Zusammenfassung des Urteils SB220151: Obergericht des Kantons Zürich
In dem vorliegenden Verfahren ging es um die Berufungsklage eines Beschuldigten gegen die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich bezüglich einer Änderung der Sanktion. Es wurden verschiedene Urteile von verschiedenen Gerichten erwähnt, die sich mit der Verwahrung des Beschuldigten befassten. Letztendlich entschied das Obergericht des Kantons Zürich, dass keine nachträgliche Verwahrung angeordnet wird. Der Berufungskläger obsiegte im Hauptpunkt, die Kosten des Verfahrens wurden auf die Gerichtskasse genommen. Der Richter war Oberrichter lic. iur. Spiess, die Gerichtsschreiberin war MLaw Boese.
Kanton: | ZH |
Fallnummer: | SB220151 |
Instanz: | Obergericht des Kantons Zürich |
Abteilung: | II. Strafkammer |
Datum: | 17.11.2022 |
Rechtskraft: | Weiterzug ans Bundesgericht, 6B_93/2023 |
Leitsatz/Stichwort: | Änderung der Sanktion (Rückweisung des Schweizerischen Bundesgerichtes) |
Schlagwörter : | Berufung; Entschädigung; Bundesgericht; Urteil; Berufungskläger; Gerichtshof; Verfahren; Kantons; Revision; Berufungsverfahren; Berufungsklägers; Recht; Verwahrung; Bundesgerichtes; Obergericht; Verteidigung; Genugtuung; Entschädigungs; Entscheid; Erwägungen; Freiheitsentzug; Konventionsverletzung; Revisionsverfahren; Abteilung; Berufungsverfahrens; Oberstaatsanwaltschaft; Verfahrens |
Rechtsnorm: | Art. 122 BGG ;Art. 135 StPO ;Art. 41 EMRK ;Art. 415 StPO ;Art. 436 StPO ;Art. 46 EMRK ;Art. 65 StGB ; |
Referenz BGE: | 142 I 42; |
Kommentar: | Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
Obergericht des Kantons Zürich
II. Strafkammer
Geschäfts-Nr.: SB220151-O/U/mc
Mitwirkend: Oberrichter lic. iur. Spiess, Präsident, Oberrichter lic. iur. Stiefel und lic. iur. Castrovilli sowie Gerichtsschreiberin MLaw Boese
Urteil vom 17. November 2022
in Sachen
Beschuldigter und Berufungskläger
amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt Dr. iur. X. ,
gegen
Anklägerin und Berufungsbeklagte
betreffend Änderung der Sanktion (Rückweisung des Schweizerischen Bun- desgerichtes)
Beschluss der Vorinstanz vom 15. August 2013 (DG120344):
Es wird nachträglich gemäss Art. 65 Abs. 2 StGB die Verwahrung des Gesuchgegners im Sinne von Art. 64 Abs. 1 lit. b StGB angeordnet.
Die Entscheidgebühr wird festgesetzt auf:
Fr. 1'000.--; die weiteren Auslagen betragen: Fr. 17'647.20 Gutachten
Fr. amtliche Verteidigung (ausstehend) Allfällige weitere Auslagen bleiben vorbehalten.
Die Kosten des gerichtlichen Verfahrens werden dem Gesuchgegner auferlegt, jedoch sofort und definitiv abgeschrieben.
Die Kosten der amtlichen Verteidigung werden auf die Staatskasse genommen; vorbehalten bleibt eine Nachforderung gemäss Art. 135 Abs. 4 StPO. Über die Höhe der Kosten der amtlichen Verteidigung wird separat entschieden.
Berufungsanträge im ersten Berufungsverfahren (SB130395):
Des amtlichen Verteidigers des Berufungsklägers: (Urk. 60 S. 2)
Das Gesuch um nachträgliche Anordnung einer Verwahrung sei in Aufhebung des Entscheids des Bezirksgerichts Zürich, 9. Abteilung, vom 15. August 2013, abzuweisen.
