Kanton: | ZH |
Fallnummer: | SU230017 |
Instanz: | Obergericht des Kantons Zürich |
Abteilung: | II. Strafkammer |
Datum: | 06.02.2024 |
Rechtskraft: | Weiterzug ans Bundesgericht, 6B_237/2024 |
Leitsatz/Stichwort: | Verletzung der Verkehrsregeln |
Zusammenfassung : | Das Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, hat am 6. Februar 2024 in einem Verfahren wegen Verletzung der Verkehrsregeln entschieden, dass der Beschuldigte A. schuldig ist. Er wird mit einer Busse von Fr. 150.– bestraft. Bei Nichtbezahlung der Busse droht eine Ersatzfreiheitsstrafe von 2 Tagen. Die Gerichtskosten des Berufungsverfahrens werden dem Beschuldigten auferlegt. Die Entscheidung kann beim Bundesgericht angefochten werden. |
Schlagwörter : | Beschuldigte; Beweis; Vorinstanz; Beschuldigten; Verzweigung; -strasse; Zeuge; Berufung; Fahrzeug; Urteil; -gasse; Verkehr; Sachverhalt; Schrittgeschwindigkeit; Geschwindigkeit; Recht; Lieferwagen; Beweisantrag; Über; Verteidigung; Signal; Stadtrichter; Augenschein; STOP-Signal; Stadtrichteramt; Sinne; Sachverhalts; önnen |
Rechtsnorm: | Art. 106 StGB ; Art. 107 StPO ; Art. 139 StPO ; Art. 29 BV ; Art. 391 StPO ; Art. 398 StPO ; Art. 402 StPO ; Art. 426 StPO ; Art. 428 StPO ; Art. 437 StPO ; Art. 6 StPO ; Art. 82 StPO ; Art. 90 SVG ; |
Referenz BGE: | 141 IV 249; 141 V 557; 145 IV 190; 146 IV 218; 146 IV 297; 146 IV 88; 147 IV 534; |
Kommentar: | Donatsch, Lieber, Wohlers, Kommentar zur StPO, Art. 398 StPO, 2020 |
Obergericht des Kantons Zürich
II. Strafkammer
Geschäfts-Nr.: SU230017-O/U/sm
Mitwirkend: Oberrichterin lic. iur. Bertschi, Präsidentin, Oberrichterin
lic. iur. Wasser-Keller und Ersatzoberrichterin Dr. Schoder sowie Gerichtsschreiberin MLaw Boese
Urteil vom 6. Februar 2024
in Sachen
Beschuldigter und Berufungskläger
verteidigt durch Rechtsanwältin lic. iur. X.
gegen
betreffend Verletzung der Verkehrsregeln
Strafbefehl:
Der Strafbefehl des Stadtrichteramtes Zürich vom 16. März 2021 (Urk. 2) ist diesem Urteil beigeheftet.
Urteil der Vorinstanz:
Der Einsprecher ist schuldig der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln durch Fahrlässiges Nichtbeachten des Vortrittsignals STOP im Sinne von Art. 90 Abs. 1 SVG in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 und Art. 100 Ziff. 1
Abs. 1 SVG sowie Art. 36 Abs. 1 und Art. 75 Abs. 1 SSV.
Der Einsprecher wird bestraft mit einer Busse von Fr. 300.
Bezahlt der Einsprecher die Busse schuldhaft nicht, so tritt an deren Stelle eine Ersatzfreiheitsstrafe von 3 Tagen.
Die Entscheidgebühr wird festgesetzt auf Fr. 750. Allfällige weitere Auslagen bleiben vorbehalten.
Die Gerichtskosten werden dem Einsprecher auferlegt. über diese Kosten stellt die Gerichtskasse Rechnung.
Die Kosten des Stadtrichteramtes Zürich im Betrag von Fr. 830 (Fr. 330 Verfügungskosten gemäss Strafbefehl Nr. 2021-009-616 vom 16. März 2021 sowie Fr. 500 zusätzliche Untersuchungskosten) werden dem Einsprecher auferlegt. Diese Kosten sowie die Busse von Fr. 300 werden durch das Stadtrichteramt Zürich eingefordert.
BerufungsAnträge:
Der Verteidigung des Beschuldigten: (Urk. 46 S. 2 f.; Urk. 60 S. 2)
Das Urteil des Bezirksgerichtes Zürich vom 9. Dezember 2022 sei voll- umfänglich aufzuheben und der Beschuldigte sei von Schuld und Strafe freizusprechen.
Eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen mit der Auflage, den Beweisantrag des Beschuldigten gutzuheissen und den Sachverhalt anhand des Resultats der Beweisabnahme neu rechtlich zu beurteilen.
Beweisantrag: Augenschein an der Verzweigung B. -gasse /
C. -strasse inklusive Befahrung mit dem vom Beschuldigten am
9. Februar 2021 gelenkten, beladenen D. -Fahrzeug E. (recte: ...).
Dem Beschuldigten seien die Kosten für seine Verteidigung im Vorverfahren sowie im erst- und zweitinstanzlichen Gerichtsverfahren zu entschädigen.
Unter Kostenfolgen zulasten der Staatskasse.
Des Vertreters des Stadtrichteramtes Zürich: (Urk. 64 S. 2)
Die BerufungsAnträge seien abzuweisen, unter vollumfänglicher Kostenauflage zulasten des Beschuldigten.
Erwägungen:
Gegen das eingangs im Dispositiv wiedergegebene, Mändlich eröffnete Urteil des Bezirksgerichtes Zürich, 10. Abteilung - Einzelgericht, vom 9. Dezember 2022 meldete der Beschuldigte rechtzeitig Berufung an (Prot. I S. 16; Urk. 38; Urk. 39) und reichte nach Erhalt der begründeten Urteilsausfertigung mit Eingabe vom 6. März 2023 fristgerecht die BerufungsErklärung ein (Urk. 43/2; Urk. 44; Urk. 46).
Mit präsidialVerfügung vom 8. März 2023 wurde dem Stadtrichteramt Frist angesetzt, um zu erklären, ob Anschlussberufung erhoben ein Nichteintreten auf die Berufung des Beschuldigten beantragt werde (Urk. 48). Mit Eingabe vom 14. März 2023 erklärte das Stadtrichteramt, dass auf Anschlussberufung verzichtet werde (Urk. 50).
Am 27. März 2023 wurde gestützt auf Art. 406 Abs. 1 lit. c StPO die Durchführung des schriftlichen Verfahrens beschlossen und dem Beschuldigten Frist angesetzt, um schriftlich die BerufungsAnträge zu stellen und zu begründen (Urk. 52).
