Zusammenfassung des Urteils SU220046: Obergericht des Kantons Zürich
Der Beschuldigte A.________ wurde vom Einzelrichter am Bezirksgericht Schwyz wegen Betrugs verurteilt, er legte Berufung ein, verzichtete jedoch später auf die Berufungserklärung. Der Kantonsgerichtspräsident entschied, dass die Berufung als erledigt abgeschrieben wird und die Gerichtskosten von Fr. 300.00 vom Staat getragen werden. Es besteht die Möglichkeit, innerhalb von 30 Tagen Beschwerde beim Bundesgericht in Lausanne einzureichen. Der Richter in diesem Fall war Dr. Urs Tschümperlin.
Kanton: | ZH |
Fallnummer: | SU220046 |
Instanz: | Obergericht des Kantons Zürich |
Abteilung: | I. Strafkammer |
Datum: | 20.12.2022 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Widerhandlung gegen die Covid-19-Verordnung |
Schlagwörter : | Verfahren; Beschuldigte; Berufung; Vorinstanz; Gericht; Urteil; Stadtrichteramt; Verfahrens; Beschuldigten; Hauptverhandlung; Teilnahme; Befehl; Einsprache; Entscheid; Person; Entschädigung; Frist; Eingabe; Sinne; Recht; Berufungsverfahren; Kantons; Widerhandlung; Covid-; -Verordnung |
Rechtsnorm: | Art. 2 StPO ;Art. 336 StPO ;Art. 356 StPO ;Art. 357 StPO ;Art. 409 StPO ;Art. 428 StPO ;Art. 436 StPO ;Art. 69 StPO ; |
Referenz BGE: | 138 IV 157; 148 IV 155; |
Kommentar: | Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
Obergericht des Kantons Zürich
I. Strafkammer
Geschäfts-Nr.: SU220046-O/U/jv
Mitwirkend: die Oberrichter lic. iur. B. Gut, Präsident, lic. iur. B. Amacker und Oberrichterin lic. iur. S. Fuchs sowie Gerichtsschreiberin MLaw N. Hunziker
Beschluss vom 20. Dezember 2022
in Sachen
Verwaltungsbehörde und Berufungsklägerin
gegen
Beschuldigter und Berufungsbeklagter
betreffend Widerhandlung gegen die Covid-19-Verordnung Berufung gegen ein Urteil des Bezirksgerichts Zürich,
Erwägungen:
1. Mit Strafbefehl Nr. 2021-038-149 des Stadtrichteramtes Zürich (nachfolgend: Stadtrichteramt) vom 5. Januar 2022 wurde der Beschuldigte der Widerhandlung gegen Art. 3a Abs. 1 der Covid-19-Verordnung besondere Lage vom
19. Juni 2020 in der Fassung vom 19. April 2021 sowie des Missachtens von Anordnungen des Bahn-/Sicherheitspersonals im Sinne von Art. 9 Abs. 1 BGST schuldig gesprochen und mit einer Busse von Fr. 180.– bestraft (Urk. 2). Dagegen erhob der Beschuldigte am 12. Januar 2022 fristgerecht Einsprache (vgl. Urk. 3, Urk. 3/1 und Urk. 2/2). Nach Erhebung weiterer Beweise (vgl. insbesondere Urk. 13 und Urk. 14) hielt das Stadtrichteramt am Strafbefehl fest und überwies die Akten am 22. März 2022 an die Vorinstanz zur Durchführung des Hauptverfahrens (Urk. 19).
2. Mit Verfügung vom 11. April 2022 ordnete die Vorinstanz die Durchführung eines schriftlichen Verfahrens an und setzte dem Beschuldigten Frist an, seine Einsprache schriftlich zu begründen sowie allfällige Beweisanträge zu stellen und zu begründen, unter der Androhung, dass bei Säumnis Verzicht angenommen werde und der Strafbefehl in Rechtskraft erwachse (Urk. 20). Mit Eingabe vom
20. April 2022 beantragte der Beschuldigte eine mündliche Hauptverhandlung mit dem Bedenken, dass die Wahrung der Verschwiegenheit bei der Durchführung eines schriftlichen Verfahrens nicht gewährleistet sein könnte (Urk. 22). Mit Einschreiben vom 3. Mai 2022 erläuterte die Vorinstanz dem Beschuldigten das Amtsgeheimnis und setzte ihm eine weitere Frist zur Einreichung eines medizinischen Attests und gegebenenfalls zur weiteren schriftlichen Begründung seiner Einsprache an (Urk. 23). Aufforderungsgemäss reichte der Beschuldigte dem Gericht unterm 12. Mai 2022 eine schriftliche Begründung seiner Einsprache, ein medizinisches Attest sowie weitere Beweismittel ein (Urk. 24 und Urk. 25/1-5).