Die Kosten des Verfahrens seien auf die Staatskasse zu nehmen.
Des Vertreters der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich: (Urk. 70 S. 1)
Die Berufung sei abzuweisen und der Entscheid des Bezirksgerichts Zürich,
9. Abteilung, vom 15. August 2013 betreffend die nachträgliche Anordnung
der Verwahrung des Berufungsklägers gemäss Art. 65 Abs. 2 StGB i.V.m. Art. 64 Abs. 1 lit. b StGB sei zu bestätigen.
Urteil des Obergerichtes des Kantons Zürich vom 16. Juli 2014 (SB130395):
(Urk. 86)
Es wird erkannt:
Über den Verurteilten A. net.
wird nachträglich die Verwahrung angeord-
Die zweitinstanzliche Gerichtsgebühr wird festgesetzt auf: Fr. 3'000.– ; die weiteren Kosten betragen:
Fr. amtliche Verteidigung (ausstehend)
Die Kosten des Berufungsverfahrens, mit Ausnahme der Kosten der amtlichen Verteidigung, werden dem Verurteilten auferlegt, ihm jedoch erlassen.
Die Kosten der amtlichen Verteidigung werden auf die Gerichtskasse ge- nommen. Über die Höhe der Kosten der amtlichen Verteidigung wird separat entschieden.
Urteil des Bundesgerichtes vom 16. Dezember 2015 (6B_896/2014):
(Urk. 93)
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Dr. X. , wird aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 3'000.– entschädigt.
Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 2. November 2021 (38958/16):
(Urk. 97)
For these reasons, the court, unanimously,
Declares the application admissible;
Holds that there has been a violation of Article 5 § 1 of the Convention;
Holds that there has been a violation of Article 7 § 1 of the Convention;
Holds that there has been a violation of Article 4 of Protocol No. 7 to the Convention;
Holds
that the respondent State is to pay the applicant, within three months from the date on which the judgment becomes final in accordance with Article 44 § 2 of the Convention, the following amounts, to be converted into the currency of the respondent State at the rate applicable at the date of settlement:
EUR 40,000 (forty thousand euros), plus any tax that may be chargeable, in respect of non-pecuniary damage;
EUR 6,000 (six thousand euros), plus any tax that may be chargeable to the applicant, in respect of costs and expenses;
that from the expiry of the above-mentioned three months until settlement simple interest shall be payable on the above amounts at a rate equal to the marginal lending rate of the European Central Bank during the default period plus three percentage points;
Dismisses the remainder of the applicant's claim for just satisfaction.
Urteil des Bundesgerichtes vom 2. März 2022 (6F_5/2022):
(Urk. 99)
Das Revisionsgesuch im Sinne von Art. 122 BGG wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, Ziff. 1 des Dispositivs des Urteils 6B_896/2014 vom
16. Dezember 2015 wird aufgehoben und neu gefasst:
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 16. Juli 2014 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Es werden keine Kosten erhoben.
Rechtsanwalt Dr. X. wird eine Entschädigung von Fr. 3'000.– aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.
Berufungsanträge im zweiten Berufungsverfahren (SB220151):
Des amtlichen Verteidigers des Berufungsklägers: (Urk. 126 S. 2)
Der Beschluss des Bezirksgerichtes Zürich, 9. Abteilung, vom 15. August 2013 sei aufzuheben.
Es sei festzustellen, dass der Berufungskläger vom 9. Oktober 2010 bis 14. März 2022 ungesetzlich in Haft war.
Dem Berufungskläger sei für die ungesetzliche Haft eine angemessene Genugtuung zuzusprechen, jedenfalls nicht unter CHF 500'000.
Eventualiter sei der Berufungskläger mit einer gutachterlich zu berech- nenden Summe für die infolge der ungesetzlichen Inhaftierung aufgrund des Erwerbsausfalls erlittene Vermögenseinbusse und finanzielle Schlechterstellung, insbesondere auch im Sozialversicherungsbereich (AHV, BVG, 3. Säule), zu entschädigen.