Mit Eingabe vom 6. Juni 2023 liess der Beschuldigte innert erstreckter Frist die eingangs wiedergegebenen BerufungsAnträge stellen und deren Begründung einreichen (Urk. 60). Die BerufungsBegründung wurde dem Stadtrichteramt sowie der Vorinstanz mit präsidialVerfügung vom 7. Juni 2023 zugestellt, unter Ansetzung einer Frist zur Einreichung der Berufungsantwort bzw. zur freigestellten Stellungnahme (Urk. 62). Das Stadtrichteramt beantragte mit Eingabe vom 13. Juni 2023 (Datum Poststempel) die Abweisung der BerufungsAnträge des Beschuldigten (Urk. 64), während die Vorinstanz auf eine Vernehmlassung verzichtete (Urk. 65). Das Verfahren erweist sich als spruchreif.
Umfang der Berufung
Gemäss Art. 402 StPO in Verbindung mit Art. 437 StPO wird die Rechtskraft des angefochtenen Urteils im Umfang der Anfechtung gehemmt. Der Beschuldigte verlangt die vollumfängliche Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils (Urk. 46 S. 2 f.; Urk. 60 S. 2), weshalb keine Dispositivziffer in Rechtskraft erwachsen ist. Nachdem das Stadtrichteramt kein Rechtsmittel ergriffen hat, steht das vorinstanzliche Urteil unter Vorbehalt des Verschlechterungsverbots (Art. 391 Abs. 2 StPO) somit insgesamt zur Disposition.
Kognition
Bilden wie im vorliegenden Fall ausschliesslich übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Hauptverfahrens, so kann mit der Berufung nur geltend gemacht werden, das Urteil sei rechtsfehlerhaft die Feststellung des Sachverhalts sei offensichtlich unrichtig beruhe auf einer Rechtsverletzung. Neue Behauptungen und Beweise können nicht vorgebracht werden (Art. 398 Abs. 4 StPO).
Bei der überPrüfung des Sachverhalts ist die Kognition des Berufungsgerichts auf offensichtlich unrichtige auf einer Rechtsverletzung basierende Feststellungen der Vorinstanz beschränkt. Offensichtlich unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist. Willkür liegt nach stündiger Rechtsprechung nur vor, wenn die BeweisWürdigung schlechterdings unhaltbar ist, d.h. wenn die Vor-instanz in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Dass eine andere Lösung Würdigung ebenfalls vertretbar erscheint gar vorzuziehen wäre, genügt nicht (BGE 146 IV 88 E. 1.3.1; 141 IV 369 E. 6.3; 141 IV 305 E. 1.2; je mit Hinweisen).
In Bezug auf die von der Vorinstanz vorgenommene rechtliche Würdigung unterliegt das Berufungsgericht hingegen keiner Beschränkung seiner überpräfungsbefugnis. Vielmehr hat es sämtliche Rechtsfragen mit freier Kognition zu beurteilen (ZIMMERLIN, in: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers [Hrsg.], Kommentar zur StPO, 3. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2020, N 23 zu Art. 398 StPO).
Das Gericht muss sich nicht mit allen Parteistandpunkten einlässlich ausei- nandersetzen und jedes einzelne Vorbringen ausDrücklich widerlegen. Vielmehr kann es sich auf die seiner Auffassung nach wesentlichen und massgeblichen Vorbringen der Parteien beschränken (BGE 141 IV 249 E. 1.3.1 mit weiteren Hinweisen).
Beweisantrag des Beschuldigten
Mit der BerufungsErklärung vom 6. März 2023 liess der Beschuldigte die Durchführung eines Augenscheins an der Verzweigung B. -gasse / C. strasse beantragen. Konkret sei die Verzweigung mit dem von ihm zur Tatzeit gelenkten und voll beladenen D. -Lieferwagen E. (recte: ...) zu befahren (Urk. 46). In der BerufungsBegründung vom 6. Juni 2023 verdeutlichte die Vertei- digung, dass dieser Beweisantrag erst eventualiter zum Tragen kommen solle, falls das Berufungsgericht zur Einschätzung gelange, die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz sei nicht offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 398 Abs. 4 StPO und der Beschuldigte sei nicht entsprechend dem Hauptantrag von Schuld und Strafe freizusprechen. Diesfalls sei das vorinstanzliche Urteil dennoch aufzuheben und die Sache zur Beweisabnahme und zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zur Begründung brachte die Vertei- digung im Wesentlichen vor, die Vor-instanz habe den Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör verletzt, indem sie im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens den Beweisantrag auf Durchführung eines Augenscheins an der Verzweigung B. -gasse / C. -strasse zunächst abgewiesen und in der UrteilsBegründung nicht mehr weiter behandelt habe, obwohl der Antrag anlässlich der Hauptverhandlung nochmals wiederholt worden sei. Damit beruhe die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 398 Abs. 4 StPO (Urk. 60 S. 2, 16 ff.). Nach dieser Verdeutlichung erscheint es angezeigt, auf den Beweisantrag des Beschuldigten und die damit vorgebrachten Rügen betreffend die Verletzung seines rechtlichen Gehörs im Zusammenhang mit der überPrüfung der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung
einzugehen (vgl. nachfolgend E. III.7. und III.8.). An dieser Stelle ist jedoch festzuhalten, dass der Beweisantrag auf Durchführung eines Augenscheins trotz eingeschränkter Kognition im Sinne von Art. 398 Abs. 4 StPO im vorliegenden Berufungsverfahren zulässig ist, da der Beschuldigte diesen bereits im Rahmen des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens stellte (vgl. Urk. 28 S. 11; Urk. 36; Prot. I
S. 13; Urteile des Bundesgerichts 7B_205/2022 vom 25. Oktober 2023 E. 3.4; 6B_283/2020 vom 2. November 2020 E. 2.2; je mit weiteren Hinweisen; vgl. auch B?HLER, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar StPO, 3. Auflage, Basel 2023, N 6 zu Art. 398 StPO).
Dem Beschuldigten wird vorgeworfen, am 9. Februar 2021 um 10.30 Uhr
den Lieferwagen E.
