Kanton: | ZH |
Fallnummer: | SB230463 |
Instanz: | Obergericht des Kantons Zürich |
Abteilung: | I. Strafkammer |
Datum: | 22.01.2024 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Rechtswidriger Aufenthalt und Widerruf |
Zusammenfassung : | Das Obergericht des Kantons Zürich hat am 22. Januar 2024 in einem Fall von rechtswidrigem Aufenthalt entschieden. Der Beschuldigte A. wurde schuldig gesprochen und mit einer Freiheitsstrafe von 30 Tagen bestraft. Die Probezeit wurde um ein Jahr verlängert, und die Kosten des Verfahrens belaufen sich auf insgesamt CHF 7'748.35. Die Gerichtskosten werden dem Beschuldigten auferlegt. |
Schlagwörter : | Beschuldigte; Urteil; Beschuldigten; Vorinstanz; Person; Kantons; Berufung; Freiheitsstrafe; Verteidigung; Staatsanwalt; Polizei; Obergericht; Staatsanwaltschaft; Personen; Aufenthalt; Entscheid; Gericht; Kontrolle; Schweiz; Winterthur; Sinne; Zusatzstrafe; Recht; Personenkontrolle; Anhaltung; Winterthur/Unterland; Aufenthalts; Probezeit; Obergerichts |
Rechtsnorm: | Art. 135 StPO ; Art. 15 StPO ; Art. 215 StPO ; Art. 391 StPO ; Art. 45 StGB ; Art. 49 StGB ; Art. 82 StPO ; |
Referenz BGE: | 136 I 87; 142 IV 265; |
Kommentar: | - |
Obergericht des Kantons Zürich
I. Strafkammer
Geschäfts-Nr.: SB230463-O/U/cwo
Mitwirkend: Oberrichter lic. iur. B. Gut, Präsident, lic. iur. C. Maira und lic. iur.
S. Volken sowie Gerichtsschreiberin MLaw A. Sieber
Urteil vom 22. Januar 2024
in Sachen
Beschuldigter und Berufungskläger
gegen
vertreten durch Leitenden Staatsanwalt lic. iur. R. Michel,
Anklägerin und Berufungsbeklagte
betreffend rechtswidriger Aufenthalt und Widerruf
Anklage
(Urk. 19)
Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland vom 10. Januar 2023 (Urk. 19) ist diesem Urteil beigeheftet.
Urteil der Vorinstanz
(Urk. 41 S. 19 ff.)
Es wird erkannt:
Der Beschuldigte A. Abs. 1 lit. b AIG.
ist schuldig des rechtswidrigen Aufenthalts im Sinne von Art. 115
Vom Widerruf der mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland vom
15. Januar 2022 ausgefällten bedingten Freiheitsstrafe von 120 Tagen wird abgesehen. Die Probezeit wird stattdessen um ein Jahr verlängert.
Der Beschuldigte wird bestraft mit 30 Tagen Freiheitsstrafe, wovon 2 Tage durch Untersuchungshaft erstanden sind, als Zusatzstrafe zum Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 4. Oktober 2022.
Der Vollzug der Freiheitsstrafe wird nicht aufgeschoben.
Die Entscheidgebühr wird festgesetzt auf:
CHF 1'800.00; die weiteren Kosten betragen: CHF 1'100.00 gebühr für das Vorverfahren;
CHF 4'848.35 Kosten amtliche Verteidigung (inkl. MwSt. und Barauslagen);
Wird auf eine Begründung dieses Entscheids verzichtet, ermässigt sich die Entscheidgebühr auf zwei Drittel.
Die Kosten werden dem Beschuldigten auferlegt. Die Kosten der amtlichen Verteidigung werden indessen einstweilen auf die Gerichtskasse genommen. Eine Nachforderung gemäss Art. 135 Abs. 4 StPO bleibt vorbehalten.
[Mitteilung]
[Rechtsmittel]
BerufungsAnträge:
Des Beschuldigten: (Urk. 43 S. 2; schriftlich)
1. Das Urteil des Bezirksgerichtes Winterthur vom 19. Juli 2023 sei vollumfänglich aufzuheben.
Der Beschuldigte sei von Schuld und Strafe freizusprechen.
Dem Beschuldigten sei für zu Unrecht erstandene Haft eine Genugtuung in der Höhe von Fr. 800.-auszurichten.
Die Kosten der Untersuchung sowie des vorinstanzlichen Gerichtsverfahrens seien vollumfänglich auf die Staatskasse zu nehmen.
Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen (zzgl. MwSt.) zulasten der Staatskasse.
Der Staatsanwaltschaft: (Urk. 47; schriftlich)
Verzicht auf Anschlussberufung und Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils.
Erwägungen:
Verfahrensgang
Der Verfahrensgang bis zum erstinstanzlichen Urteil ergibt sich aus dem angefochtenen Entscheid (Urk. 41 S. 4 f. E. I.). Der Beschuldigte wurde von der Vorinstanz am 19. Juli 2023 gemäss dem vorab wiederholten Urteilsdispositiv schul- dig gesprochen und bestraft (a.a.O., S. 19 ff.). Innert Frist liess er Berufung anmelden und erklären (Urk. 36 und Urk. 43; vgl. dazu auch Urk. 39). Mit Verfügung vom 11. September 2023 ging die BerufungsErklärung an die Staatsanwaltschaft und wurde dieser Frist zur Anschlussberufung gesetzt. Gleichzeitig wurde dem Beschuldigten Frist angesetzt, um das Datenerfassungsblatt sowie diverse Unterlagen zu seinen finanziellen Verhältnissen einzureichen. Dabei wurde er auf sein Recht, die Aussage zu verweigern bzw. die eingeforderten Unterlagen nicht
einzureichen, hingewiesen (Urk. 45). Die Staatsanwaltschaft verzichtete mit Eingabe vom 13. September 2023 auf eine Anschlussberufung (Urk. 47). Mit Verfügung vom 18. September 2023 wurde das Mandat von Rechtsanwalt MLaw X. als amtlicher Verteidiger des Beschuldigten widerrufen (Urk. 48). Mit Eingabe vom 2. Oktober 2023 reichte dieser seine Honorarnote ein und teilte mit, dass er den Beschuldigten fortan nicht mehr vertrete (Urk. 50 f.)
Am 22. Januar 2023 fand die Berufungsverhandlung statt, zu welcher der Beschuldigte erschien (Prot. II S. 6).
Umfang der Berufung
Das vorinstanzliche Urteil steht vollumfänglich zur Disposition. Es gilt das Verschlechterungsverbot (Art. 391 Abs. 2 StPO).
Prozessuales
Allgemeines
Soweit für die tatsächliche und rechtliche Würdigung des eingeklagten Sachverhaltes auf die Erwägungen der Vorinstanz verwiesen wird, so erfolgt dies in Anwendung von Art. 82 Abs. 4 StPO, auch ohne dass dies jeweils explizit Erw?h- nung findet. Weiter ist an dieser Stelle festzuhalten, dass aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör die Pflicht des Gerichts folgt, seinen Entscheid zu begründen. Die Begründung muss kurz die wesentlichen überlegungen nennen, von denen sich das Gericht hat leiten lassen und auf die es seinen Entscheid stätzt. Es darf sich aber auf die wesentlichen Gesichtspunkte beschränken und muss sich nicht ausDrücklich mit jeder tatsächlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinandersetzen und diese widerlegen. Es kann sich mithin auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken. Ein unverhältnismässiger Motivationsaufwand kann nicht eingefordert werden. Ebenso wenig lässt sich Art. 6 Ziff. 1 EMRK in der Weise auslegen, dass eine detaillierte Antwort auf jedes Argument gefordert würde (vgl. dazu statt Weiterer Urteil des Bundesgerichtes 6B_689/2019 vom 25. Oktober 2019 E. 1.5.2., mit Hinweisen).
Prozessuale Vorbringen der Verteidigung vor Vorinstanz
Der Beschuldigte liess unter Hinweis auf die Rechtsprechung zur zulässigkeit von polizeilichen Personenkontrollen und in diesem Zusammenhang produzierte Beweise zunächst in prozessualer Hinsicht geltend machen, die vorliegen- de Strafuntersuchung sei erst aufgrund rechtswidrig erlangter Erkenntnisse eröff- net worden und sämtliche in der Folge erhobenen Beweise seien deshalb unverwertbar im Sinne von 141 Abs. 2 StPO, zumal keine schwere Straftat vorliege. Namentlich seien sämtliche aufgrund der am 5. September 2022 erfolgten, objektiv grundlosen und damit rechtswidrigen polizeilichen Personenkontrolle erlangten Beweise unverwertbar, weshalb ein Freispruch zu erfolgen habe (Urk. 31 S. 1-4).