Mit Urteil der Vorinstanz vom 24. Juni 2022 wurde der Beschuldigte von der Widerhandlung gegen Art. 3a in Verbindung mit Art. 13 lit. f Covid-19-Verordnung besondere Lage (SR 818.101.26; Fassung vom 19. April 2021) freigesprochen
und des Missachtens von Anordnungen des Bahn-/Sicherheitspersonals im Sinne von Art. 9 Abs. a BGST schuldig gesprochen sowie mit Fr. 80.– gebüsst (Urk. 26). Das vorinstanzliche Urteil wurde nicht mündlich eröffnet, sondern direkt in begründeter Ausfertigung versandt (vgl. Urk. 26 S. 12 und Urk. 28/1-3).
Gegen diesen Entscheid meldete das Stadtrichteramt am 5. Juli 2022 bei der Vorinstanz Berufung an (Urk. 27), was bei einem direkt in begründeter Form zugestellten Urteil nicht nötig gewesen wäre (vgl. BGE 138 IV 157 E. 2.2), und reichte am 12. Juli 2022 fristgerecht die Berufungserklärung am hiesigen Gericht ein (Urk. 32, vgl. Urk. 28/1).
Mit Präsidialverfügung vom 12. August 2022 wurde dem Beschuldigten Frist angesetzt, um Anschlussberufung zu erklären begründet ein Nichteintreten auf die Berufung zu beantragen (Urk. 35). Mit Eingabe vom 31. August 2022 nahm der Beschuldigte zur begründeten Berufungserklärung Stellung (Urk. 37 und Urk. 39/1-8). Mit Beschluss vom 2. September 2022 wurde gestützt auf Art. 406 Abs. 1 lit. c StPO die Durchführung eines schriftlichen Berufungsverfahrens angeordnet (Urk. 40). Da das Stadtrichteramt mit der begründeten Berufungserklärung mitgeteilt hatte, auf eine Fristansetzung zur weiteren Berufungsbegründung zu verzichten (Urk. 32 S. 2), wurde dem Beschuldigten zudem Frist angesetzt, um eine vollständige Berufungsantwort einzureichen um zu erklären, dass seine Eingabe vom 31. August 2022 bereits als vollständige Berufungsantwort gelte (Urk. 40). Mit Eingabe vom
20. September 2022 teilte der Beschuldigte mit, dass seine Eingabe vom
31. August 2022 als vollständige Berufungsantwort zu werten sei (Urk. 42).
Das Stadtrichteramt machte unter diesem Titel zusammengefasst geltend, es sei zu prüfen, ob das vorinstanzliche Verfahren an einem wesentlichen Mangel im Sinne von Art. 409 Abs. 1 StPO leide, weil ein schriftliches Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht – abgesehen von hier nicht interessierenden Ausnahmen (Art. 357 Abs. 1 i.V.m. Art. 356 Abs. 6 StPO) – gesetzlich nicht vorgesehen sei. Bejahendenfalls sei das vorinstanzliche Urteil aufzuheben und
die Sache zur Durchführung einer mündlichen Hauptverhandlung und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Urk. 32 S. 2 f.).
Der Beschuldigte verzichtete stillschweigend darauf, sich zu diesem Punkt zu äussern (Urk. 37).
Die Vorinstanz stützte sich in ihrem Entscheid, das schriftliche Verfahren anzuordnen, auf Art. 336 Abs. 1 lit. b StPO. Sie hielt fest, dass die Verfahrensleitung dann, wenn ausschliesslich Übertretungen zu beurteilen seien, die persönliche Teilnahme der beschuldigten Person [an der Hauptverhandlung] anordnen könne. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sei jedoch nicht zwingend (Urk. 20 S. 2).
Die Verfolgung und die Beurteilung strafbarer Handlungen sind Sache der Kantone (Art. 84 Abs. 1 EpG) gestützt auf die Verfahrensvorschriften der Strafprozessordnung. Gemäss Art. 357 Abs. 2 StPO richtet sich das Übertretungsstrafverfahren sinngemäss nach den Vorschriften über das Strafbefehlsverfahren. Art. 357 Abs. 2 StPO verweist mithin auf die Art. 352 ff. StPO. In Art. 356 StPO wird das Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht geregelt. Hat das Stadtrichteramt sich dazu entschlossen, am Strafbefehl festzuhalten, überweist es die Akten unverzüglich dem erstinstanzlichen Gericht zur Durchführung des Hauptverfahrens. Der Strafbefehl gilt als Anklageschrift (Art. 356 Abs. 1 StPO).
Art. 336 Abs. 1 StPO regelt die persönliche Teilnahme der beschuldigten Person an der Hauptverhandlung. Diese ist im Strafprozess von zentraler Bedeutung und für den Beschuldigten sowohl als Recht als auch als Pflicht ausgestaltet. Hat ein Verfahren Verbrechen Vergehen zum Gegenstand, besteht nach Art. 336 Abs. 1 lit. a StPO ein Teilnahmezwang der beschuldigten Person. Sind ausschliesslich Übertretungen zu beurteilen, ist die persönliche Teilnahme der beschuldigten Person gemäss Art. 336 Abs. 1 lit. b StPO nicht erforderlich, ausser die Verfahrensleitung ordnet ihre persönliche Teilnahme an.