(Kennzeichen ZH1) von der B. -gasse herkommend ohne anzuhalten mit deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit in die Verzweigung B. -gasse / C. -strasse in Zürich gelenkt zu haben. Dabei habe er pflichtwidrig unvorsichtig das dortige Verkehrssignal STOP sowie die das Signal ergänzende Haltelinie missachtet, was er bei pflichtgemüsser Vorsicht, gebotener Sorgfalt und Aufmerksamkeit im Strassenverkehr hätte vermeiden können (Urk. 2).
Der Beschuldigte stellt nicht in Abrede, zur Tatzeit den vorgenannten Lieferwagen mit dem Kennzeichen ZH1 gelenkt und damit die Verzweigung B. gasse / C. -strasse befahren zu haben (Urk. 6 S. 2). Er stellt sich jedoch auf den Standpunkt, er habe vor der Kreuzung abgebremst und beim STOP-Signal angehalten. Die Räder des Lieferwagens seien seines Erachtens zu einem vollstündigen Stillstand gekommen. Erst danach sei er wieder losgefahren. Ohnehin wäre eine deutlich Höhere Geschwindigkeit als Schrittgeschwindigkeit nicht möglich gewesen. Zuvor habe er an der B. -gasse 2 parkiert gehabt. Von dort bis zur Kreuzung seien es etwa 30 Meter. Der Lieferwagen sei alt und voll beladen gewesen, weshalb eine Beschleunigung auf deutlich mehr als Schrittgeschwin- digkeit auf dieser kurzen Strecke gar nicht zu bewerkstelligen gewesen wäre (Urk. 6 S. 2 ff.; Prot. I S. 10 ff.). Der Beschuldigte bestreitet somit, den Lieferwagen E. ohne anzuhalten mit deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit in die Verzweigung B. -gasse / C. -strasse gelenkt zu haben.
Die Vorinstanz hat die zur Erstellung des bestrittenen Sachverhalts massgeblichen Beweismittel vollständig und zutreffend aufgezählt, worauf verwiesen werden kann (Urk. 44 S. 5; Art. 82 Abs. 4 StPO). Es ist festzuhalten, dass keine objektiven Beweismittel, wie beispielsweise eine Videoaufnahme das Ergeb- nis einer Geschwindigkeitsmessung, vorliegen, woraus sich ergeben würde, dass der Beschuldigte das Verkehrssignal STOP missachtete und die Verzweigung B. -gasse / C. -strasse mit deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit befuhr.
Die Vorinstanz kam zum Ergebnis, dass sich der bestrittene Sachverhalt gestätzt auf den Polizeirapport der Stadtpolizei Zürich vom 10. Februar 2021 (Urk. 1)
und die Aussagen des Zeugen F.
anlässlich seiner stadtrichterlichen Einvernahme vom 26. April 2022 (Urk. 15) rechtsgenügend erstellen lasse. In ihrer BeweisWürdigung erwog sie, dass es dem Zeugen F. als langjährigem Polizisten, der Schulungen im Bereich Verkehrssicherheit durchführe, zuzutrauen sei, dass er die Geschwindigkeit eines Verkehrsteilnehmers einSchätzen bzw. erken- nen könne, ob ein Fahrzeug mit mehr als Schrittgeschwindigkeit unterwegs sei. Dass er sich hierzu der Physik bediene und einem gewissen Schema folge dies aber nur als Hilfe bzw. Indiz sei nachvollziehbar. Ausserdem vermöge ein solches Schema vor allem bei übertretungen der Strassenverkehrsordnung die Rechtssicherheit zu garantieren und Willkür gegenüber einzelnen Verkehrsteil- nehmern zu vermeiden, wenn es wie vom Zeugen neben seinen eigenen Beobachtungen zur tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit durch Konzentration auf die Haltelinie angewendet werde. Dass der Zeuge F. sich nicht mehr an das konkrete Fahrzeug erinnern könne, spreche ausserdem für die Objektivität seiner Beobachtungen und der daraus resultierenden Konklusionen. Indes sei es für das Gericht nicht nachvollziehbar, dass ein Fahrzeug für den Verkehr zugelassen sein solle, das derart schnell umkippen könne, wie dies der Beschuldigte behaupte. Auch der Einwand des Beschuldigten, wonach er nur wenige Meter vor dem STOP-Signal angefahren sei, weswegen er mit dem maximal 45 km/h-schnellen
Fahrzeug gar nicht eine so hohe Geschwindigkeit habe erreichen können, gehe fehl. Es sei notorisch, dass auch ein langsames Fahrzeug innert weniger Meter mindestens Schrittgeschwindigkeit erreichen könne. Die entsprechenden Vorbringen des Beschuldigten seien daher als reine Schutzbehauptungen zu werten (Urk. 44 S. 7 f.).
Die Verteidigung rägt die vorinstanzliche BeweisWürdigung als offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 398 Abs. 4 StPO. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, dass der vom Beschuldigten gelenkte Lieferwagen E. aus verschiedenen Gründen anders habe gefahren werden müssen als ein normales Personenfahrzeug. So sei der Radstand im Verhältnis zur Höhe des Fahrzeugs äusserst gering, wodurch dieses eine geringe Bodenhaftung aufweise. Wegen des hohen Aufbaus mit führerkabine und Laderaum liege zudem der Schwerpunkt relativ weit oben, was dazu führe, dass der kleine Lieferwagen in Kurven eher zum Kippen neige. Schliesslich Müssten Elektro-Leichtfahrzeuge wie das Modell E. nicht über ein elektronisches Stabilitätsprogramm (ESP) verfügen, was für normale Personenwagen in Europa hingegen seit dem Jahr 2014 vorgeschrieben sei. All diese Faktoren hätten dazu beitragen, dass der vom Beschuldigten gelenkte Lieferwagen leicht habe umkippen können, was bereits für sich eine vorsichtige Fahrweise erfordert habe. Hinzu komme, dass das Fahrzeug zur Tatzeit voll beladen gewesen sei mit Nahrungsmitteln, die der Beschuldigte habe ausliefern sollen. Bei seiner Fahrt habe er somit auch darauf bedacht sein müssen, dass die Behälter, in denen die Nahrungsmittel verstaut gewesen seien, nicht umkippen. Insgesamt sei der Beschuldigte aufgrund der Eigenschaften des gelenkten Lieferwagens und der geladenen Nahrungsmittel gezwungen gewesen, an der Verzweigung mit einem Grösseren Radius nach rechts in die C. strasse einzubiegen. Dies habe die Vorinstanz in ihrem Urteil nicht beRücksichtigt und insofern den Sachverhalt unrichtig festgestellt (Urk. 60 S. 3 f., 10 ff.; vgl. auch Urk. 28 S. 2 f.; Prot. I S. 11 f.). Willkürlich sei weiter, dass die Vorinstanz gefolgert habe, es sei nicht zu beanstanden, dass sich der Zeuge F. der Physik be- dient habe bzw. einem gewissen Schema gefolgt sei, um seine Beobachtungen zur tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit im Rahmen der Verkehrskontrolle zu verifizieren. Die Vorinstanz verkenne, dass das angewandte Schema den Beson-
derheiten von Fahrzeugen wie dem Kleinst-Lieferwagen E. keine Rechnung trage, was zu falschen Ergebnissen führe (Urk. 60 S. 14 f.).
