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Urteil Obergericht des Kantons Zürich (ZH)

Kopfdaten
Kanton:ZH
Fallnummer:SB210609
Instanz:Obergericht des Kantons Zürich
Abteilung:I. Strafkammer
Obergericht des Kantons Zürich Entscheid SB210609 vom 09.01.2023 (ZH)
Datum:09.01.2023
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Mehrfacher Diebstahl etc. und Widerruf
Zusammenfassung : Der Privatkläger A.________ hat gegen das Urteil des Bezirksgerichts Küssnacht Berufung eingelegt, jedoch diese nicht fristgerecht erklärt, weshalb die Berufung als durch Verzicht erledigt abgeschrieben wurde. Die Gerichtskosten der zweiten Instanz in Höhe von Fr. 300.00 gehen zu Lasten des Staates. Gegen diese Entscheidung kann innerhalb von 30 Tagen Beschwerde beim Bundesgericht in Lausanne eingereicht werden. Der Richter in diesem Fall war Kantonsgerichtspräsident Dr. Urs Tschümperlin.
Schlagwörter : Beschuldigte; Berufung; Landes; Landesverweisung; Beschuldigten; Urteil; Verteidigung; Gericht; Staatsanwalt; Entscheid; Staatsanwaltschaft; Verfahren; Menschenhandel; Sinne; Kantons; Dossier; Vorinstanz; Verfahrens; Bundesverwaltungsgericht; Freiheitsstrafe; Verteidiger; Gericht; Vollzug; Urteils; Opfer; Menschenhandels; Befehl; Ausschreibung
Rechtsnorm:Art. 10 StPO ; Art. 126 StGB ; Art. 135 StPO ; Art. 186 StGB ; Art. 24 StGB ; Art. 25 BV ; Art. 379 StPO ; Art. 391 StPO ; Art. 4 EMRK ; Art. 404 StPO ; Art. 428 StPO ; Art. 66a StGB ; Art. 84 StPO ;
Referenz BGE:141 IV 249; 145 I 308;
Kommentar:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Entscheid

Obergericht des Kantons Zürich

I. Strafkammer

Geschäfts-Nr.: SB210609-O/U/cwo

Mitwirkend: die Oberrichter lic. iur. S. Volken, Präsident, lic. iur. P. Castrovilli und Ersatzoberrichter lic. iur. T. Vesely sowie der Gerichtsschreiber MLaw S. Zuber

Urteil vom 9. Januar 2023

in Sachen

A. ,

Beschuldigter und Berufungskläger

amtlich verteidigt durch Rechtsanwältin Dr. iur. X1. ,

gegen

Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland,

vertreten durch Leitenden Staatsanwalt lic. iur. R. Michel,

Anklägerin und Berufungsbeklagte

betreffend mehrfacher Diebstahl etc. und Widerruf

Berufung gegen ein Urteil des Bezirksgerichts Bülach, II. Abteilung, vom 7. September 2021 (DG210030)

Anklage:

Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland vom 28. Juli 2021 ist diesem Urteil beigeheftet (Urk. 23).

Urteil der Vorinstanz:

(Urk. 52 S. 39 ff.)

Es wird erkannt:

  1. Der Beschuldigte hat sich wie folgt schuldig gemacht:

    • mehrfacher Diebstahl im Sinne von Art. 139 Ziff. 1 StGB (Dossier 1, 2, 6 und 7)

    • einfache Körperverletzung im Sinne von Art. 123 Ziff. 1 StGB (Dossier 5)

    • Gehilfenschaft zu Hausfriedensbruch im Sinne von Art. 186 StGB in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 StGB (Dossier 4)

    • Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte im Sinne von Art. 285 Ziff. 1 StGB (Dossier 3)

    • rechtswidrige Einreise im Sinne von Art. 115 Abs. 1 lit. a AIG in Verbindung mit Art. 5 lit. a AIG (Dossier 8)

  2. Der Beschuldigte wird im folgenden Punkt freigesprochen:

    - Tätlichkeiten im Sinne von Art. 126 Abs. 1 StGB (Dossier 1)

  3. Der mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt vom 12. Juli 2020 gewährte bedingte Strafvollzug für eine Freiheitsstrafe von 60 Tagen (abzüglich 2 Tage erstandene Haft) wird widerrufen.

