Zusammenfassung des Urteils SB210579: Obergericht des Kantons Zürich
Das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich in der Strafsache gegen den Beschuldigten A. erging am 6. August 2020. Der Beschuldigte wurde für die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern ohne Bewilligung gemäss Art. 117 Abs. 1 AIG schuldig befunden. Er wurde zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je CHF 30.- verurteilt, deren Vollzug aufgeschoben wurde. Die Probezeit wurde auf 2 Jahre festgesetzt. Die Gesamtkosten des Verfahrens betrugen CHF 8'464.35, wovon der Beschuldigte die Kosten auferlegt bekam. Die Entscheidungsgebühr betrug CHF 1'500.00. Die Verurteilung erfolgte durch den Richter lic. iur. Ch. Prinz. Die Person, die verloren hat, ist männlich (d).
Kanton: | ZH |
Fallnummer: | SB210579 |
Instanz: | Obergericht des Kantons Zürich |
Abteilung: | I. Strafkammer |
Datum: | 05.05.2022 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Grobe Verletzung der Verkehrsregeln |
Schlagwörter : | Beschuldigte; Beschuldigten; Polizei; Video; Verkehr; Verkehrs; Polizeifahrzeug; Strasse; Strassen; Verteidigung; Staatsanwaltschaft; Verkehr; Urteil; Berufung; Fahrzeug; Geschwindigkeit; Recht; Fahrbahn; Strassenverkehr; Volvo; Manöver; Überholen; Verkehrsregel; Record; Geldstrafe; Sinne |
Rechtsnorm: | Art. 1 SVG ;Art. 10 StPO ;Art. 10 VRV ;Art. 102 SVG ;Art. 106 SVG ;Art. 106 StGB ;Art. 12 StGB ;Art. 13 DSG ;Art. 15 StPO ;Art. 299 StPO ;Art. 34 SVG ;Art. 34 StGB ;Art. 35 SVG ;Art. 404 StPO ;Art. 42 StGB ;Art. 424 StPO ;Art. 426 StPO ;Art. 428 StPO ;Art. 44 StGB ;Art. 45 StGB ;Art. 90 SVG ; |
Referenz BGE: | 101 IV 72; 102 IV 113; 109 IV 134; 129 IV 155; 131 IV 133; 134 IV 1; 134 IV 60; 135 IV 188; 136 IV 55; 141 IV 249; 142 IV 93; 89 IV 146; |
Kommentar: | Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
Obergericht des Kantons Zürich
I. Strafkammer
Geschäfts-Nr.: SB210579-O/U/jv
Mitwirkend: Oberrichter lic. iur. Ch. Prinz, Präsident, Oberrichterin lic. iur.
M. Knüsel und Ersatzoberrichter lic. iur. P. Castrovilli sowie Gerichtsschreiber lic. iur. M. Keller
Urteil vom 5. Mai 2022
in Sachen
Anklägerin und Berufungsklägerin
gegen
Beschuldigter und Berufungsbeklagter verteidigt durch Rechtsanwalt lic. iur. X.
betreffend grobe Verletzung der Verkehrsregeln
Anklage:
Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland vom 15. März 2021 (Urk. 25) ist diesem Urteil beigeheftet.
Urteil der Vorinstanz:
(Urk. 48 S. 8 f.)
Es wird erkannt:
Vom Vorwurf der groben Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG
i.V.m. Art. 35 Abs. 2 SVG und Art. 35 Abs. 4 SVG wird der Beschuldigte freigesprochen.
Die Gerichtsgebühr fällt ausser Ansatz; die übrigen Kosten werden auf die Gerichtskasse genommen.
Dem Beschuldigten wird eine Prozessentschädigung von Fr. 4’217.– (inkl. Auslagen und MwSt) für anwaltliche Verteidigung aus der Gerichtskasse zugesprochen.
(Mitteilungen.)
(Rechtsmittel.)
Berufungsanträge:
(Prot. II S. 6 f.)
Der Staatsanwaltschaft:
(Urk. 52 S. 2 f. und Urk. 72 S. 1, teilweise sinngemäss)
Das Urteil des Bezirksgerichts Bülach, Einzelgericht, vom 7. Juli 2021 sei vollumfänglich aufzuheben und der Beschuldigte sei der vorsätzlichen groben Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG in Verbindung mit Art. 35 Abs. 2 SVG und Art. 35 Abs. 4 SVG schuldig zu sprechen.
Der Beschuldigte sei mit einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr. 220.– (entsprechend Fr. 4'400.–) sowie mit einer Busse von Fr. 1'100.– zu bestrafen.