6.
Dem Rapport des Polizisten F. vom 10. Februar 2021 ist zu entneh-
men, dass der Beschuldigte mit einem Lieferwagen E.
von der G. strasse her die B. -gasse befahren und bei der Verzweigung mit der C. -strasse das Vortrittssignal STOP missachtet habe, indem er fast ungebremst und mit deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit über die Kreuzung gefahren sei, ohne das Fahrzeug zu einem Stillstand gebracht zu haben (Urk. 1).
Die Vorinstanz hat die Aussagen des Polizisten F.
anlässlich seiner
stadtrichterlichen Zeugeneinvernahme vom 26. April 2022 zutreffend und detailliert zusammengefasst, worauf verwiesen werden kann (Urk. 44 S. 6 f.; Art. 82 Abs. 4 StPO). Der Zeuge konnte sich nicht mehr an den Beschuldigten bzw. die angeklagte Tat erinnern. Folglich konnte er auch keine Angaben zu seinen damaligen Beobachtungen zum Tathergang und insbesondere zur gefahrenen Geschwindigkeit des Beschuldigten machen (Urk. 15 S. 2 f., 5). Entgegen der Vorinstanz
(Urk. 44 S. 7) konnte der Zeuge F.
insofern den rapportierten Sachverhalt
bezüglich der bestrittenen Punkte nicht bestätigen. Dies lässt jedoch keine rechtserheblichen Zweifel an der Richtigkeit des Polizeirapports aufkommen. So erklärte
der Zeuge F.
gegenüber dem Stadtrichter, dass es an der Verzweigung
B. -gasse / C. -strasse relativ viele übertretungen gebe und er bereits einige Verzeigungen deswegen geschrieben habe (Urk. 15 S. 2 f.). Vor dem Hintergrund, dass zwischen der zu beurteilenden Tat und der Zeugeneinvernahme knapp drei Monate vergangen waren, erscheint es nachvollziehbar, dass sich der Zeuge F. nicht mehr an den Beschuldigten und die Einzelheiten der rapportierten Verletzung der Verkehrsregeln erinnern konnte. Dass er dies offenlegte und sich nicht unter Zuhilfenahme des verfassten Polizeirapports auf die Einvernahme vorbereitet hatte (vgl. Urk. 15 S. 3), spricht für die Glaubhaftigkeit seiner Aussagen.
Der Zeuge bezog sich wiederholt darauf, dass er an der Verzweigung B. -gasse / C. -strasse stets nach demselben Schema vorgehe. Ihm sei einfach aufgefallen, dass Fahrzeuglenker, die mit deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit unterwegs seien, es an dieser Stelle nicht schaffen würden, die Kurve eng zu nehmen und beim Abbiegen auf die Gegenfahrbahn kämen. Dies sei für ihn ein deutliches Indiz dafür, dass es mehr als Schrittgeschwindigkeit gewesen sei (Urk. 15 S. 2 f., 5). Aus diesen Aussagen könnte der Eindruck entstehen, als habe der Zeuge F. damals allein vom Radius beim Abbiegen in die C. -strasse nach seinem erwähnten Schema auf die Missachtung des STOP-Signals und die übErhöhte Geschwindigkeit des Beschuldigten geschlossen, weitere Faktoren wie insbesondere die besonderen Eigenschaften die Ladung des Fahrzeugs hingegen nicht beRücksichtigt.
Dagegen ist einzuwenden, dass der Zeuge F.
von seinem damaligen
Standort an der C. -strasse unmittelbar nach der Verzweigung mit der B. -gasse die Haltelinie beobachtete (Urk. 15 S. 3). Es ist deshalb ohne rechtserhebliche Zweifel davon auszugehen, dass er sah, dass der Beschuldigte das STOP-Signal missachtete. Wenn der Beschuldigte vorbringt, Meines Erachtens habe ich schon angehalten (Urk. 6 S. 2 f.; Prot. I S. 9), vermag dies die rapportierte Beobachtung des erfahrenen Polizisten nicht per se in Frage zu stellen. Von seinem Standort konnte der Zeuge F. sodann die gefahrene Geschwindigkeit des Beschuldigten wahrnehmen. Mit der Vorinstanz (Urk. 44 S. 7) ist es dem Zeugen, der als Polizist berufsmässig im Strassenverkehr zu tun hat und Schulungen im Bereich Verkehrskontrollen durchführt, durchaus zuzutrauen, dass er einzuSchätzen vermag, ob ein Verkehrsteilnehmer die Verzweigung B. -gasse / C. -strasse mit deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit beführt, ohne zuvor an der Haltelinie sein Fahrzeug zum Stillstand gebracht zumindest deutlich verlangsamt zu haben. hätte er wahrgenommen, dass der Beschuldigte mit ungefähr Schrittgeschwindigkeit in die C. -strasse abbog, wäre ihm auch das Ordnungsbussenverfahren offen gestanden hätte er ganz darauf verzichten können, den Beschuldigten wegen einer Verkehrsregelverletzung zur Verantwortung zu ziehen. Auf entsprechende Fragen des Stadtrichters betonte der Zeuge F. denn auch, dass er sehr grossen Wert darauf
lege, dass niemand falsch beschuldigt werde. In knappen Fällen bzw. wenn es nicht eindeutig sei, ob ein Verkehrsteilnehmer noch mit Schrittgeschwindigkeit unterwegs sei nicht mehr, mache er jeweils nichts spreche eine Ord- nungsbusse aus. Es gehe ihm nicht darum, möglichst viele Rapporte zu schreiben. Entscheidend sei vielmehr, dass der Tatbestand (der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln) erfüllt sei (Urk. 15 S. 4). An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass der Polizeibeamte F. als Garant für die Richtigkeit des von ihm verfassten Polizeirapports einzustehen hat (vgl. BGE 145 IV 190 E. 1.4.1). Bei einer falschen Rapportierung falschen Zeugenaussagen würde er sich strafbar machen und zudem seine Entlassung riskieren (vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_132/2012 vom 26. April 2012 E. 2.4.3).