Nach theoretischen Ausführungen zur zulässigkeit polizeilicher Personenkontrollen hielt die Vorinstanz zum Einwand der Verteidigung fest, im Polizeirapport werde bezüglich der Einleitung des Verfahrens auf den separat erstellten Verhaftsrapport verwiesen, aus dem sich ergebe, dass sich am 5. September 2022 Fahnder der Kantonspolizei Zürich auf einer Fahndungspatrouille befunden hätten, wobei ihnen an der B. -strasse 1 in C. der Beschuldigte aufgefallen sei, der langsam auf einem Elektro-Roller in Richtung C. unterwegs gewesen sei. Daraus ergebe sich, dass der Beschuldigte den Fahndern aufgrund seines Fahrverhaltens aufgefallen sei. Entgegen der Ansicht der Verteidigung sei es nicht so, dass die Kontrolle des Beschuldigten gänzlich ohne Veranlassung erfolgt wäre. An die Verdachtslage dürfe kein allzu strenger Massstab gestellt wer- den, da es Polizeiorganen möglich sein müsse, Personenkontrollen und Identitätsfeststellungen auch tatsächlich durchzuführen, um strafbares Verhalten zu ahnden und verhindern zu können. Die polizeiliche Personenkontrolle vom
5. September 2022 sowie die Einleitung des vorliegenden Verfahrens seien demgemäss rechtmässig erfolgt und die gestützt darauf erhobenen Beweise seien verwertbar (Urk. 41 S. 5 ff. E. II., unter Hinweis auf Urk. 1 S. 1 und Urk. 4/1).
Die tätigkeit der Polizei im Rahmen der Strafverfolgung richtet sich nach der StPO (Art. 15 Abs. 1 StPO). Für die weiteren polizeilichen Aufgaben, insbesondere der sicherheitspolizeilichen Aufgabe der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung, kommt die Polizeigesetzgebung von Bund und Kantonen zur Anwendung. Personenkontrollen können sowohl aus sicherheitspolizeilichen Gr?n- den (zur Gefahrenabwehr) als auch aus strafprozessualen Gründen (im Interesse der Aufklürung einer Straftat) erfolgen. während die Anhaltung nach kantonalem Recht sicherheitspolizeiliche Anhaltspunkte voraussetzt, ist für die Anwendbarkeit der StPO ein strafprozessualer Anfangsverdacht erforderlich, wobei die übergänge fliessend sein können (Urteil des Bundesgerichts 6B_1174/2017 vom 7. März 2018 E. 4.3; BSK StPO-FABBRI/INHELDER, 3. Aufl. 2023, N 3 f. zu Art. 215). Gemäss Art. 215 Abs. 1 StPO kann die Polizei im Interesse der Aufklürung einer Straftat eine Person anhalten, um ihre Identität festzustellen. Einen konkreten Straftatverdacht setzt die polizeiliche Anhaltung nicht voraus. Es genügt, dass nach den Umständen der konkreten Situation ein Zusammenhang der betreffen- den Person mit Delikten als möglich erscheint. Wie jede andere polizeiliche Massnahme muss eine Anhaltung verhältnismässig sein und sich auf sachliche Gr?n- de abzustätzen, wie etwa deliktsträchtige Orte und Zeiten ein Treffen mit gesuchten Personen. Sie darf nicht um ihrer selbst willen, ohne Grund aus beliebigen gar schikanösen Gründen stattfinden (BSK StPO-FABBRI/INHELDER, a.a.O., N 6 f. zu Art. 215; WEDER, in: DONATSCH/LIEBER/SUMMERS/WOHLERS
[Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2020, N 8 zu Art. 215). Das Polizeigesetz des Kantons Zürich vom 23. April 2007 (PolG) setzt ebenfalls objektive Anhaltspunkte für die Personenkontrolle und polizeiliche Anhaltung voraus. Gemäss 21 PolG darf die Polizei eine Person anhalten, deren Identität feststellen und abklären, ob nach ihr nach Fahrzeugen, anderen Gegenständen Tieren, die sie bei sich hat, gefahndet wird, wenn es zur Erfällung ihrer Aufgabe notwendig ist. Für eine Anhaltung nach kantonalem Polizeigesetz