  4. Der mit Strafbefehl des Ministère public du canton de Neuchâtel vom 8. August 2020 gewährte bedingte Strafvollzug für eine Freiheitsstrafe von 180 Tagen (abzüglich 2 Tage erstandene Haft) wird widerrufen.

  5. Der mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn vom 7. September 2020 gewährte bedingte Strafvollzug für eine Freiheitsstrafe von 60 Tagen (abzüglich 2 Tage erstandene Haft) wird widerrufen.

  6. Der Beschuldigte wird unter Einbezug der unter Ziff. 3 bis 5 widerrufenen Strafen bestraft mit 24 Monaten Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe, dies teilweise im Zusatz zum Strafbefehl der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn vom 7. September 2020.

    Die bis anhin erstandene Haft von 273 Tagen wird angerechnet.

  7. Die Freiheitsstrafe ist zu vollziehen.

  8. Der Beschuldigte wird in Anwendung von Art. 66a bis StGB für 7 Jahre des Landes verwiesen.

  9. Es wird die Ausschreibung der Landesverweisung im Schengener Informationssystem angeordnet.

  10. Die folgenden mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland vom 14. Juli 2021 beschlagnahmten und beim forensischen Institut des Kantons Zürich aufbewahrten Gegenstände werden dem Beschuldigten nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils herausgegeben:

    • Jeans Shorts, grau, Marke H&M, A014'085'677

    • UE Boom Box, schwarz, A014'085'688

      Werden diese Gegenstände nicht innert 30 Tagen ab Rechtskraft des Urteils herausverlangt, wird der Verzicht angenommen.

  11. Die Schadenersatzbegehren der Privatkläger 1 und 2 werden auf den Zivilweg verwiesen.

  12. Die Genugtuungsbegehren der Privatkläger 1 und 2 werden vollumfänglich abgewiesen.

  13. Die Entscheidgebühr wird festgesetzt auf:

    Fr. 4'500.–; die weiteren Auslagen betragen:

    Fr. 3'370.– Auslagen Vorverfahren (inkl. Entschädigung Zeuge) Fr. 10'000.– amtl. Verteidigungskosten (inkl. MWST)

    Allfällige weitere Auslagen bleiben vorbehalten.

    Wird auf eine schriftliche Begründung des Urteils verzichtet, so reduziert sich die Entscheidgebühr um einen Drittel.

  14. Die Kosten der Untersuchung und des gerichtlichen Verfahrens werden dem Beschuldigten auferlegt; davon ausgenommen sind die Kosten der amtlichen Verteidigung, welche einstweilen und unter dem Vorbehalt von Art. 135 Abs. 4 StPO von der Gerichtskasse über- nommen werden.

  15. (Mitteilungen.)

  16. (Rechtsmittel.)

Berufungsanträge:

  1. Der Verteidigung des Beschuldigten: (Urk. 125 S. 2)

    1. Das vorliegende Verfahren sei bis zum materiellen Entscheid über Asyl und Wegweisungsvollzug zu sistieren;

    1. Eventualiter sei der Berufungskläger als Menschenhandelsopfer zu identifizieren;

    2. Es seien Dispositiv Ziffern 8 und 9 des vorinstanzlichen Urteils bezüglich der nicht obligatorischen Landesverweisung für 7 Jahre sowie Ausschreibung der Landesverweisung im Schengener Informationssystem aufzuheben;

    3. Die Kosten des Verfahrens und der amtlichen Verteidigung seien der Berufungsbeklagten aufzuerlegen.

  2. Der Staatsanwaltschaft:

    (Urk. 60 und Urk. 130 sinngemäss) Bestätigung des vorinstanzlichen Entscheids.