Zudem ist hervorzuheben, dass sich aus den Aussagen des Zeugen F. ergibt, dass er das erwähnte Schema (Befahren der Gegenfahrbahn in der C. -strasse als Indiz für eine Geschwindigkeit von deutlich mehr als 5 km/h) jeweils nur ergänzend zur Verifizierung seiner Beobachtungen zur gefahrenen Geschwindigkeit hinzuzieht. Damit solle vermieden werden, dass Fahrzeuglenker, die im Grenzbereich von Schrittgeschwindigkeit unterwegs seien, gleich verzeigt würden (Urk. 15 S. 5). Auch wenn der Beizug eines Schemas keine absolute Sicherheit schaffen kann, ist dieses Vorgehen mit der Vorinstanz (Urk. 44 S. 7) nicht zu beanstanden, zumal es dazu beitragen kann, beim Verdacht auf übertretung der Strassenverkehrsordnung uneinheitliche und damit willkürliche Entscheide gegen einzelne Verkehrsteilnehmer zu vermeiden.
Der Beschuldigte stellt nicht in Abrede, dass er beim Abbiegen in die C. -strasse auf die Gegenfahrbahn geriet. Er lässt jedoch vorbringen, dass er die Verzweigung mit einem Grösseren Radius habe befahren müssen, weil sein Fahrzeug und die darin geladenen Lebensmittel andernfalls hätten umkippen kön- nen. Mit anderen Worten macht er geltend, das Befahren der Gegenfahrbahn sei nicht auf eine übersetzte Geschwindigkeit zurückzuführen gewesen, sondern auf die besonderen Eigenschaften des damals gelenkten Kleinst-Lieferwagens und auf die darin geladene Ware. Folglich hätte das vom Polizisten F. entwickelte Schema gar nicht zur Anwendung kommen dürfen, da es in seinem Fall zu einem falschen Ergebnis führe (Urk. 46 S. 3; Urk. 60 S. 13 ff.; vgl. auch Urk. 28 S. 3,
9; Urk. 36).
Die Verteidigung hat anschaulich und detailliert dargelegt, dass das vom Beschuldigten zur Tatzeit gelenkte Fahrzeug E. aus verschiedenen Gründen nicht gleichermassen stabil gebaut war wie ein normales Personenfahrzeug und deshalb leicht hätte umkippen können (Urk. 60 S. 3 f., 10 ff.; vgl. auch Urk. 29; Urk. 37; Urk. 61/3). Zudem ist aufgrund des eingereichten Auszugs aus der Auslieferungstour vom 9. Februar 2021 belegt, dass der Beschuldigte zur Tatzeit Lebensmittel für mindestens eine weitere D. -Kundin geladen hatte, die er ausliefern sollte (Urk. 7/1). Insgesamt ist es durchaus nachvollziehbar, dass der Beschuldigte aufgrund der Eigenschaften des gelenkten Lieferwagens und der gela- denen Nahrungsmittel gezwungen war, besonders vorsichtig zu fahren und an der Verzweigung mit einem Grösseren Radius nach rechts in die C. -strasse einzubiegen, um nicht ein Umkippen des Fahrzeugs und der auszuliefernden Ware zu riskieren. Die Vorinstanz teilte diese Einschätzung nicht (Urk. 44 S. 7). Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, die Vorinstanz habe den Sachverhalt offensichtlich unrichtig bzw. willkürlich festgestellt. Die zentrale Frage ist vorliegend nämlich, mit welcher Geschwindigkeit der Beschuldigte diesen Grösseren Radius fuhr. Unter Hinweis auf die vorstehenden Erwägungen (E. III. 6.3.) ist ohne rechtserhebliche Zweifel davon auszugehen, dass der Zeuge F. angesichts seiner Berufserfahrung im Bereich Verkehrskontrollen unterscheiden kann, ob ein Fahrzeuglenker wegen des Grösseren Wendekreises einer anderen besonderen Eigenschaft seines Fahrzeugs an der Verzweigung B. -gasse / C. strasse mit einem Grösseren Radius abbiegen muss, ob das Befahren der Gegenfahrbahn auf eine Geschwindigkeit von deutlich über 5 km/h zurückzuführen ist. Entsprechend verneinte er die Frage der Verteidigung, ob es theoretisch möglich sei, dass auch ein Fahrzeuglenker von seinem Schema erfasst werde, der erst kurz vor dem STOP-Signal losgefahren sei und beim Abbiegen in die C. -strasse etwas habe ausholen müssen. Ergänzend führte der Zeuge aus, dass es nicht möglich sei, auf einer Strecke von wenigen Metern auf eine Geschwindigkeit von deutlich mehr als 5 km/h zu kommen (Urk. 15 S. 5). Insgesamt
besteht kein Anlass für die Annahme, der Zeuge F.
habe allein aus dem
Grösseren Radius beim Abbiegen bzw. aus dem Befahren der Gegenfahrbahn darauf geschlossen, dass der Beschuldigte die Verzweigung beinahe ungebremst bzw. mit deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit befahren habe, ohne sein Fahrzeug zuvor am STOP-Signal zum Stillstand gebracht zumindest abgebremst zu haben. Der entsprechenden Argumentation der Verteidigung ist somit nicht zu folgen (vgl. Urk. 60 S. 14). Die Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen F. , wonach sie (gemeint: die Polizei) nichts machen würden, wenn es nicht eindeutig klar sei, bzw. sie sich im Zweifel für eine Ordnungsbusse statt eine Verzeigung entscheiden würden (Urk. 15 S. 4), wird durch den Beschuldigten selbst unterstätzt. So sagte er aus, der Polizist habe ihm gesagt, dass das ans Stadtrichteramt weitergeleitet werde (Urk. 6 S. 4), was ebenfalls als Indiz dafür spricht, dass der Beschuldigte die Haltelinie gemäss Aussage des Zeugen deutlich schneller als Schrittgeschwindigkeit (Urk. 15 S. 5) passierte. Selbst unter Be- Rücksichtigung des Erhöhten Risikos, dass das vom Beschuldigten gelenkte Fahrzeug E. und die darin geladene Ware hätten umkippen können, ist sodann fraglich, ob der Beschuldigte überhaupt einen Grösseren Radius hätte fahren müssen, um sicher in die C. -strasse einbiegen zu können, wenn er am STOP-Signal tatsächlich angehalten die Verzweigung mit lediglich Schrittgeschwindigkeit befahren hätte. So ist der Winkel zwischen der B. -gasse und der C. -strasse nicht besonders spitz, sondern etwas Grösser als 90 Grad (Urk. 61/5).