Die Kosten des Verfahrens, inkl. jene der amtlichen Verteidigung, seien auf die Staatskasse zu nehmen.
Der Vertreterin der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich: (Urk. 130 S. 3)
Auf die Anträge des Berufungsklägers gemäss den Ziffern 2-5 seiner Berufungserklärung sei nicht einzutreten, eventualiter seien diese abzuweisen.
Erwägungen:
Prozessverlauf bis zum Urteil des Bundesgerichtes vom 2. März 2022
Hinsichtlich des Prozessverlaufs bis zum Urteil des Bundesgerichtes vom 2. März 2022 kann vorab auf die Erwägungen in jenem Urteil verwiesen werden (Urk. 99
S. 2). Kurz zusammengefasst ist nochmals festzuhalten, dass der Berufungskläger mit Urteilen des Geschworenengerichtes des Kantons Zürich vom 6./12. Mai 1993 und 4. Juli 1995 wegen Mordes, vorsätzlicher Tötung und weiterer Delikte zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt wurde und keine Verwahrung angeordnet wurde.
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich stellte im November 2009 beim Obergericht des Kantons Zürich ein Gesuch um nachträgliche Verwahrung des Berufungsklägers. Das Bezirksgericht Zürich ordnete mit Urteil vom 15. August 2013 die nachträgliche Verwahrung des Berufungsklägers an. Die dagegen erhobene Berufung wurde vom Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, mit Urteil vom 16. Juli 2014 abgewiesen, und das Bundesgericht wies die gegen dieses obergerichtliche Urteil erhobene Beschwerde mit Urteil vom 16. Dezember 2015 ab.
Der Berufungskläger erhob dagegen EMRK-Beschwerde. Der Gerichtshof für Menschenrechte stellte mit Urteil vom 2. November 2021 eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 1 EMRK, Art. 7 Ziff. 1 EMRK und Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls fest, sprach dem Berufungskläger eine Entschädigung von EUR 40'000.– und Kosten-
und Auslagenersatz im Betrage von EUR 6'000.– zulasten der Schweiz zu, im Übrigen lehnte er eine Entschädigung ab. Gestützt auf dieses Urteil des Gerichtshofs ersuchte der Berufungskläger das Bundesgericht mit einem Revisionsgesuch um Aufhebung seines Urteils vom 16. Dezember 2015.
Urteil des Bundesgerichtes vom 2. März 2022
Das Bundesgericht stellte in seinem Urteil vom 2. März 2022 fest, dass die dem Berufungskläger zugesprochene Entschädigung gemäss Art. 41 EMRK nicht geeignet sei, die Folgen der festgestellten Verletzung auszugleichen. Es bedürfe realiter einer Beseitigung der Verletzung. Das Bundesgericht hob das Urteil vom
16. Dezember 2015 auf, hiess die Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichtes des Kantons Zürich vom 16. Juli 2014 gut und wies die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück (Urk. 99). Auf das Entschädigungsbegehren trat es nicht ein. Auch auf das Haftentlassungsgesuch des Berufungsklägers ist das Bundesgericht nicht eingetreten und hielt fest, dieses werde vom Obergericht des Kantons Zürich zu entscheiden sein.
3. Prozessverlauf im vorliegenden Berufungsverfahren
Nach Durchführung des Schriftenwechsels betreffend das Haftentlassungsgesuch wurde der Berufungskläger mit Präsidialverfügung vom 14. März 2022 aus der Sicherheitshaft entlassen (Urk. 109).