genügt daher grundsätzlich, dass die Polizei in Erfüllung ihrer Aufgaben bzw. zur Gefahrenabwehr tätig wird. Die Anhaltung darf aber ebenso wie dieje- nige nach Art. 215 StPO nicht anlassfrei erfolgen (Donatsch, Die Anhaltung im Spannungsfeld von Strafprozessrecht und Polizeirecht, in CG - Collection genevoise, Empreinte d'une pionniüre sur le droit penal, 2021, S. 77 f.). Das Bundesgericht hat in Bezug auf 21 Abs. 1 PolG festgehalten, die Personenidentifikation müsse zur polizeilichen AufgabenErfüllung notwendig sein. Sei die Massnahme nicht notwendig, könne sie von vornherein nicht als gerechtfertigt und verhältnismässig betrachtet werden. Mit dem Begriff der Notwendigkeit werde zum Aus- druck gebracht, dass spezifische Umstände vorliegen Müssten, damit die Polizeiorgane Identitätskontrollen vornehmen dürften. Die Kontrolle dürfe nicht anlassfrei erfolgen. Erforderlich könnten solche etwa sein, wenn sich AufFälligkeiten hinsichtlich von Personen, ?-rtlichkeiten Umständen ergeben und ein entsprechen- des polizeiliches Handeln gebieten. Es Müssten objektive Gründe, besondere Umstände, spezielle Verdachtselemente dazu Anlass geben diese rechtfertigen. Dazu würden eine verworrene Situation, die Anwesenheit in der Nähe eines Tatortes, eine ähnlichkeit mit einer gesuchten Person, Verdachtselemente hinsichtlich einer Straftat und dergleichen Zählen. Identifikationen aus bloss vorgeschobenen Gründen, persönlicher Neugierde andern nichtigen Motiven seien nicht zulässig (BGE 136 I 87 E. 5.2). Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich führte diesbezüglich aus, für eine Personenkontrolle gemäss 21 Abs. 1 PolG Müssten spezifische Umstände vorliegen. Die Feststellung solcher Umstände aufgrund von polizeilichen Erfahrungswerten könne genügen, wenn diese objektiv nachvollziehbar seien. Im frühen Stadium des polizeilichen Handelns dürfe an die Verdachtslage kein allzu strenger Massstab gestellt werden (Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich VB.2020.00014 vom 1. Oktober 2020 E. 2.3 und 5.7.1).
Eine im Rahmen der Gefahrenabwehr präventiv durchgefährte Kontrolle, wie die Verkehrskontrolle im Sinne der Verordnung über die Kontrolle des Strassenverkehrs (SKV) vom 28. März 2007, Gehört zu den sicherheitsbzw. verkehrspolizeilichen Kontrollen (BSK StPO-FABBRI/INHELDER, a.a.O., N 3 zu Art. 215). Kontrollen motorisierter Verkehrsteilnehmer können gemäss Art. 5 Abs. 2 Satz 1 SVK stichprobenweise, systematisch im Rahmen von Grosskontrollen erfolgen. Gemäss Art. 6 SVK ist auf öffentlichen Strassen die Kontrolle von Ausweisen und Bewilligungen jederzeit zulässig. Damit sind die Voraussetzungen für die zulässigkeit von Kontrollen motorisierter Teilnehmer des öffentlichen Strassenverkehrs weit weniger streng als jene für gewöhnliche Personenkontrollen. Namentlich bedarf es hierfür weder besonderer Verdachtsmomente noch objektiv nachvollziehbarer Gründe. Eine sicherheitsbzw. verkehrspolizeiliche Kontrolle und Anhaltung kann jedoch wie im vorliegenden Fall in eine
strafprozessuale Anhaltung übergehen, wenn sich aufgrund erster Feststellungen ein (vager) Tatverdacht ergeben sollte (vgl. hierzu BSK StPO-FABBRI/INHELDER, a.a.O., N 4 und 25 zu Art. 215; ZUBER, in: ALBERTINI/FEHR/VOSER [Hrsg.], Polizeiliche Ermittlungen, Ein Handbuch der Vereinigung der Schweizerischen Kriminalpolizeichefs zum polizeilichen Ermittlungsverfahren gemäss der Schweizerischen Strafprozessordnung, 2008, S. 331 f.).
