic. iur. Th. Meyer, Präsident, und lic. iur. W. Meyer, Ersatzoberrichter Dr. iur. T. Graf und Gerichtsschreiberin
Dr. iur. A. Murer Mikolásek
Beschluss vom 11. November 2016
in Sachen
Beschwerdeführer
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. X.
gegen
Beschwerdegegnerinnen betreffend Akteneinsicht
Erwägungen:
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat warf dem Beschwerdeführer mit Anklage vom 18. September 2015 zusammengefasst vor, heimlich insgesamt 27 Kinder gefilmt zu haben, und zwar 5 Nachbarskinder in deren Wohnung, unter anderem bei der Körperhygiene im Badezimmer, seine Nichte und seinen Neffen in der Gästetoilette und dem Gästezimmer beim Toilettengang, beim Ausund Umziehen und beim Schlafen, vier Schülerinnen der Kantonsschule B.
(Klasse
C. ) in der Jugendherberge D. in E. beim Toilettengang, unter der Dusche und bei der Körperpflege sowie 16 Primarschülerinnen der Schule F. (1. Klasse) und der Schule ... (2. Klasse) im Hallenbad H. (I. [Ortschaft]) beim Umziehen für den Schwimmunterricht (Urk. 21/24).
Mit Urteil vom 2. Juni 2016 (im Dispositiv) verurteilte das Bezirksgericht Zürich,
10. Abteilung, den Beschwerdeführer wegen mehrfacher Verletzung des Geheimund Privatbereichs durch Aufnahmegeräte (Art. 179quater Abs. 1 StGB) und mehrfachen Inverkehrbringens und Anpreisens von Abhör-, Ton-, und Bildaufnahmegeräten (Art. 179sexies Ziff. 1 StGB) zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von
30 Monaten (Urk. 21/53). Gleichentags meldete der Beschwerdeführer Berufung gegen das Urteil an (Urk. 21/54).
Am 13. Juni 2016 ersuchte das Bildungsdepartement des Kantons St. Gallen (Beschwerdegegnerin 1) beim Bezirksgericht um Akteneinsicht in die Gerichtsakten, soweit Bilder von Schülerinnen und Schülern der Kaufmännischen Berufsschule J.
sowie damit im Zusammenhang stehende Akten vorliegen
(Urk. 21/58). Dieses Akteneinsichtsgesuch stellte das Bezirksgericht dem Beschwerdeführer mit Verfügung vom 6. Juli 2016 zur Stellungnahme zu (Urk. 21/64). Am 18. Juli 2016 nahm der Beschwerdeführer zum Akteneinsichtsgesuch Stellung (Urk. 21/67).
Am 4. August 2016 erklärte der Beschwerdeführer beim Obergericht des Kantons Zürich die Berufung (Urk. 21/72). Am 17. August 2016 gingen die Akten des Bezirksgerichts bei der II. Strafkammer des Obergerichts ein (Urk. 21/71).
Mit Verfügung vom 19. August 2016, dem Beschwerdeführer zugestellt am
23. August 2016, hiess das Bezirksgericht das Akteneinsichtsgesuch der Beschwerdegegnerin 1 gut, mit dem Hinweis, dass sich die Beschwerdegegnerin 1 für die Einsichtnahme an die Verfahrensleitung beim Obergericht zu wenden habe (Urk. 3/2).
Dagegen liess der Beschwerdeführer am 2. September 2016 innert Frist Beschwerde erheben (Urk. 2). Er beantragt die Aufhebung der angefochtenen Verfügung. Die Beschwerdegegnerin 1 nahm am 21. September 2016 Stellung. Sie beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen (Urk. 10). Am 16. September 2016 liess sich die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat (Beschwerdegegnerin 2) vernehmen. Sie beantragt sinngemäss die Abweisung der Beschwerde, ohne jedoch explizite Anträge zu stellen (Urk. 13). Die Vorinstanz verzichtete am 23. September 2016 auf Vernehmlassung (Urk. 14). Mit Replik vom 3. Oktober 2016 hält der Beschwerdeführer an seinen Anträgen fest (Urk. 19). Die Gerichtsakten (Urk. 21) wurden von der II. Strafkammer des Obergerichts beigezogen (Urk. 5).
Da sich das Verfahren als spruchreif erweist, wurde auf die Einholung weiterer Vernehmlassungen verzichtet (Art. 390 Abs. 3 StPO).
Zufolge Ferienabwesenheit einer Richterin ergeht dieser Beschluss teilweise nicht in der den Parteien angekündigten Besetzung.
Gegen Verfügungen, Beschlüsse und Verfahrenshandlungen der erstinstanzlichen Gerichte kann bei der Beschwerdekammer des Obergerichts Beschwerde erhoben werden (Art. 393 Abs. 1 lit. b StPO i.V.m. § 49 GOG/ZH). Nichtige Verfügungen können indes nicht Anfechtungsobjekt einer Beschwerde sein, zumal ihnen jede Verbindlichkeit und Rechtswirksamkeit abgeht. Nach der Rechtsprechung ist eine Verfügung nichtig, wenn der ihr anhaftende Mangel besonders schwer und offensichtlich zumindest leicht erkennbar ist und die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Als Nichtigkeitsgrund kommt namentlich die Unzuständigkeit der verfügenden Behör- de in Betracht. Die Nichtigkeit ist jederzeit und von sämtlichen staatlichen Instanzen von Amtes wegen zu beachten; sie kann auch im Rechtsmittelweg festgestellt werden (BGE 132 II 342 E. 2.1 mit Hinweisen).