Mit dem Einverständnis der Parteien (Urk. 120 und Urk. 121) wurde mit Präsidialverfügung vom 16. Mai 2022 die schriftliche Durchführung des Berufungsverfahrens angeordnet (Urk. 122). Der Berufungskläger erstattete die Berufungsbegrün- dung innert erstreckter Frist mit Eingabe vom 6. Juli 2022 (Urk. 126), die Oberstaatsanwaltschaft ihre Berufungsantwort mit Eingabe vom 15. Juli 2022
(Urk. 130). Die Stellungnahme des Beschuldigten im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels erfolgte mit Eingabe vom 20. September 2022 (Urk. 133), die Oberstaatsanwaltschaft verzichtete auf eine weitere Stellungnahme (Urk. 136).
Beweisanträge wurden keine gestellt. Das Verfahren erweist sich als spruchreif.
Aufhebung der nachträglichen Verwahrung
In seinem Urteil vom 2. März 2022 hat das Bundesgericht festgehalten, das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte vom 2. November 2021 sei seit dem 2. Februar 2022 endgültig. Die darin festgestellte Verletzung von Art. 5 Ziff. 1 EMRK, Art. 7 Ziff. 1 EMRK und Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls sei realiter zu beseitigen. Die Entschädigung gemäss Art. 41 EMRK sei in casu nicht geeignet, die Folgen der festgestellten Verletzung auszugleichen, weil der Verurteilte infolge des Urteils des Bundesgerichtes vom 16. Dezember 2015 nach wie vor im Massnahmevollzug mit entsprechenden Freiheitsbeschränkungen bleibe. Um die Verletzung realiter zu beseitigen, sei die Änderung des ursprünglichen Entscheids auf dem Weg der Revision notwendig (Urk. 99 S. 7 f.). Entsprechend hob das Bundesgericht sein eigenes Urteil vom 16. Dezember 2015 und dasjenige des Obergerichtes des Kantons Zürich vom 16. Juli 2014 auf. Es stützte sich dabei auf die in
Art. 46 Abs. 1 EMRK verankerte Verpflichtung der Vertragsparteien, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Die Befolgung dieses Urteils bedeutet vorliegend, dass betreffend den Berufungskläger keine nachträgliche Verwahrung angeordnet werden darf. Entsprechend den Erwägungen des Bundesgerichtes besteht kein Spielraum für die Anordnung einer nachträglichen Verwahrung. Im vorliegenden Berufungsverfahren ist daher in Abweichung vom vorinstanzlichen Entscheid des Bezirksgerichtes Zürich, 9. Abteilung, vom 15. August 2013 keine nachträgliche Verwahrung des Berufungsklägers A. anzuordnen.
Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche
Standpunkte der Parteien
Der Berufungskläger beantragt im vorliegenden Verfahren die Zusprechung einer angemessenen Genugtuung für ungesetzliche Haft, jedenfalls nicht unter
Fr. 500'000.–. Eventualiter sei ihm eine gutachterlich zu berechnende Entschädigung für Erwerbsausfall und finanzielle Schlechterstellung, insbesondere auch im Sozialversicherungsbereich, zuzusprechen. Zur Begründung liess er geltend machen, die ungesetzliche Haft habe von 9. Oktober 2010 bis 14. März 2022 rund 11 ½ Jahre gedauert. Das Bundesgericht sei in seinem Urteil vom 2. März 2022 zum Schluss gekommen, auf das Begehren um Ausrichtung einer Entschädigung für ungesetzlichen Freiheitsentzug sei nicht einzutreten, da eine Entschädigung aufgrund einer Konventionsverletzung im Verfahren vor dem Gerichtshof zu verlangen sei. Habe der Gerichtshof die beantragte Entschädigung nach Art. 41 EMRK inhaltlich geprüft, könne darauf im Revisionsverfahren nicht mehr zurückgekommen werden. Das Bundesgericht spreche dabei ausdrücklich vom Revisionsverfahren. Daher entfalte das bundesgerichtliche Urteil für das nach Aufhebung des Bundesgerichtsurteils vom 16. Dezember 2015 und des Obergerichtsurteils vom 16. Juli 2014 wiederaufgenommene vorliegende Verfahren keine Bin- dungswirkung. Das Bundesgericht halte denn auch fest, Art. 415 StPO sei nach revisionsrechtlicher Aufhebung eines Entscheids sinngemäss anwendbar. Gemäss Art. 415 Abs. 2 StPO richten sich die Ansprüche der beschuldigten Person auf Entschädigung Genugtuung nach Art. 436 Abs. 4 StPO. Demzufolge habe die verurteilte Person Anspruch auf Genugtuung und Entschädigung für ausgestandenen Freiheitsentzug, sofern dieser nicht an eine Sanktion angerechnet