Der Polizeirapport vom 5. September 2022 verweist auf den separat erstellten Verhaftsrapport (Urk. 1 S. 1), wo Folgendes festgehalten ist (Urk. 4/1 S. 2): während einer Fahndungspatrouille fiel Fahndern der Kantonspolizei Zürich [...] eine Männliche Person auf, welche langsam auf einem Elektro-Roller in Richtung C. fuhr. Dem Lenker, später als A. (geb. tt.06.1983) identifiziert, wur- de die Kontrolle eröffnet. Dabei wurde festgestellt, dass sich dieser rechtswidrig in der Schweiz aufhält. [...] In der Folge wurde der Beschuldigte gleichentags um
12:45 Uhr an der B. -strasse 1 in C.
verhaftet (a.a.O., S. 1). Vorliegend ist von einer Kontrolle eines motorisierten Strassenverkehrsteilnehmers bzw. einer Verkehrskontrolle im Sinne der vorne unter E. I.3.2.4. angestellten Erwägungen auszugehen. Der Beschuldigte war mit seinem Elektro-Roller im öffentlichen Strassenverkehr unterwegs. Entsprechend waren die involvierten Polizisten gestützt auf Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 SVK befugt, ihn anzuhalten, um sein Fahrzeug bzw. das Vorliegen einer allenfalls dafür erforderlichen Fahrbewilligung zu überprüfen. Je nach Motorisierung bedarf auch das führen eines Elektro-Rollers eines führerausweises (vgl. dazu die Vorschriften des Bundesamtes für Strassen, ASTRA, über Zulassung und Betrieb von Motorfahrrdern, langsamen E-Bikes, E- Trottinetten und Elektro-Rikschas, Stand 1. April 2022). Dass die Polizisten nach überPrüfung der Personalien des Beschuldigten und ihrer Feststellung, dass er sich illegal in der Schweiz aufhielt, Weiterungen veranlassten bzw. dass in der Folge gestützt auf diese ersten polizeilichen Ermittlungsergebnisse eine Untersuchung eröffnet wurde, ist nicht zu beanstanden. Der Einwand der Verteidigung verfängt damit nicht.
Der Anklagevorwurf ergibt sich aus der beigehefteten Anklageschrift (Urk. 19
S. 3), darauf kann verwiesen werden. Zusammengefasst wird dem Beschuldigten vorgeworfen, sich vom 16. Januar 2022 bis zum 5. September 2022 rechtswidrig in der Schweiz aufgehalten zu haben. Der Beschuldigte anerkennt den Vorwurf (vgl. dazu letztmals Prot. I S. 7 ff.; Urk. 57 S. 2 ff und Prot. II S. 7) und sein Geständnis deckt sich mit dem Untersuchungsergebnis, namentlich den beigezoge- nen Migrationsakten (vgl. dazu im Einzelnen in Urk. 11/1-20 und Urk. 27). Anlässlich der Berufungsverhandlung erklärte der Beschuldigte explizit, das vorinstanzliche Urteil nicht für unrichtig zu halten und räumte gleichzeitig ein, etwas Falsches gemacht zu haben, wofür man grundsätzlich bestraft werden müsse (Prot. II S. 7). Er stellte sich jedoch weiterhin auf den Standpunkt, dass er als zum Christentum konvertierter Moslem in Schwierigkeiten geraten würde, falls er in den Iran zu- Rückkehren Müsste. Der Beschuldigte bat das Berufungsgericht sodann um Hilfe und beantragte damit sinngemäss das Absehen von einer Verurteilung, damit er in der Schweiz bleiben und die Aufenthaltsbewilligung B beantragen könne (Urk. 57 S. 2 ff.). Der eingeklagte Sachverhalt ist damit erstellt. Die rechtliche Würdigung durch die Vorinstanz ist zutreffend (Urk. 41 S. 8 ff. E. IV.), darauf kann verwiesen werden. Entgegen der Vorbringen des Beschuldigten ist weder die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung noch das sinngemäss beantragte Absehen von einer Verurteilung im Strafgesetzbuch vorgesehen. Ferner kann bei der gegebenen Aktenlage auch nicht im Sinne von Art. 52-54 StGB von einer Strafe abgesehen werden. Mit der Vorinstanz und im Einklang mit den Erwägungen im Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 4. Oktober 2022, wonach im verwaltungsrechtlichen Verfahren alles für den Vollzug der Rückkehrentscheidung Zumutbare vorgekehrt worden sei, die Rückführung einzig am Verhalten des Beschuldigten, namentlich an der fehlenden Mitwirkung des Beschul- digten bei der Beschaffung gültiger Reisepapiere gescheitert sei (Urk. 16/5 S. 7 ff.