Der Beschuldigte brachte im erstinstanzlichen Verfahren schliesslich vor, dass er nach seinem Halt für eine Auslieferung an der B. -gasse 2, d.h. rund 30 Meter vor dem STOP-Signal angefahren sei, weshalb er mit dem maximal 45 km/h-schnellen Fahrzeug gar nicht auf eine Geschwindigkeit von deutlich mehr als 5 km/h habe beschleunigen können (Urk. 28 Ziff. 7; vgl. auch Urk. 6 S. 2, 4; Urk. 60 S. 3, 16). Die Vorinstanz wertete dieses Vorbringen als reine Schutzbehauptung. Zur Begründung erwog sie, es sei notorisch, dass auch ein langsames Fahrzeug innert weniger Meter mindestens Schrittgeschwindigkeit erreichen kön- ne (Urk. 44 S. 7 f.). Es ist zwar zutreffend, dass die Vorinstanz damit nicht aus- Drücklich festhielt, dass der Beschuldigte sein Fahrzeug auf der Strecke zwischen dem Halt auf der Höhe der B. -gasse 2 und dem STOP-Signal auf eine Geschwindigkeit von deutlich mehr als 5 km/h beschleunigen konnte (vgl. Urk. 60
S. 16). Indem sie jedoch den vorstehenden Einwand des Beschuldigten als Schutzbehauptung wertete, brachte sie genau dies implizit zum Ausdruck. Die Erwägungen der Vorinstanz sind folglich so zu verstehen, dass sie der überzeugung war bzw. ohne rechtserhebliche Zweifel davon ausging, dass das vom Beschuldigten gelenkte Fahrzeug während der kurzen Fahrt vom Zwischenstopp auf der Höhe der B. -gasse 2 bis zur Verzweigung auf deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit beschleunigen konnte. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern diese Einschätzung schlechterdings unhaltbar und damit willkürlich ist, zumal die Strecke zwischen dem Halt und dem STOP-Signal mit rund 30 Metern nicht bloss unwesentlich kurz ist.
Im Ergebnis erweist sich die BeweisWürdigung im angefochtenen Urteil nicht als schlechterdings unhaltbar aktenwidrig. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Vorinstanz in ihrem Entscheid von Tatsachen ausging, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Ebenso ist nicht ersichtlich, dass sie basierend auf der bestehenden Beweislage unhaltbare Schlussfolgerungen zog. Es ist nicht zu beanstanden und frei von Willkür, wenn die Vorinstanz den angeklagten Sachverhalt gestützt auf den Rapport des Polizisten F. vom 10. Februar 2021 und dessen Zeugenaussagen als erstellt erachtet. Die Vorbringen der Verteidigung sind nicht geeignet, Willkür in der Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz aufzuzeigen.
7. Die Verteidigung rägt sodann, die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts beruhe auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 398 Abs. 4 StPO. Zur Begründung führt sie kurz zusammengefasst aus, die Vorinstanz habe den Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) verletzt, indem sie im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens den Beweisantrag auf Durchführung eines Augenscheins an der Verzweigung B. -gasse / C. -strasse zunächst abgewiesen und in der UrteilsBegründung nicht mehr weiter behandelt habe, obwohl der Antrag anlässlich der Hauptverhandlung nochmals wiederholt bzw. erneuert worden sei (Urk. 60 S. 2, 16 ff.).
8.
Mit Eingabe vom 10. Oktober 2022 liess der Beschuldigte im Rahmen des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens die Durchführung eines Augenscheins an der Verzweigung B. -gasse / C. -strasse samt Befahrung mit dem zur
Tatzeit gelenkten und voll beladenen D. -Lieferwagen E.
(recte: ...)
beantragen (Urk. 28 S. 11). Die Vorinstanz wies diesen Beweisantrag mit Verfügung vom 22. November 2022 ab. Zur Begründung führte sie aus, dass es auf die konkrete Fahrweise und die Geschwindigkeit des Beschuldigten zur Tatzeit sowie auf die damalige Verkehrslage ankomme, welche Situation nicht mit der beantragten Befahrung anlässlich eines Augenscheins wiederholt werden könne (Urk. 32). Anlässlich der Hauptverhandlung hielt der Beschuldigte an seinem Beweisantrag gemäss Eingabe vom 10. Oktober 2022 fest (Prot. I S. 13; Urk. 36). Soweit ersichtlich, hat die Vorinstanz den Beweisantrag im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung nicht behandelt. Auch aus der Begründung des angefochte- nen Urteils geht nicht hervor, ob über den Beweisantrag im Rahmen der Beratung in der Hauptsache entschieden wurde. Es stellt sich die Frage, ob dies entsprechend dem Vorbringen des Beschuldigten eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 29 Abs. 2 BV darstellt.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 3 Abs. 2 lit. c und Art. 107 StPO) räumt den Parteien das persönlichkeitsbezogene Mitwirkungsrecht ein, erhebliche Beweise beizubringen, mit solchen BeweisAnträgen Gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise mitzuwirken. Dem Mitwirkungsrecht entspricht die Pflicht der Behörden, die Argumente und VerfahrensAnträge der Parteien entgegenzunehmen und zu prüfen sowie die ihr rechtzeitig und formrichtig angebotenen Beweismittel abzunehmen (vgl. BGE 146 IV 218 E. 3.1.1; 142 II 218 E. 2.3; je mit Hinweisen). Gemäss Art. 6 StPO klüren die StrafBehörden von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab. Sie untersuchen die belasten- den und entlastenden Umstände mit gleicher Sorgfalt. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Untersuchungsgrundsatzes im Sinne von Art. 6 StPO liegt nicht vor, wenn eine Behörde auf die Abnahme beantragter Beweismittel verzich-
tet, weil sie aufgrund der bereits abgenommenen Beweise ihre überzeugung gebildet hat und ohne Willkür in vorweggenommener (antizipierter) Beweiswürdigung annehmen kann, dass ihre überzeugung durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert würde (BGE 147 IV 534 E. 2.5.1; 143 III 297 E. 9.3.2; 141 I 60 E.