werden könne. Die Regelung, wonach in einem wiederaufgenommenen Verfahren weitere Entschädigungen zugesprochen werden können, stehe nicht in einem Wi- derspruch zu Art. 41 EMRK. Die vom Gerichtshof zugesprochene Entschädigung decke nur die Konventionsverletzung ab, nicht aber die durch den Freiheitsentzug erlittene Unbill. Dies zeige bereits ein Vergleich zwischen den zugesprochenen EUR 40'000.– für 11 Jahre ausgestandenen Freiheitsentzug und dem Ergebnis nach schweizerischer Praxis, gemäss welcher pro ungerechtfertigt rechtswidrig erlittenem Hafttag eine Entschädigung von grundsätzlich Fr. 200.– zugesprochen werde, mit Senkung des Ansatzes bei länger dauernder Haft. Hätte das Bundesgericht die Rechtslage im Urteil vom 16. Dezember 2015 zutreffend gewürdigt, wäre der Berufungskläger bereits damals entlassen worden. Der ungesetzliche Freiheitsentzug hätte dann nur 5 Jahre gedauert, und er wäre nicht mit Fr. 40'000.– abgespeist worden. Es liesse sich durch nichts rechtfertigen, den Berufungskläger in seinen Ansprüchen einzig deshalb zu beschneiden, weil die schweizerischen Gerichte nicht in der Lage gewesen seien, das Gesetz richtig anzuwenden (Urk. 126 S. 3 ff.). Das Bundesgericht habe im Urteil vom 2. März 2022 lediglich entschieden, dass auf das im Revisionsverfahren gestellte Entschädigungsbegehren nicht eingetreten werden könne. Vorliegend gehe es aber um das wiederaufgenommene Verfahren, in welchem die Berufung gegen ein Urteil des Bezirksgerichtes Zürich, 9. Abteilung, vom 15. August 2014 zu behandeln sei. Im wiederaufgenommenen Verfahren würden sich Ansprüche der beschuldigten Person auf Entschädigung und Genugtuung nach Art. 436 Abs. 4 StPO richten (Urk. 133 S. 2).
Für den Fall, dass ihm eine Genugtuung unter Fr. 500'000.– zugesprochen wird, machte der Berufungskläger eine Entschädigung für Erwerbsausfall und Rentenschaden geltend. Im Hinblick auf die Bezifferung dieses Schadens beantragte er die Einholung eines Gutachtens (Urk. 126 S. 6 f.).
Die Staatsanwaltschaft stellt sich auf den Standpunkt, das Bundesgericht habe in seinem Urteil vom 2. März 2022 erwogen, das Rechtsbegehren auf Zusprechung einer über den vom Gerichtshof zugesprochenen Betrag hinausgehenden Entschädigung sei mit der klaren Rechtslage nicht vereinbar. Eine Entschädigung aufgrund einer Konventionsverletzung sei im Verfahren vor dem Gerichtshof zu verlangen und im Revisionsverfahren vor Bundesgericht nicht mehr möglich. Die Revision eröffne nicht den Weg, eine vom Gerichtshof beurteilte Sache neu zu beurteilen. Das Bundesgericht sei auf das Revisionsbegehren nur soweit eingetreten, als es die Revision für notwendig erachtet habe, um die mass- nahmerechtliche Wirkung (Massnahmevollzug mit entsprechender Freiheitsbeschränkung) realiter zu beseitigen. Das Bundesgericht habe verbindlich entschie- den, dass dem Berufungskläger keine über die vom Gerichtshof zugesprochene Entschädigung hinausgehende finanzielle Abgeltung zukomme (Urk. 130 S. 2). Betreffend die finanziellen Schäden sei das Bundesgericht auf das Revisionsgesuch nicht eingetreten und habe damit implizit den Verfahrensgegenstand des weideraufgenommenen Berufungsverfahrens eingeschränkt (Urk. 130 S. 3).