    Erwägungen:

    1. Prozessuales

  1. Verfahrensgang

    1. Bezüglich des Verfahrensgangs bis zum Entscheid der Vorinstanz kann zunächst auf die Erwägungen im angefochtenen Entscheid verwiesen werden (Urk. 52 S. 5). Zu ergänzen bleibt, dass der Beschuldigte rund zwei Wochen vor Durchführung der erstinstanzlichen Hauptverhandlung einen Wechsel der amtlichen Verteidigung beantragte, was die Vorinstanz mit Verfügung vom

      1. September 2021 abwies (Urk. 28; Urk. 32).

    2. Mit Urteil vom 7. September 2021 sprach die Vorinstanz den Beschuldigten unter anderem des mehrfachen Diebstahls, der einfachen Körperverletzung sowie der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamten schuldig und verwies ihn für 7 Jahre des Landes. Sodann ordnete die Vorinstanz die Ausschreibung der Landesverweisung im Schengener Informationssystem an (Urk. 52 S. 39 f.). Das vorinstanzliche Urteil wurde gleichentags mündlich eröffnet (Prot. I S. 29 ff.). In- nert Frist meldete die damalige amtliche Verteidigung mit Eingabe vom

      17. September 2021 Berufung gegen dieses Urteil an (Urk. 40). Gleichentags liess der Beschuldigte eine Mandatsanzeige sowie Berufungsanmeldung durch seine erbetene Verteidigerin einreichen, mit dem Ersuchen, den amtlichen Vertei- diger aus seinem Mandat zu entlassen (Urk. 41/1-2). Der vorinstanzliche Verfahrensleiter bestätigte mit Schreiben vom 20. September 2021 den Eingang der Mandatsanzeige betreffend erbetene Verteidigung, wies die Entlassung des amtlichen Verteidigers aber ab (Urk. 42).

    3. Nach Zustellung des begründeten Entscheids reichte der vormalige amtliche Verteidiger am 8. Dezember 2021 fristgerecht die Berufungserklärung ein (Urk. 51; Urk. 55). Nachdem den Parteien Frist angesetzt worden war, um Anschlussberufung zu erheben, verzichtete die Staatsanwaltschaft mit Eingabe vom

      3. Januar 2022 sinngemäss auf Anschlussberufung und beantragte die Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils (Urk. 58; Urk. 60). Die Privatkläger liessen sich nicht vernehmen. Am 18. Januar 2022 liess der Beschuldigte durch seine erbete- ne Verteidigerin eine weitere Berufungserklärung einreichen (Urk. 64). Hierauf wurde dem amtlichen Verteidiger Frist angesetzt, um zur Frage seiner Entlassung aus dem amtlichen Mandat Stellung zu nehmen (Urk. 66). Nach entsprechendem Ersuchen des amtlichen Verteidigers wurde dieser mit Präsidialverfügung vom

      15. März 2022 aus dem Mandat entlassen und die bisher erbeten tätige Vertreterin neu als amtliche Verteidigung bestellt (Urk. 70; Urk. 86).

    4. Am 15. März 2022 hiess die Verfahrensleitung des hiesigen Gerichts so- dann das Haftentlassungsgesuch des Beschuldigten gut und ordnete die Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug per 7. April 2022 zuhanden der Migrationsbehörden an (Urk. 75-77; Urk. 88).

    5. Am 22. März 2022 wurden die Parteien zur Berufungsverhandlung vom

      25. Mai 2022 vorgeladen, zu welcher der Beschuldigte in Begleitung seiner amtlichen Verteidigerin erschienen ist (Urk. 91; Prot. II S. 12). Auf Antrag und im Einverständnis mit der Verteidigung wurde das Verfahren nach Durchführung der persönlichen Befragung des Beschuldigten bis zum Vorliegen des Entscheids des Bundesverwaltungsgerichts im parallel geführten Asylverfahren sistiert (Urk. 112; Urk. 115; Prot. II S. 13 ff.).

    6. Am 19. Juli 2022 erging das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in genannter Sache (Urk. 117). Mit Präsidialverfügung vom 2. September 2022 wur- de sodann dem Beschuldigten Gelegenheit eingeräumt, die Berufung schriftlich zu begründen und letztmals Beweisanträge zu stellen (Urk. 120). Die Berufungsanträge sowie deren Begründung wurden am 2. November 2022 vom Beschuldigten innert Frist erstattet (Urk. 125). Die Staatsanwaltschaft ihrerseits verzichtete mit der Eingabe vom 23. November 2022 auf eine Stellungnahme sowie auf das Stellen von Beweisanträgen (Urk. 130). Das Verfahren erweist sich damit als spruchreif (zum Antrag auf Sistierung des Verfahrens vgl. nachfolgend Ziffer 3).