3.3; je mit Hinweisen; Urteile des Bundesgerichts 6B_882/2021 vom 12. November 2021 E. 4.3.1; 6B_110/2020 vom 1. Oktober 2020 E. 1.1.2;
6B_789/2019 vom 12. August 2020 E. 2.3; 6B_1068/2019 vom 23. Juli 2020
1.1; je mit Hinweisen). Art. 139 Abs. 2 StPO enthält die gesetzliche Umschreibung der Konstellationen, in denen eine antizipierte BeweisWürdigung im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zulässig ist (Urteile des Bundesgerichts 7B_186/2022 vom 14. August 2023 E. 3.1; 6B_219/2021 vom 19. April 2023 E.
2.2; 6B_1097/2021 vom 26. Oktober 2022 E. 3.3; je mit Hinweisen). Nach dieser Bestimmung wird über Tatsachen, die unerheblich, offenkundig, der StrafBehörde bekannt bereits rechtsgenügend erwiesen sind, nicht Beweis gefährt.
Wie vorstehend (E. II.2.4.) bereits erwähnt wurde, muss die Entscheidbegrün- dung kurz die wesentlichen überlegungen nennen, von denen sich das Gericht leiten liess und auf die es seinen Entscheid stätzt. Dabei kommt es auf den Einzelfall an, jedoch ist nicht eine detaillierte Antwort auf jedes Argument gefordert (BGE 146 IV 297 E. 2.2.7; 141 IV 249 E. 1.3.1; je mit Hinweisen). Nach der bun- desgerichtlichen Rechtsprechung kann die Begründung auch implizit erfolgen und sich aus verschiedenen Erwägungen des angefochtenen Entscheids ergeben (BGE 141 V 557 E. 3.2.1; Urteile des Bundesgerichts 7B_186/2022 vom 14. August 2023 E. 3.1; 6B_219/2021 vom 19. April 2023 E. 2.2; 6B_85/2022
vom 25. August 2022 E. 1.2).
Aus der BeweisWürdigung im angefochtenen Urteil (Urk. 44 S. 7 f.) ergibt sich, dass die Vorinstanz aufgrund der bereits erhobenen Beweise ihre überzeugung hinsichtlich der bestrittenen Sachverhaltselemente (Missachtung des STOP-Signals und Befahren der Verzweigung B. -gasse / C. -strasse mit deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit) gebildet hatte. So kam sie zum Ergebnis, dass sich der angeklagte Sachverhalt gestützt auf den Polizeirapport der Stadtpolizei Zürich vom 10. Februar 2021 (Urk. 1) und die Aussagen des Zeugen
anlässlich seiner stadtrichterlichen Einvernahme vom 26. April 2022
(Urk. 15) rechtsgenügend erstellen lasse. Mit ihrem Verzicht auf die Behandlung des anlässlich der Hauptverhandlung erneuerten Beweisantrags auf Durchführung eines Augenscheins an der Verzweigung B. -gasse / C. -strasse hat sie implizit zum Ausdruck gebracht, dass ihre überzeugung durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert werde. Es wäre zwar wünschenswert gewesen, dass die Vorinstanz ausDrücklich begründet hätte, dass und aus welchen Gründen sie den Beweisantrag des Beschuldigten erneut abweise. Unter BeRücksichtigung der vorstehenden Grundsätze zur Begründungspflicht unter dem Aspekt des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist es jedoch nicht zu beanstanden, wenn sich die entsprechende Begründung implizit aus ihren übrigen Erwägungen zur BeweisWürdigung ergibt. Hinzu kommt, dass die Vorinstanz bereits in ihrer Verfügung vom 22. November 2022 darlegte, aus welchen Gründen sie der Auffassung sei, dass der vom Beschuldigten beantragte Augenschein unerhebliche Tatsachen betreffe, worüber gemäss Art. 139 Abs. 2 StPO kein Beweis gefährt werde (Urk. 32). Unter diesen Umständen wurde der Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör nicht verletzt, indem die Vorinstanz seinen anlässlich der Hauptverhandlung wiederholten Beweisantrag nicht ausDrücklich behandelte.
Der Beschuldigte vermag sodann keine Willkür in der antizipierten Beweis- Würdigung der Vorinstanz darzulegen (Urk. 60 S. 17 ff.) und eine solche ist auch nicht ersichtlich. Die zentrale Frage ist vorliegend, ob sich erstellen lässt, dass der Beschuldigte das STOP-Signal bzw. die zuGehörige Haltelinie missachtete und die Verzweigung B. -gasse / C. -strasse ohne anzuhalten mit deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit befuhr. Der Vorinstanz ist zuzustimmen, dass sich mit dem beantragten Augenschein nicht nachstellen lässt, mit welcher Fahrweise und Geschwindigkeit der Beschuldigte am 9. Februar 2021 an der entscheidenden Stelle unterwegs war. Soweit die Verteidigung mit dem beantragten Augenschein nachweisen Möchte, dass der Beschuldigte wegen der besonderen Eigenschaften des gelenkten Lieferwagens und der geladenen Lebensmittel einen Grösseren Radius habe fahren müssen, um in die C. -strasse einbiegen zu können, ist festzuhalten, dass auch dies nichts zur Klürung beitragen kann, mit welcher Geschwindigkeit er diesen Grösseren Radius damals fuhr. Es ist unbestritten, dass der Beschuldigte bei seinem Abbiege-Manöver auf die Gegenfahrbahn geriet. Zu klüren ist allerdings, ob er dabei mit deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit unterwegs war. Dafür ist aus dem Augenschein kein Erkenntnisgewinn zu erwarten. Dass der vom Beschuldigten gelenkte Kleinst-Lieferwagen
E.
aufgrund seiner besonderen Eigenschaften beim Abbiegen in die
C. -strasse leicht hätte umkippen können und zudem Nahrungsmittel gela- den hatte, die ebenfalls hätten umfallen können, ergibt sich bereits ausreichend aus den übrigen, von der Verteidigung eingereichten Beweismitteln und ihren ergänzenden Erläuterungen (Urk. 7/1; Urk. 29; Urk. 37; Urk. 60 S. 3 f., 10 ff.; Urk. 61/3). Der beantragte Augenschein an der Verzweigung kann folglich nichts zur Erstellung des bestrittenen Sachverhalts beitragen.