E. 6.; Urk. 41 S. 9 E. 5.), ist in diesem Zusammenhang rekapitulierend darauf hinzuweisen, dass die EU-Rückführungsrichtlinie einer Verurteilung des Beschuldigten wegen rechtswidrigen Aufenthalts im Sinne von Art. 115 Abs. 1 lit. b AIG nicht entgegensteht (vgl. BGE 143 IV 249 E. 1.6; Urteile des Bundesgerichts
6B_139/2014 vom 5. August 2014 E. 2. sowie 6B_617/2012 und 6B_618/2012 vom 11. März 2013 E. 1.5). Auch heute noch (Urk. 57 S. 2 ff.) hält sich der Beschuldigte ohne erkennbaren Willen zur Rückkehr zur Kooperation mit den MigrationsBehörden illegal in der Schweiz auf. Anlässlich der Berufungsverhandlung erklärte der Beschuldigte, dass er in der Schweiz nicht auf die iranische Botschaft gegangen sei, da er aufgrund einer Erfahrung mit der iranischen Botschaft in London davon ausgehe, dass sie ihm keine Papiere ausstellen würden (Urk. 57
S. 3). Damit zeigte der Beschuldigte weiterhin keine Bemöhungen, um an gültige Reisedokumente zu gelangen. Schliesslich ist festzuhalten, dass auch die Vertei- digung vor Vorinstanz zum Schuldpunkt keine materiellen Einwände machte (Urk. 31 S. 4 ff.). Damit ist der Beschuldigte des rechtswidrigen Aufenthalts im Sinne von Art. 115 Abs. 1 lit. b AIG schuldig zu sprechen.
Ausgangslage
Der Beschuldigte wurde mit Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich,
II. Strafkammer, vom 4. Oktober 2022 des rechtswidrigen Aufenthalts im Sinne von Art. 115 Abs. 1 lit. b AIG schuldig gesprochen und mit einer unbedingten Freiheitsstrafe von 120 Tagen bestraft (Urk. 16/5). Gleichzeitig wurde die mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis vom 21. März 2019 (Urk. 16/2) bedingt ausgefällte Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu Fr. 10 für vollziehbar erklürt.
Die heute zu beurteilende Delinquenz dauerte vom 16. Januar 2022 bis zum
5. September 2022 und ereignete sich damit vor dem Obergerichtlichen Urteil. Damit liegt ein Fall vollkommener retrospektiver Konkurrenz vor und es ist gemäss Art. 49 Abs. 2 StGB eine Zusatzstrafe zum genannten Urteil auszuFällen. Die Ausfällung einer Zusatzstrafe bedingt, dass die Voraussetzungen der Gesamtstrafe nach Art. 49 Abs. 1 StGB erfüllt sind. Das Gericht kann eine Gesamtstrafe nur ausFällen, wenn es im konkreten Fall für jede einzelne Tat die gleiche Strafart w?hlt. Diese Voraussetzungen gelten auch für die Bildung der Zusatzstrafe bei retrospektiver Konkurrenz. Das Zweitgericht ist im Rahmen der Zusatzstrafenbildung nicht befugt, die Strafart des rechtsKräftigen ersten Entscheides zu ändern (vgl. zum Ganzen statt Weiterer BGE 142 IV 265).
Das Obergericht hatte in seinem Entscheid eine Strafe für den rechtswidrigen Aufenthalt des Beschuldigten vom 22. März 2019 bis zum 23. Mai 2019 sowie vom 24. Mai 2019 bis zum 26. Mai 2021, mithin für rund 26 Monate, auszuFällen. Es stufte das Tatverschulden als nicht mehr leicht ein und setzte die hypothetische Einsatzstrafe auf 100 Tage fest. Es erwog sodann, dass sich aus den persönlichen Verhältnissen des Beschuldigten keine strafzumessungsrelevante Umstände ergüben. Leicht strafErhöhend beRücksichtigte es eine einschlägige Vorstrafe sowie das Nachtatverhalten, entsprechend wurde die Einsatzstrafe um 20 Tage Erhöht. Im Ergebnis erkannte das Gericht wie ausgefährt auf eine Freiheitsstrafe von 120 Tagen (Urk. 16/5 S. 14 ff. E. V.3.).
Aufgrund des heute zu beurteilenden Delikts ist zusätzlich von einer illegalen Aufenthaltsdauer im Jahr 2022 von rund 7.5 Monaten auszugehen. Wie noch auszuführen sein wird, kommt dafür nur die Ausfällung einer Freiheitsstrafe in Frage (vgl. dazu nachfolgend unter E. III.2.2.), weshalb eine Zusatzstrafe zum Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich auszuFällen ist. Nachfolgend ist somit zu prüfen, was das Obergericht des Kantons Zürich am 4. Oktober 2022 für eine Strafe ausgefällt hätte, wenn es das heute zu beurteilende Delikt ebenfalls zu sanktionieren gehabt hätte.