Erwägungen des Bundesgerichtes im Urteil vom 2. März 2022
Das Bundesgericht hat in seinem Urteil vom 2. März 2022 zur geltend gemachten Entschädigung erwogen, der Gesuchsteller begehre eine weitergehende Entschädigung als ihm der Gerichtshof zugesprochen habe, was mit der klaren Rechtslage nicht vereinbar sei (Urk. 99 S. 5 E. 2.3.1.). Wenn der Gerichtshof nach Feststellung einer Konventionsverletzung die beantragte Entschädigung nach Art. 41 EMRK inhaltlich geprüft habe, könne darauf im Revisionsverfahren nicht mehr zurückgekommen werden. Das Bundesgericht ist deshalb auf das im Revisionsverfahren erneut gestellte Entschädigungsbegehren nicht eingetreten (Urk. 99 S. 6 f. E. 2.3.4.).
Würdigung
In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob die vom Berufungskläger geltend gemachten Genugtuungsbzw. Entschädigungsforderungen überhaupt Gegenstand materieller Prüfung bilden können, ob die Erwägungen des Bundesgerichtes betreffend die Zivilforderungen auch im vorliegenden Verfahren Geltung beanspruchen und auf diese nicht einzutreten ist.
Dazu sind die Erwägungen des Bundesgerichtes im Detail zu analysieren. Festzuhalten ist vorweg, dass der Berufungskläger bereits vor Bundesgericht geltend gemacht hatte, der ungesetzliche Freiheitsentzug könne mit den zugesprochenen EUR 40'000.– nicht abgegolten sein, es könne sich dabei nur um eine Entschädigung für die EMRK-Verletzung handeln. Er habe Anspruch auf Zusprechung einer weiteren Entschädigung auf der Berechnungsgrundlage von Fr. 100'000.– pro Jahr ungesetzlichen Freiheitsentzugs (Urk. 99 S. 4 E. 2.1.). Das Bundesgericht führte dazu explizit und vorbehaltlos aus, die Geltendmachung einer weiteren Entschädigung sei mit der klaren Rechtslage nicht vereinbar (Urk. 99 S. 5 E. 2.3.1.). Wenn der Gerichtshof trotz Bestehens eines innerstaatlichen Entschädigungsanspruchs eine gerechte Entschädigung zuspreche, so tue er dies nicht komplementär zu den Ansprüchen des nationalen Rechts, sondern entscheide
abschliessend über alle auf der Konventionsverletzung beruhenden Schäden. Ob neben einer zugesprochenen Entschädigung gemäss Art. 41 EMRK eine darüber hinausgehende Entschädigung geltend gemacht werden könne, richte sich nach innerstaatlichem Recht. Gemäss letzterem sei eine Entschädigung aufgrund einer Konventionsverletzung im Verfahren vor dem Gerichtshof zu verlangen und im Revisionsverfahren vor Bundesgericht nicht mehr möglich (Urk. 99 S. 6 E. 2.3.4.). Das Bundesgericht verwies auf BGE 142 I 42. Diesem Entscheid ist zu entnehmen, dass für die Revision eines bundesgerichtlichen Urteils kein Anlass mehr bestehe, wenn der EGMR eine die Folgen der Konventionsverletzung ausgleichende Entschädigung gesprochen habe. Möglich bleibe eine Revision nur insoweit, als sie geeignet und erforderlich sei, um über die finanzielle Abgeltung hinaus fortbestehende, konkrete nachteilige Auswirkungen der Konventionsverletzung im Rahmen des ursprünglichen Verfahrens zu beseitigen (BGE 142 I 42 S. 45 E. 2.2.2.). Das Bundesgericht wies vorliegend darauf hin, dass die bis zur Totalrevision der Bundesrechtspflege geltenden Subsidiaritäten zu einem manchmal befremdlichen Hin und Her zwischen Bern und Strassburg geführt hätten und sich als problematisch