  2. Umfang der Berufung

    1. Gemäss den Anträgen der Parteien sind im Berufungsverfahren nicht angefochten Dispositiv-Ziffern 1 bis 7 und 10 bis 14 (Urk. 60; Urk. 64; Urk. 125; Urk. 130). Vom Eintritt der Rechtskraft dieser Anordnungen ist vorab Vormerk zu nehmen (Art. 404 StPO). Die Berufung des Beschuldigten richtet sich noch einzig gegen die angeordnete Landesverweisung sowie deren Ausschreibung im Schengener Informationssystem (Dispositiv-Ziffern 8 und 9). Nachdem der Beschuldigte als einzige Partei Berufung führt, steht die Überprüfung des angefochtenen Urteils unter dem Vorbehalt des Verschlechterungsverbots (Art. 391 Abs. 2 StPO).

    2. Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass sich die urteilende Instanz nicht mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzen respektive jedes einzelne Vorbringen widerlegen muss. Die Berufungsinstanz kann sich auf die für

      ihren Entscheid wesentlichen Punkte beschränken (vgl. BGE 141 IV 249 E. 1.3.1 S. 253; BGer 1B_242/2020 vom 2. September 2020 E. 2.2.).

  3. Antrag auf Sistierung des Verfahrens

    1. Die Verteidigung beantragte, das vorliegende Verfahren sei bis zum Vorliegen eines materiellen Entscheids über Asyl und den Wegweisungsvollzug zu sistieren (Urk. 125 S. 2). Im Wesentlichen wurde das Sistierungsgesuch mit dem Umstand, dass der Beschuldigte vom Staatssekretariat für Migration (SEM) als potenzielles Opfer von Menschenhandel identifiziert worden sei und er deshalb – gestützt auf das Europarats-Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels sowie der EMRK – nicht aus der Schweiz weggewiesen werden könne, begründet (Urk. 125 S. 5 f.). Die Staatsanwaltschaft äusserte sich hierzu nicht (Urk. 130).

    2. Am 19. Juli 2022 erging das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, worin dieses den Entscheid des SEM aufgehoben und ihn zur Neubeurteilung zurückgewiesen hat (Urk. 117 S. 27). Zwar besteht keine Bindungswirkung an einen in der gleichen Sache ergangenen ausländerrechtlichen Entscheid, jedoch darf die Strafbehörde derartige Entscheide nicht kommentarlos übergehen und hat die daraus gewonnenen Erkenntnisse nach Art. 10 Abs. 2 StPO frei zu würdigen (BGer 6B_105/2021 vom 29. November 2021 E. 3.5.3 m.w.H.). Wie nachfolgend aufgezeigt wird, obsiegt der Beschuldigte mit seinem Hauptantrag (Aufhebung der obligatorischen Landesverweisung). Vor diesem Hintergrund erscheint eine Sistierung des Verfahrens nicht angebracht (Art. 379 StPO i.V.m. Art. 314 Abs. 1 lit. b StPO).

  4. Eventualantrag: Identifikation des Beschuldigen als Menschenhandelsopfer

    1. Eventualiter beantragte die Verteidigung, der Beschuldigte sei als Menschenhandelsopfer zu identifizieren. Als Begründung brachte sie vor, gestützt auf die EMRK sei es Aufgabe jeder staatlichen Stelle, die von einem mutmasslichen Menschenhandelssachverhalt Kenntnis erhalte, diesen zu untersuchen. Die Behörden seien bei Verdacht auf Menschenhandel sodann verpflichtet, die be-

      troffene Person von Amtes wegen als Menschenhandelsopfer zu identifizieren (Urk. 125 S. 6 f.). Auch zu diesem Antrag äusserte sich die Staatsanwaltschaft nicht (Urk. 130).