Unter diesen Umständen durfte die Vorinstanz den Beweisantrag des Beschuldigten ohne Weiteres in antizipierter BeweisWürdigung abweisen. Das rechtliche Gehör des Beschuldigten und der Untersuchungsgrundsatz im Sinne von Art. 6 StPO wurden dadurch nicht verletzt. Es besteht folglich kein Anlass, das vor-instanzliche Urteil aufzuheben und die Sache zur Beweisabnahme und zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Soweit die Verteidigung weiter kritisiert, es sei lediglich der Polizist F. als Zeuge einvernommen worden, obwohl anlässlich der Verkehrskontrolle vom
9. Februar 2021 noch ein weiterer Polizeibeamter vor Ort gewesen sei (Urk. 60
S. 20 ff.), handelt es sich um ein neues Vorbringen, das im vorliegenden Berufungsverfahren nicht zugelassen ist (Art. 398 Abs. 4 StPO). Darauf ist folglich nicht weiter einzugehen.
9. Zusammenfassend ist die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts weder offensichtlich unrichtig noch beruht sie auf einer Rechtsverletzung. Dementsprechend ist für die rechtliche Würdigung auf den Sachverhalt gemäss Strafbefehl vom 16. März 2021 abzustellen.
Die von der Vorinstanz vorgenommene rechtliche Würdigung ist zutreffend und gibt zu keinen weiteren Bemerkungen Anlass. Es kann deshalb vollumfänglich auf die entsprechenden Erwägungen verwiesen werden (Urk. 44 S. 8 f.; Art. 82 Abs. 4 StPO). Die Verteidigung hat zu Recht nicht vorgebracht, dass die rechtliche Würdigung der Vorinstanz für den Fall, dass sich der angeklagte Sachverhalt rechtsgenügend erstellen lasse, unzutreffend sei. Der Beschuldigte ist daher der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 1 SVG in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 und Art. 100 Ziff. 1 Abs. 1 SVG sowie Art. 36 Abs. 1 und Art. 75 Abs. 1 SSV schuldig zu sprechen.
Die Vorinstanz bestrafte den Beschuldigten mit einer Busse von 300. Für den Fall der schuldhaften Nichtbezahlung der Busse legte sie eine Ersatzfreiheitsstrafe von 3 Tagen fest (Urk. 44 S. 9 f.). Der Beschuldigte hat die Strafzumessung der Vorinstanz für den Eventualfall eines Schuldspruchs nicht beanstandet. Nach- dem einzig er Berufung gegen das vorinstanzliche Urteil erhoben hat, fällt aufgrund des Verschlechterungsverbotes eine strengere Bestrafung von vornherein ausser Betracht (Art. 391 Abs. 2 StPO).
Nach Art. 106 Abs. 3 StGB bemisst das Gericht übertretungsbussen nach den Verhältnissen des täters so, dass dieser die Strafe erleidet, die seinem Verschul- den angemessen ist.
Mit der Vorinstanz ist die objektive und subjektive Tatschwere der zu beurteilenden Verkehrsregelverletzung als leicht zu gewichten, da sich den Akten nicht entnehmen lässt, dass der Beschuldigte durch die Missachtung des STOP- Signals und die anschliessende Befahrung der Verzweigung B. gasse / C. -strasse mit übersetzter Geschwindigkeit eine konkrete Gefahrensituation für andere Verkehrsteilnehmer schuf. Zudem handelte er bloss fahrlüssig. Dennoch wäre es ihm ohne Weiteres möglich gewesen, die gebotene Vorsicht zu beachten, da er gemäss eigenen Angaben die entscheidende Verzweigung kannte, das STOP-Signal gesehen hatte und keine Umstände vorbrachte, die ihn daran gehindert hätten, sich regelkonform zu verhalten.
Der aktuell 23-jährige Beschuldigte ist Student und lebt von den Einkünften aus seiner Nebenerwerbstätigkeit von durchschnittlich Fr. 1'200 pro Monat und UnterhaltsbeitRügen seiner Eltern von Fr. 720 pro Monat. Diesen Einkünften stehen monatliche Auslagen u.a. für die Miete von rund Fr. 900 und die Krankenkassenprämien von Fr. 380 gegenüber (Urk. 55; vgl. auch Prot. I S. 7 f.).
Die durch die Vorinstanz ausgesprochene Busse von Fr. 300 erscheint angesichts des leichten Verschuldens und der bescheidenen finanziellen Verhältnisse des Beschuldigten als zu hoch und ist deshalb auf Fr. 150 zu reduzieren. Die Ersatzfreiheitsstrafe für den Fall der schuldhaften Nichtbezahlung der Busse ist auf 2 Tage festzusetzen, nachdem der Umwandlungssatz von 1 Tag Ersatzfreiheitsstrafe pro Fr. 100 Busse der stündigen Praxis entspricht.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens der Beschuldigte wird verurteilt ist das erstinstanzliche Kostendispositiv zu bestätigen (Art. 428 Abs. 3 StPO in Verbindung mit Art. 426 Abs. 1 StPO; Urk. 44 S. 10 f., Dispositivziffern 4 und 5).
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens tragen die Parteien nach Massgabe ihres Obsiegens Unterliegens (Art. 428 Abs. 1 StPO). Der Beschuldigte unterliegt mit seinen BerufungsAnträgen vollumfänglich, weshalb ihm die Kosten des Berufungsverfahrens aufzuerlegen sind.
Es wird erkannt:
Der Beschuldigte A.
ist schuldig der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 1 SVG in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 und Art. 100 Ziff. 1 Abs. 1 SVG sowie Art. 36 Abs. 1 und Art. 75
Abs. 1 SSV.
Der Beschuldigte wird bestraft mit einer Busse von Fr. 150.
Die Busse ist zu bezahlen. Bezahlt der Beschuldigte die Busse schuldhaft nicht, so tritt an deren Stelle eine Ersatzfreiheitsstrafe von 2 Tagen.
Das erstinstanzliche Kostendispositiv (Ziffern 4 und 5) wird bestätigt.
Die zweitinstanzliche Gerichtsgebühr wird festgesetzt auf Fr. 1'200.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Beschuldigten auferlegt.
Schriftliche Mitteilung in vollständiger Ausfertigung an
die Verteidigung im Doppel für sich und zuhanden des Beschuldigten
das Stadtrichteramt Zürich
die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich
und nach unbenütztem Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. Erledigung allfälliger Rechtsmittel an
die Vorinstanz.
Gegen diesen Entscheid kann bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen erhoben werden.
Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, vom Empfang der vollständigen, be- Gründeten Ausfertigung an gerechnet, bei der I. strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen.
Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.
Obergericht des Kantons Zürich
II. Strafkammer
Zürich, 6. Februar 2024
Die Präsidentin:
Oberrichterin lic. iur. Bertschi
Die Gerichtsschreiberin:
MLaw Boese
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