erwiesen hätten (Urk. 99 S. 6 E. 2.3.4.). Aufgrund der aktuell geltenden Rechtslage sei auf das erneut gestellte Entschädigungsbegehren des Berufungsklägers nicht einzutreten, da die Entschädigung gemäss Art. 41 EMRK vom Gerichtshof inhaltlich geprüft worden sei. Den bundesgerichtlichen Erwägungen ist klar zu entnehmen, dass Gegenstand des Revisionsverfahrens einzig die andauernde nachteilige Wirkung der Konventionsverletzung bildete, welche darin bestand, dass der Berufungskläger nach wie vor im Massnahmenvollzug mit entsprechenden Freiheitsbeschränkungen verblieb (Urk. 99 S. 7 E. 3.1.). Deshalb ist im vorliegenden Verfahren neu über die Anordnung der nachträglichen Verwahrung zu entscheiden, welche auf dem Bundesgerichtsentscheid vom 16. Dezember 2015 und dem Obergerichtsurteil vom 16. Juli 2014 beruhte, welche Urteile mit dem bundesgerichtlichen Revisionsentscheid aufgehoben wurden, unter Rückweisung zur neuen Beurteilung. Der bundesgerichtlichen Begründung für das Nichteintreten auf das Entschädigungsbegehren des Berufungsklägers ist zu entnehmen, dass kein Raum besteht für die Geltendmachung von weitergehen- den Entschädigungsansprüchen vor innerstaatlichen Gerichten. Solche müssen vielmehr vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geltend gemacht
werden, was vorliegend auch erfolgte. Gestützt auf die für das vorliegende Verfahren bindenden Erwägungen des Bundesgerichts, welches keinen Vorbehalt für die Geltendmachung weitergehender Entschädigungen im innerstaatlichen Verfahren anbrachte, ist auf die Zivilforderungen des Berufungsklägers nicht einzutreten. Der Einwand des Berufungsklägers, dass die bundesgerichtlichen Erwägungen sich nur auf die Geltendmachung von weiteren Entschädigungen im Rahmen eines Revisionsverfahrens beziehen, nicht jedoch auf ein wiederauflebendes Berufungsverfahren nach Aufhebung des ursprünglichen Berufungsentscheides, fin- det keine Grundlage in den klaren bundesgerichtlichen Erwägungen. Das Bun- desgericht hielt ausdrücklich fest, die vom Gerichtshof zugesprochenen Entschä- digungen seien relativ niedrig, sodass die häufig überzogenen Erwartungen der Beschwerdeführer meist enttäuscht würden (Urk. 99 S. 6 E. 2.3.3.). Der Gerichtshof habe für den rechtswidrigen Freiheitsentzug eine aus seiner Sicht gerechte Entschädigung im Sinne von Art. 41 EMRK zugesprochen (Urk. 99 S. 6 E. 2.3.4.). Damit ist auch die vom Berufungskläger vertretene Auffassung widerlegt, dass die vom Gerichtshof zugesprochene Entschädigung nur die Konventionsverletzung betreffe, nicht den Freiheitsentzug. Indem das Bundesgericht im Bewusstsein, dass die vom Gerichtshof zugesprochenen Entschädigungssummen relativ niedrig sind, erwog, dass das Geltendmachen einer weitergehenden Entschädigung über die vom Gerichtshof zugesprochene mit der klaren Rechtslage nicht vereinbar sei (Urk. 99 S. 5 E. 2.3.1.), ist auch die Argumentation der Verteidigung nicht stichhaltig, dass eine Genugtuung für rechtswidrigen Freiheitsentzug nach schweizerischer Praxis viel höher ausgefallen wäre, als die vom Gerichtshof zugesprochene Entschädigung. Es bleibt dabei, dass auch im vorliegenden Verfahren auf die Genugtuungs- und Schadenersatzbegehren des Berufungsklägers nicht einzutreten ist.