    2. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Entscheid erwogen, der Beschuldigte habe nachvollziehbar – weil er Opfer von Menschenhändlern geworden sei –, seine wahre Identität verschwiegen. Damit hat es den Entscheid an das SEM zur pflichtgemässen Sachverhaltsabklärung und Ermessensabwägung sowie ernsthaften Prüfung eines Selbsteintrittes aus humanitären Gründen zur Neubeurteilung zurückgewiesen (Urk. 117 S. 25 ff.). Es wird damit – wie dies im Übrigen die Verteidigung auch selber erwähnte (Urk. 125 S. 6) – dem SEM obliegen, sich weiter mit der Frage einer Menschenhandelsopfer-Identifikation ausei- nanderzusetzen. Der heutige Entscheid fällt im Sinne des Beschuldigten aus (in- dem von einer Landesverweisung abgesehen wird). Mit Blick auf den Grundsatz der Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung ergibt sich somit für das hiesige Gericht keine Veranlassung, sich (auch noch) antragsgemäss zu äussern.

  1. Landesverweisung

      1. Die Staatsanwaltschaft beantragte aufgrund des angeklagten Raubs erstinstanzlich die Anordnung einer obligatorischen Landesverweisung (Urk. 23 S. 8; Urk. 34 S. 13). Die Vorinstanz würdigte diesen Anklagepunkt in rechtlicher Hinsicht jedoch als Diebstahl. In der Folge sprach sie den Beschuldigten unter anderem des mehrfachen Diebstahls, der einfachen Körperverletzung und der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte schuldig und ordnete eine fakultative Landesverweisung gemäss Art. 66a bis StGB von 7 Jahren sowie die Ausschreibung im Schengener Informationssystem an (Urk. 52 S. 39 f.).

      2. Die appellierende Verteidigung wendete dagegen zusammengefasst ein, die Anordnung einer (fakultativen) Landesverweisung erweise sich als unverhältnismässig. Der Beschuldigte sei Opfer von Menschenhandel geworden, weshalb er habe delinquieren müssen. Er trage von der erlittenen Gewalt in den Fängen der Menschenhändler tiefe seelische Wunden davon. Vor diesem Hintergrund seien seine privaten Interessen am Verbleib in der Schweiz schwer zu gewichten. Fer-

    ner seien beim Beschuldigten Vollzugshindernisse zu beachten. So habe der junge Beschuldigte bei einer Rückkehr nach Algerien keinerlei Schutz vor erneuter Ausbeutung und Gewaltandrohung durch Menschenhändler. Seine Landesverweisung würde damit gegen zwingendes Völkerrecht, namentlich das Refoulement-Verbot (Art. 3 und Art. 4 EMRK) verstossen. Auch kämen dem Beschuldigten – als Opfer von Menschenhandel – verschiedene Rechte aus dem Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels zu (Urk. 125 S. 14 ff.). Die Staatsanwaltschaft beantragte die Bestätigung der vorinstanzlich ausgesproche- nen Landesverweisung (Urk. 60).

    2. Gemäss Art. 66a bis StGB kann das Gericht einen Ausländer für 3-15 Jahre des Landes verweisen, wenn er wegen eines Verbrechens Vergehens, das keine Katalogtat gemäss Art. 66a StGB darstellt, zu einer Strafe verurteilt wird. Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen von Art. 66abis StGB zutreffend dargelegt (Urk. 52 S. 34). Es kann vollumfänglich darauf verwiesen werden.

      1. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 19. Juli 2022 erwogen, dass der Beschuldigte gemäss eigenen Angaben bereits als Kind Opfer von Menschenhandel geworden sei und ihn mutmasslich die Täter in verschiedenen europäischen Ländern immer wieder aufgespürt und ihn unter Druck gesetzt hätten. Gemäss einem bei den Akten liegenden Bericht des Danish Center against Human Trafficking vom Juli 2019 könne er nicht in sein Heimatland zurück, da ihm dort der Tod drohe aufgrund von Dingen, die ihm die Menschenhändler angetan hätten, da jene im Islam verboten seien. Der Beschuldigte habe daher, so das Bundesverwaltungsgericht weiter, um seine wahre Identität zu verschweigen und damit eine Rückschaffung zu vermeiden, absichtlich in verschie- denen europäischen Ländern und in der Schweiz unterschiedliche Identitäten und Geburtsdaten angegeben. Sein Verhalten wie auch seine Motivation seien damit konsistent und nachvollziehbar erklärt und lägen insbesondere in der Angst und im psychischen Zustand des Beschuldigten begründet. Ihm sei offensichtlich in Europa noch kein adäquater Schutz gewährt worden. Das von der Vorinstanz (SEM) herangezogene Altersgutachten sei ausserdem nicht zum Beweis der Volljährigkeit geeignet, womit der Sachverhalt im Alterspunkt unvollständig erstellt sei.