Strafzumessung für den rechtswidrigen Aufenthalt im Jahr 2022
Die Vorinstanz machte zutreffende Ausführungen zum abstrakten Strafrahmen (Urk. 41 S. 13 E. 2.1.), darauf kann verwiesen werden.
Was die Strafart betrifft, kann auf die Erwägungen der Vorinstanz (Urk. 41
S. 14 E. 2.2.) sowie jene des Obergerichts in seinem Urteil vom 4. Oktober 2022 (Urk. 16/5 S. 16 f. E. 5.) verwiesen werden, mit denen weder davon ausgegangen werden kann, dass die Ausfällung einer Geldstrafe den bereits einschlägig vorbestraften Beschuldigten von der Begehung weiterer (einschlägiger) Delikte abhalten würde, noch dass er eine solche überhaupt bezahlen könnte. Damit ist eine (Zusatz-) Freiheitsstrafe auszuFällen.
Die Vorinstanz hat sodann zutreffende Ausführungen zu den Strafzumessungsregeln gemacht (Urk. 41 S. 14 f. E. 2.3.), auf die verwiesen werden kann.
Zur Tatkomponente ist festzuhalten, dass sich der Beschuldigte während einer Dauer von über sieben Monaten illegal in der Schweiz aufhielt, obschon ihm eine Ausreise möglich gewesen wäre. Dabei handelt es sich um eine nicht unerhebliche Zeitspanne, die nur durch die Verhaftung des Beschuldigten beendet wurde. Der Beschuldigte handelte direktvorsätzlich und scheint weiterhin nicht gewillt zu sein, die Schweiz zu verlassen (vgl. Prot. I S. 7 ff. und Urk. 57 S. 2). Das Verschulden ist als noch leicht einzustufen. Die von der Vorinstanz veranschlagte Einsatzstrafe von 50 Tagen Freiheitsstrafe ist angemessen.
Was die täterkomponente betrifft, so kann hinsichtlich des Vorlebens und der persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten auf die vorinstanzlichen Erwägungen bzw. jene im erwähnten Obergerichtsurteil verwiesen werden (Urk. 41
S. 16 E. 2.5.; vgl. Urk. 57 S. 1). Zwei teilweise einschlägige Vorstrafen (Urk. 44 und Urk. 56) und das Delinquieren während der Probezeit sind strafErhöhend zu berücksichtigen. Strafmindernd fällt das Geständnis ins Gewicht. Insgesamt rechtfertigt sich mit der Vorinstanz eine Erhöhung der für die Tatkomponente eingesetzten Einsatzstrafe um 10 Tage.
Auf die Erwägungen der Vorinstanz zur Gesamtstrafe kann verwiesen wer- den (Urk. 41 S. 17 E. 2.6.). Mit ihr ist von einer angemessenen Gesamtstrafe von 150 Tagen Freiheitsstrafe auszugehen. Im Ergebnis ist damit eine Zusatzstrafe zum Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 4. Oktober 2022 von 30 Tagen Freiheitsstrafe auszuFällen. Der Anrechnung der erstandenen Haft steht nichts entgegen, diesbezüglich gelten die Ausführungen der Vorinstanz (a.a.O., S. 17 E. 2.8.).
Vollzug
Der Vollzug der auszuFällenden Zusatzstrafe ist nicht aufzuschieben, diesbezüglich ist auf die vorinstanzlichen Ausführungen zu verweisen (Urk. 41 S. 17 E. VII.).
Widerruf
Die Vorinstanz verzichtete auf einen Widerruf der mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland vom 15. Januar 2022 ausgefällten bedingten Freiheitsstrafe von 120 Tagen und verlängerte stattdessen die Probezeit um ein Jahr (Urk. 41 S. 10 f. E. V.). Aufgrund des Verschlechterungsverbots (vgl. dazu vorne unter E. I.2.) hat es dabei sein Bewenden.
Vorinstanzliches Verfahren
Die im angefochtenen Entscheid getroffene Kosten- und Entschädigungsregelung (Urk. 41 S. 18 E. VIII.) ist ausgangsgemäss zu bestätigen.