Über die Akteneinsicht entscheidet die Verfahrensleitung (Art. 102 Abs. 1 StPO). Die Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil ist beim erstinstanzlichen Gericht innert 10 Tagen seit Eröffnung des Urteils schriftlich mündlich zu Protokoll anzumelden (Art. 399 Abs. 1 StPO). Das erstinstanzliche Gericht übermittelt die Anmeldung nach Ausfertigung des begründeten Urteils zusammen mit den Akten dem Berufungsgericht (Abs. 2). Damit wird der Fall beim Berufungsgericht rechtshängig und die Verfahrensleitung geht vom erstinstanzlich urteilenden Gericht an das Berufungsgericht über, dessen Verfahrensleitung fortan nach Art. 61 lit. c StPO für alle verfahrensmässigen Vorkehrungen zuständig ist (vgl. Art. 328 i.V.m. Art. 379 StPO; Urteil des Bundesgerichts 6B_469/2015 vom 17. August 2015,
E. 3; Eugster, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung, 2. A., Basel 2014, Art. 399 N 1d).
Vorliegend gingen die Akten des Bezirksgerichts am 17. August 2016 bei der
Strafkammer des Obergerichts ein (Urk. 21/71). Das Bezirksgericht durfte ab diesem Zeitpunkt keine Verfahrenshandlungen mehr vornehmen und war somit zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verfügung, am 19. August 2016, nicht (mehr) zuständig, um über das Akteneinsichtsgesuch der Beschwerdegegnerin 1 zu entscheiden. War das Bezirksgericht zum Erlass der angefochtenen Verfügung unzuständig, ist diese im Licht der angeführten Rechtsprechung nichtig. Die Annahme der Nichtigkeit gefährdet die Rechtssicherheit nicht. Die angefochtene Verfügung entfaltet danach keinerlei Rechtswirkung. Sie kann somit auch nicht Anfechtungsobjekt einer Beschwerde sein. Auf die Beschwerde ist daher nicht einzutreten. Die Nichtigkeit der angefochtenen Verfügung ist im Dispositiv festzustellen (BGE 132 II 342 E. 2.3, mit Hinweisen).
Zwar dringt der Beschwerdeführer mit seinem Rechtsbegehren nicht durch. Unter den gegebenen Umständen rechtfertigt es sich jedoch, von der Erhebung von Kosten abzusehen (vgl. Art. 428 Abs. 4 StPO analog) und dem Beschwerdeführer eine Entschädigung für seine Aufwendungen im Beschwerdeverfahren zuzusprechen (vgl. Art. 436 Abs. 3 StPO analog).
Gemäss § 19 Abs. 1 AnwGebV beträgt die Gebühr im Beschwerdeverfahren Fr. 300.bis Fr. 12'000.-. Zur Bemessung der Gebühr ist die Bedeutung und Schwierigkeit des Falls, die Verantwortung des Anwalts sowie dessen notwendiger Zeitaufwand zu berücksichtigen (§ 2 Abs. 1 AnwGebV). Der vorliegende Fall war für den Beschwerdeführer nicht unbedeutend, zumal mit der in der angefochtenen Verfügung gewährten Akteneinsicht der Beschwerdegegnerin 1 die Wiederaufnahme eines Verfahrens zu seinem Nachteil verbunden sein könnte (vgl. Urk. 21/58). Allerdings hätte der Anwalt lediglich die Feststellung der Nichtigkeit der angefochtenen Verfügung zu beantragen gehabt. Die von ihm gemachten materiellen Ausführungen waren im vorliegenden Verfahren nicht von Belang. Unter Würdigung dieser Umstände ist die Entschädigung auf Fr. 300.festzusetzen, zuzüglich 8% Mehrwertsteuer.
Es wird beschlossen:
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
Es wird die Nichtigkeit der Verfügung vom 19. August 2016 des Bezirksgerichts Zürich, 10. Abteilung, Geschäfts-Nr. DG150268-L, festgestellt.
Es werden keine Kosten erhoben.
Dem Beschwerdeführer wird eine Parteientschädigung von Fr. 324.- (inkl.
8% MWSt.) aus der Gerichtskasse zugesprochen.
Schriftliche Mitteilung an:
Rechtsanwalt Dr. iur. X. , zweifach, für sich und den Beschwerdeführer (per Gerichtsurkunde),
die Beschwerdegegnerin 1, unter Beilage einer Kopie von Urk. 16 (per Gerichtsurkunde),
die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat, ad D-2/2014/121100810, unter Beilage einer Kopie von Urk. 16 (gegen Empfangsbestätigung),
das Bezirksgericht Zürich, 10. Abteilung, ad DG150268-L (gegen Empfangsbestätigung),
die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich, ad SB160351-O, unter gleichzeitiger Retournierung der beigezogenen Akten [Urk. 21] (gegen Empfangsbestätigung).
Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann unter den einschränkenden Voraussetzungen von Art. 93 des Bundesgerichtsgesetzes Beschwerde in Strafsachen erhoben werden. Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, vom Empfang an gerechnet, bei der Ersten öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen. Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.
Zürich, 11. November 2016
Obergericht des Kantons Zürich
Strafkammer
Präsident:
lic. iur. Th. Meyer
Gerichtsschreiberin:
Dr. iur. A. Murer Mikolásek
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