        Der Sachverhalt müsse deshalb von der Vorinstanz (SEM) pflichtgemäss abgeklärt werden, weshalb das Verfahren zurückgewiesen werde (Urk. 125 S. 25 ff.).

      2. In diesen Erwägungen werden zwei Punkte augenfällig. Einerseits anerkennt das Bundesverwaltungsgericht den Beschuldigten – ebenso wie bereits die Vorinstanz – als potenzielles Opfer von Menschenhandel an. Andererseits lässt es offen, ob der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Asylgesuchseinreichung volljährig war. Beide Punkte will das Bundesverwaltungsgericht durch das SEM umfassend abgeklärt wissen. Die vom Bundesverwaltungsgericht ebenfalls gerügte überlange Verfahrensdauer ist vorliegend hingegen nicht von Bedeutung.

      3. Das Strafgericht hat sich bei der Anordnung einer Landesverweisung mit allen wesentlichen Aspekten auseinanderzusetzen, so auch mit Garantien des zwingenden Völkerrechts. Dabei ist, wie von Art. 66a Abs. 2 StGB vorgesehen, eine Interessenabwägung vorzunehmen. Liegt sodann bei der (obligatorischen) Landesverweisung ein definitives Vollzugshindernis vor, so ist auf die Anordnung derselben zu verzichten (BGer 6B_45/2020 vom 14. März 2022 E. 3.3.3. m.w.H.). Dies hat auch vorliegend zu gelten. Eine fakultative Landesverweisung wäre per se unverhältnismässig, lägen Hindernisse für deren Vollzug vor.

      4. Wie bereits oben ausgeführt, ist das hiesige Gericht zwar nicht an den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts gebunden, darf diesen aber auch nicht einfach kommentarlos übergehen (BGer a.a.O.). Nach den einlässlichen Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts liegen sodann auch hinreichend Anhaltspunkte vor, wonach der Beschuldigte ein Opfer von Menschenhandel geworden ist (vgl. Urk. 117 S. 25 ff.). Dieser Umstand hat vorliegend bei der Interessenabwägung eine gewichtige Rolle zu spielen, weil damit dem Beschuldigen gewisse Bleiberechte gestützt auf das Völkerrecht zukommen. So etwa Art. 14 Abs. 1 des Übereinkommens vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels (SR 0.311.543; ÜBM), welcher dem Opfer einen gewissen Schutz gewährt und die Verfügbarkeit des Opfers für die Strafuntersuchung sicherstellt (vgl. BGE 145 I 308 E. 3.4.2 und BGer 2C_483/2021 vom 14. Dezember 2021 E. 4.3).

        Ebenfalls ist das Non-refoulement-Gebot (Art. 25 Abs. 2 BV, Art. 5 Abs. 1 AsylG; Art. 33 der Flüchtlingskonvention, [FK; SR 0.142.30]; Art. 3 des UNÜbereinkommen gegen Folter [SR 0.105]) zu beachten, welches verhindert, dass dem Beschuldigte in Algerien erneut Gefahr durch die Menschenhändler droht.

      5. Nach dem Gesagten liegen nach jetziger Aktenlage genügend Umstände vor, die einer Landesverweisung des Beschuldigten und dessen Rückkehr nach Algerien entgegenstehen. Im Ergebnis ist deshalb von einer fakultativen Landesverweisung im Sinne von Art. 66a bis StGB abzusehen. Damit wird auch eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem hinfällig.

  2. Kosten- und Entschädigungsfolgen

  1. Die Kosten im Rechtsmittelverfahren tragen die Parteien nach Massgabe ihres Obsiegens Unterliegens (Art. 428 Abs. 1 StPO). Der Beschuldigte obsiegt mit seinem (Haupt-)Antrag auf Aufhebung der Landesverweisung sowie der Ausschreibung der Landesverweisung im Schengener Informationssystem. Ausgangsgemäss sind daher die Kosten des Berufungsverfahrens auf die Gerichtskasse zu nehmen.