Berufungsverfahren
Die Gerichtsgebühr ist auf Fr. 3'600 festzusetzen. Der Beschuldigte unterliegt mit seiner Berufung vollumfänglich. Entsprechend sind ihm die Kosten des Berufungsverfahrens aufzuerlegen, mit Ausnahme derjenigen der amtlichen Verteidigung. Die Kosten der amtlichen Verteidigung in der Höhe von Fr. 959.20 (Urk. 51) sind einstweilen auf die Gerichtskasse zu nehmen. Die Rückzahlungspflicht des Beschuldigten bleibt gemäss Art. 135 Abs. 4 StPO vorbehalten.
Es wird erkannt:
Der Beschuldigte A.
ist schuldig des rechtswidrigen Aufenthalts im
Sinne von Art. 115 Abs. 1 lit. b AIG.
Vom Widerruf der mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland vom 15. Januar 2022 ausgefällten bedingten Freiheitsstrafe von 120 Tagen wird abgesehen.
Die Probezeit wird stattdessen um ein Jahr verlängert.
Der Beschuldigte wird bestraft mit 30 Tagen Freiheitsstrafe, wovon 2 Tage durch Untersuchungshaft erstanden sind, als Zusatzstrafe zum Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 4. Oktober 2022.
Der Vollzug der Freiheitsstrafe wird nicht aufgeschoben.
Das erstinstanzliche Kosten- und Entschädigungsdispositiv (Ziff. 5 und 6) wird bestätigt.
Die zweitinstanzliche Gerichtsgebühr wird festgesetzt auf: Fr. 3'600 ; die weiteren Kosten betragen:
Fr. 959.20 amtliche Verteidigung.
Die Kosten des Berufungsverfahrens, mit Ausnahme der Kosten der amtlichen Verteidigung, werden dem Beschuldigten auferlegt. Die Kosten der amtlichen Verteidigung werden einstweilen auf die Gerichtskasse ge- nommen. Die Rückzahlungspflicht des Beschuldigten bleibt gemäss Art. 135 Abs. 4 StPO vorbehalten.
Mändliche Eröffnung und schriftliche Mitteilung im Dispositiv an
den Beschuldigten (übergeben)
die ehemalige amtliche Verteidigung, Rechtsanwalt MLaw X. (versandt)
die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland (versandt)
das Staatssekretariat für Migration, 3003 Bern (versandt)
sowie in vollständiger Ausfertigung an
den Beschuldigten
die ehemalige amtliche Verteidigung, Rechtsanwalt MLaw X.
die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland
das Staatssekretariat für Migration, 3003 Bern
und nach unbenütztem Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. Erledigung allfälliger Rechtsmittel an
die Vorinstanz
den Justizvollzug des Kantons Zürich, Abteilung Bewährungs- und Vollzugsdienste
die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland (zuhanden der Geschäfts- Nr. B-5/2022/10001677)
das Migrationsamt des Kantons Zürich
die Koordinationsstelle VOSTRA/DNA mit Formular A und Formular B
die Koordinationsstelle VOSTRA/DNA mit dem Formular Löschung des DNA-Profils und Vernichtung des ED-Materials zwecks Bestimmung der Vernichtungs- und Löschungsdaten.
Gegen diesen Entscheid kann bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen erhoben werden.
Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, von der Zustellung der vollständigen, begründeten Ausfertigung an gerechnet, bei der gemäss Art. 35 und 35a BGerR zuständigen strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebe- nen Weise schriftlich einzureichen.
Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.
Obergericht des Kantons Zürich
I. Strafkammer
Zürich, 22. Januar 2024
Der Präsident:
Oberrichter lic. iur. B. Gut
Die Gerichtsschreiberin:
MLaw A. Sieber
Zur Beachtung:
Der/die Verurteilte wird auf die Folgen der Nichtbewährung während der Probezeit aufmerksam gemacht:
Wurde der Vollzug einer Geldstrafe unter Ansetzung einer Probezeit aufgeschoben, muss sie vorerst nicht bezahlt werden. Bewährt sich der/die Verurteilte bis zum Ablauf der Probezeit, muss er/sie die Geldstrafe definitiv nicht mehr bezahlen (Art. 45 StGB); Analoges gilt für die bedingte Freiheitsstrafe.
Eine bedingte Strafe bzw. der bedingte Teil einer Strafe kann im übrigen vollzogen werden (Art. 46 Abs. 1 bzw. Abs. 4 StGB),
wenn der/die Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen Vergehen begeht,
wenn der/die Verurteilte sich der Bewährungshilfe entzieht die Weisungen missachtet.
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
Hier geht es zurück zur Suchmaschine.