Zur Möglichkeit, das Gerichtsverfahren schriftlich durchzuführen, äussert sich Art. 336 Abs. 1 StPO nicht. Vielmehr hat auch dann eine Hauptverhandlung
stattzufinden, wenn eine beschuldigte Person mit Teilnahmepflicht auf ihr Gesuch hin aus wichtigen Gründen vom persönlichen Erscheinen dispensiert wird die Teilnahme der beschuldigten Person in einem Übertretungsstrafverfahren nicht erforderlich ist (vgl. BSK StPO-WYDER, Art. 336 StPO N 19).
Die gesetzliche Grundlage zur Durchführung eines schriftlichen Verfahrens findet sich in Art. 356 Abs. 6 StPO. Darin ist abschliessend geregelt, dass das erstinstanzliche Gericht in einem schriftlichen Verfahren entscheiden kann, wenn sich die Einsprache nur auf die Kosten und Entschädigungen weitere Nebenfolgen bezieht. Ansonsten ist das Verfahren mündlich (Art. 2 Abs. 2 StPO i.V.m. 66 StPO) und die Hauptverhandlung ist öffentlich (Art. 69 Abs. 1 StPO).
Da der Beschuldigte mit seiner Einsprache einen vollumfänglichen Freispruch verlangt hat (vgl. Urk. 3 und Urk. 24), besteht vorliegend keine gesetzliche Grundlage für die Durchführung eines schriftlichen erstinstanzlichen Verfahrens.
Das erstinstanzliche Verfahren weist nach dem Gesagten einen wesentlichen Mangel im Sinne von Art. 409 Abs. 1 StPO auf. Gestützt auf Art. 409 Abs. 1 StPO hebt das Berufungsgericht das angefochtene Urteil auf und weist es an die Vorinstanz zurück, wenn das erstinstanzliche Verfahren wesentliche Mängel aufweist, die im Berufungsverfahren nicht geheilt werden können. Dabei geht es um Fälle, in denen grundlegende Verfahrensregeln verletzt wurden. Dies ist unter anderem der Fall, wenn keine ordnungsgemässe Hauptverhandlung durchgeführt wurde (vgl. Urteil 6B_1010/2021 des Bundesgerichts vom
10. Januar 2022 [BGE 148 IV 155] E. 1.4.1 und 3 mit Hinweisen; SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, Rz. 1576).
4. Das Urteil der Vorinstanz ist folglich aufzuheben und die Sache zur Durchführung einer mündlichen Hauptverhandlung und zur Fällung eines neuen Entscheids an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das vorliegende Berufungsverfahren (SU220046) ist damit als erledigt abzuschreiben.
Da der Entscheid der Vorinstanz vollumfänglich aufzuheben ist, wird die Vorinstanz im Rahmen ihrer Neubeurteilung über die Kostenauflage für das gesamte erstinstanzliche Verfahren zu entscheiden haben.
Ausgangsgemäss fällt die Gerichtsgebühr für das zweitinstanzliche Verfahren ausser Ansatz (Art. 428 Abs. 4 StPO).
Hebt die Rechtsmittelinstanz einen Entscheid nach Art. 409 StPO auf, so haben die Parteien Anspruch auf eine angemessene Entschädigung für ihre Aufwendungen im Rechtsmittelverfahren und im aufgehobenen Teil des erstinstanzlichen Verfahrens (Art. 436 Abs. 3 StPO). Entschädigungsrelevante Aufwendungen des Beschuldigten sind nicht aktenkundig und werden von ihm nicht geltend gemacht. Dem Beschuldigten ist folglich für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren keine Entschädigung zuzusprechen.
Als Zwischenentscheid ist der Rückweisungsbeschluss grundsätzlich nicht mit Beschwerde in Strafsachen anfechtbar (vgl. Urteil 6B_1010/2021 des Bun- desgerichts vom 10. Januar 2022 [BGE 148 IV 155] E. 2.5).
Es wird beschlossen:
Das Urteil des Bezirksgerichts Zürich, 10. Abteilung - Einzelgericht, vom
24. Juni 2022 wird aufgehoben und die Sache zur Durchführung einer mündlichen Hauptverhandlung und zur Fällung eines neuen Entscheids an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Das Berufungsverfahren (SU220046) wird als dadurch erledigt abgeschrieben.
Die zweitinstanzliche Gerichtsgebühr fällt ausser Ansatz.
Dem Beschuldigten wird für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren keine Entschädigung zugesprochen.
Schriftliche Mitteilung an
den Beschuldigten
das Stadtrichteramt Zürich
die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich
die Vorinstanz (unter Rücksendung der Akten).
Obergericht des Kantons Zürich
I. Strafkammer Zürich, 20. Dezember 2022
Der Präsident:
lic. iur. B. Gut
Die Gerichtsschreiberin:
MLaw N. Hunziker
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