  2. Der vormalige amtliche Verteidiger des Beschuldigten wurde im Berufungsverfahren bereits mit insgesamt Fr. 802.25 entschädigt (Urk. 86).

    1. Die per 15. März 2022 bestellte amtliche Verteidigerin des Beschuldigten, Rechtsanwältin Dr. iur. X1. (Urk. 86), machte für ihre Aufwendungen im Berufungsverfahren mit der Honorarnote vom 17. Mai 2022 Fr. 3'728.60 (Urk. 106)

      und mit der Honorarnote vom 24. Mai 2022 (Poststempel 2. November 2022; Urk. 127/10) Fr. 10'286.30, insgesamt Fr. 14'014.90 (inkl. Barauslagen und MwSt.), geltend. Diese Honorarforderung erscheint überhöht. Die amtliche Vertei- digung stellte beispielsweise alleine zur Erstellung der Berufungsbegründung vom

      2. November 2022 (Urk. 125) 20.5 Std. in Rechnung (Urk. 127/10). Ebenfalls fallen zusätzlich über 10 Std. Aktenstudium auf. Dieser Aufwand ist dem Verfahren nicht angemessen, zumal sich die Berufung noch einzig gegen die angeordnete Landesverweisung richtet.

    2. Gemäss § 17 Abs. 1 lit. b AnwGebV beträgt die Grundgebühr für die Führung eines Strafprozesses einschliesslich Vorbereitung des Parteivortrags und

      Teilnahme an der Hauptverhandlung vor den Bezirksgerichten in der Regel Fr. 1'000.– bis Fr. 28'000.–. Gemäss § 18 Abs. 1 AnwGebV wird die Gebühr im Berufungsverfahren grundsätzlich nach den für die Vorinstanz geltenden Regeln bemessen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es zulässig, für das Anwaltshonorar Pauschalen vorzusehen.

    3. Die geltend gemachte Honorarforderung, die sich in der Mitte des Gebührenrahmens bewegt, ist zu kürzen und es ist – angesichts des betriebenen Aufwands und der Wichtigkeit des Falles – eine Pauschale im unteren Bereich des genannten Gebührenrahmens festzusetzen. Eine pauschale Entschädigung für das Berufungsverfahren in der Höhe von Fr. 7'681.10 (inkl. Fr. 131.95 Auslagen und Fr. 549.15 MwSt.) erscheint vorliegend angemessen.

Es wird beschlossen:

  1. Es wird festgestellt, dass das Urteil des Bezirksgerichts Bülach, II. Abteilung, vom 7. September 2021 wie folgt in Rechtskraft erwachsen ist:

    Es wird erkannt:

    1. Der Beschuldigte hat sich wie folgt schuldig gemacht:

      • mehrfacher Diebstahl im Sinne von Art. 139 Ziff. 1 StGB (Dossier 1, 2, 6 und 7)

      • einfache Körperverletzung im Sinne von Art. 123 Ziff. 1 StGB (Dossier 5)

      • Gehilfenschaft zu Hausfriedensbruch im Sinne von Art. 186 StGB in Verbin- dung mit Art. 24 Abs. 1 StGB (Dossier 4)

      • Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte im Sinne von Art. 285 Ziff. 1 StGB (Dossier 3)

      • rechtswidrige Einreise im Sinne von Art. 115 Abs. 1 lit. a AIG in Verbindung mit Art. 5 lit. a AIG (Dossier 8)

    2. Der Beschuldigte wird im folgenden Punkt freigesprochen:

      • Tätlichkeiten im Sinne von Art. 126 Abs. 1 StGB (Dossier 1)

    3. Der mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt vom 12. Juli 2020 gewährte bedingte Strafvollzug für eine Freiheitsstrafe von 60 Tagen (abzüglich 2 Tage erstandene Haft) wird widerrufen.

    4. Der mit Strafbefehl des Ministère public du canton de Neuchâtel vom 8. August 2020 gewährte bedingte Strafvollzug für eine Freiheitsstrafe von 180 Tagen (abzüglich 2 Tage erstandene Haft) wird widerrufen.