Da keine nachträgliche Verwahrung anzuordnen ist, obsiegt der Berufungskläger im Hauptpunkt vollumfänglich. Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens DG120344 und des ersten Berufungsverfahrens SB130395, inklusive derjenigen
der amtlichen Verteidigung beider Verfahren, sind daher auf die Gerichtskasse zu nehmen.
Auch im vorliegenden zweiten Berufungsverfahren obsiegt der Berufungskläger im Hauptpunkt des Absehens von der Anordnung einer nachträglichen Verwahrung und unterliegt bezüglich der geltend gemachten Zivilansprüche. Da diese nicht materiell zu beurteilen waren und mit dem Nichteintretensentscheid kein grosser Aufwand verbunden war, erscheint es trotz Unterliegens des Berufungsklägers in diesem Punkt gerechtfertigt, die gesamten Kosten des vorliegenden Berufungsverfahrens auf die Gerichtskasse zu nehmen.
Der amtliche Verteidiger bezifferte seinen Aufwand für das vorliegende Berufungsverfahren auf 8,7 Stunden (Urk. 127), wobei zu berücksichtigen ist, dass der Aufwand für die Stellungnahme zur Berufungsantwort vom 20. September 2022 und die Nachbesprechung des Urteils mit dem Klienten noch nicht darin enthalten sind. Es erscheint daher angemessen, dem amtlichen Verteidiger unter Einbezug dieser Aufwendungen eine Entschädigung von pauschal Fr. 2'600.– (entsprechend rund 11 Stunden inkl. MwSt.) zuzusprechen.
Es wird erkannt:
Es wird keine nachträgliche Verwahrung des Berufungsklägers A. geordnet.
an-
Auf das Genugtuungs- und Schadenersatzbegehren des Berufungsklägers wird nicht eingetreten.
Die Gerichtsgebühren für das vorinstanzliche Verfahren DG120344, das Berufungsverfahren SB130395 und das vorliegende Berufungsverfahren fallen ausser Ansatz.
Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens DG120344, des Berufungsverfahrens SB130395 sowie des vorliegenden Berufungsverfahrens, inklusive derjenigen der amtlichen Verteidigung in allen drei Verfahren, werden auf die Gerichtskasse genommen.
Rechtsanwalt Dr. iur. X. wird für seine Bemühungen als amtlicher Verteidiger im vorliegenden Berufungsverfahren eine Entschädigung von
Fr. 2'600.– aus der Gerichtskasse zugesprochen.
Schriftliche Mitteilung an
die amtliche Verteidigung im Doppel für sich und zuhanden des Berufungsklägers
die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich
die Justizdirektion des Kantons Zürich
und nach unbenütztem Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. Erledigung allfälliger Rechtsmittel an
die Vorinstanz
in die Akten des Geschworenengerichts des Kantons Zürich betreffend Geschäfts-Nr. 3/92 sowie Nr. 3/95)
die Justizdirektion des Kantons Zürich.
Gegen diesen Entscheid kann bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen erhoben werden.
Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, von der Zustellung der vollständigen, begründeten Ausfertigung an gerechnet, bei der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen.
Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.
Obergericht des Kantons Zürich
II. Strafkammer Zürich, 17. November 2022
Der Präsident:
Oberrichter lic. iur. Spiess
Die Gerichtsschreiberin:
MLaw Boese
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