    5. Der mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn vom 7. September 2020 gewährte bedingte Strafvollzug für eine Freiheitsstrafe von 60 Tagen (abzüglich 2 Tage erstandene Haft) wird widerrufen.

    6. Der Beschuldigte wird unter Einbezug der unter Ziff. 3 bis 5 widerrufenen Strafen bestraft mit 24 Monaten Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe, dies teilweise im Zusatz zum Strafbefehl der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn vom 7. September 2020.

      Die bis anhin erstandene Haft von 273 Tagen wird angerechnet.

    7. Die Freiheitsstrafe ist zu vollziehen. 8.-9. (…)

      1. Die folgenden mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland vom

        14. Juli 2021 beschlagnahmten und beim forensischen Institut des Kantons Zürich aufbewahrten Gegenstände werden dem Beschuldigten nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils herausgegeben:

        • Jeans Shorts, grau, Marke H&M, A014'085'677

        • UE Boom Box, schwarz, A014'085'688

          Werden diese Gegenstände nicht innert 30 Tagen ab Rechtskraft des Urteils herausverlangt, wird der Verzicht angenommen.

      2. Die Schadenersatzbegehren der Privatkläger 1 und 2 werden auf den Zivilweg verwiesen.

      3. Die Genugtuungsbegehren der Privatkläger 1 und 2 werden vollumfänglich abgewiesen.

      4. Die Entscheidgebühr wird festgesetzt auf:

        Fr. 4'500.–; die weiteren Auslagen betragen:

        Fr. 3'370.– Auslagen Vorverfahren (inkl. Entschädigung Zeuge) Fr. 10'000.– amtl. Verteidigungskosten (inkl. MWST)

        Allfällige weitere Auslagen bleiben vorbehalten.

      5. Die Kosten der Untersuchung und des gerichtlichen Verfahrens werden dem Beschuldigten auferlegt; davon ausgenommen sind die Kosten der amtlichen Verteidigung, welche einstweilen und unter dem Vorbehalt von Art. 135 Abs. 4 StPO von der Gerichtskasse übernommen werden.

      6. (Mitteilungen.)

      7. (Rechtsmittel.)

  2. Schriftliche Mitteilung mit nachfolgendem Urteil.

Es wird erkannt:

  1. Von der Anordnung einer nicht obligatorischen Landesverweisung im Sinne von Art. 66a bis StGB des Beschuldigten A. wird abgesehen.

  2. Die zweitinstanzliche Gerichtsgebühr fällt ausser Ansatz. Weitere Kosten betragen:

  3. Die Kosten des Berufungsverfahrens, einschliesslich derjenigen beider amtlicher Verteidigungen, werden auf die Gerichtskasse genommen.

  4. Schriftliche Mitteilung in vollständiger Ausfertigung an

    • die amtliche Verteidigung im Doppel für sich und zuhanden des Beschuldigten

    • die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland Schriftliche Mitteilung im Dispositiv an

    • die Privatklägerschaft

      (Eine begründete Urteilsausfertigung gemäss Art. 84 Abs. 4 StPO wird den Privatklägern nur zugestellt, sofern sie dies innert 10 Tagen nach Erhalt des Dispositiv verlangen.)

      und nach unbenütztem Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. Erledigung allfälliger Rechtsmittel an

    • die Vorinstanz

    • das Migrationsamt des Kantons Zürich

    • die Koordinationsstelle VOSTRA/DNA mit Formular A und B

    • die Koordinationsstelle VOSTRA/DNA, mittels Formular Löschung des DNA-Profils und Vernichtung des ED-Materials zwecks Bestimmung der Vernichtungs- und Löschungsdaten

    • die Kantonspolizei Zürich, KDM-ZD, mit separatem Schreiben (§ 54a Abs. 1 PolG)

  5. Gegen diesen Entscheid kann bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen erhoben werden.

Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, von der Zustellung der vollständigen, begründeten Ausfertigung an gerechnet, bei der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen.

Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes .

Obergericht des Kantons Zürich

I. Strafkammer Zürich, 9. Januar 2023

Der Präsident:

lic. iur. S. Volken

Der Gerichtsschreiber:

MLaw S. Zuber

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

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