Dem Beschuldigten sei der bedingte Vollzug der Gelstrafe zu gewähren, unter Ansetzung einer Probezeit von 2 Jahren.
Bei schuldhafter Nichtbezahlung der Busse sei eine Ersatzfreiheitsstrafe von 5 Tagen festzusetzen.
Dem Beschuldigten seien die Kosten für das Vor-, Haupt- und Berufungsverfahren aufzuerlegen.
Der Verteidigung des Beschuldigten: (Urk. 73 S. 1)
Auf weitere Beweiserhebungen sei zu verzichten.
In Abweisung der Berufung sei der Berufungsbeklagte freizusprechen, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Staatskasse für beide Instanzen.
Erwägungen:
Verfahrensgang
Am 24. April 2020 rapportierte die Kantonspolizei Zürich gegen den Beschuldigten wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln (Urk. 1; Urk. 3). Die Staatsanwaltschaft erliess hierauf am 29. Juni 2020 einen Strafbefehl, gegen welchen der Beschuldigte fristgerecht Einsprache erhob (Urk. 8-10). Nach Durchführung von weiteren Untersuchungshandlungen erfolgte am 15. März 2021 die Anklage beim vorinstanzlichen Gericht (Urk. 25). Zum weiteren Verfahrensgang bis zum Urteil der Vorinstanz kann auf die Erwägungen im angefochtenen Entscheid verwiesen werden (Urk. 48 S. 3).
Gegen das am 7. Juli 2021 mündlich im Dispositiv eröffnete Urteil der Vorinstanz meldete die Staatsanwaltschaft mit Eingabe vom 13. Juli 2021 innert Frist
Berufung an (Prot. I S. 16 f.; Urk. 38). Die schriftlich begründete Fassung des vorinstanzlichen Urteils wurde der Staatsanwaltschaft sowie dem Verteidiger je am 8. November 2021 zugestellt (Urk. 47/1-2). Am 17. November 2021 ging fristgemäss die Berufungserklärung der Staatsanwaltschaft samt Beweisantrag ein (Urk. 52). In der Folge nahm die Verteidigung des Beschuldigten zum Beweisantrag der Staatsanwaltschaft Stellung und verzichtete mit Eingabe vom
6. Dezember 2021 auf Erhebung einer Anschlussberufung (Urk. 61).
Mit Präsidialverfügung vom 10. Dezember 2021 wurde festgehalten, dass über den Beweisantrag (Zeugenbefragung des Polizeibeamten S. Bühler) anlässlich der Berufungsverhandlung entschieden werde (Urk. 64). Unter dem
24. Februar 2022 reichte die Staatsanwaltschaft eine Beweisergänzung zur Berufung zu den Akten, welche Unterlagen der Verteidigung zur Kenntnis gebracht wurden (Urk. 68-71). Zur heutigen Berufungsverhandlung erschienen der zustän- dige Sonderstaatsanwalt sowie der Beschuldigte in Begleitung seines erbetenen Verteidigers (Prot. II S. 6). Anlässlich der Berufungsverhandlung beantragte die Staatsanwaltschaft, es sei im Rahmen der Vorfragen über den gestellten Eventual-beweisantrag und damit insbesondere auch über die Verwertbarkeit der im Recht liegenden Videoaufnahmen zu befinden. Nach erfolgter Stellungnahme des Verteidigers sowie durchgeführter Zwischenberatung wurde der Entscheid betreffend Beweisantrag der Staatsanwaltschaft und damit zusammenhängend auch die Frage der Verwertbarkeit der Videoaufnahmen mündlich eröffnet und erläutert (Prot. II S. 7 f.). Diesbezüglich kann auf die nachfolgenden Erwägungen unter Ziff. II. verwiesen werden. Im Übrigen wurden keine weiteren Beweisanträge gestellt. Das Verfahren erweist sich als spruchreif.
Umfang der Berufung und Hinweis
Die Staatsanwaltschaft ficht den vorinstanzlichen Entscheid vollumfänglich an und beantragt einen anklagegemässen Schuldspruch unter entsprechenden Kostenfolgen zu Lasten des Beschuldigten, weshalb das ganze Urteil der Vorinstanz zur Disposition steht (Urk. 52; Urk. 72; Art. 404 Abs. 1 StPO).
Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass sich die urteilende Instanz nicht mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzen respektive jedes einzelne Vorbringen widerlegen muss. Die Berufungsinstanz kann sich auf die für ihren Entscheid wesentlichen Punkte beschränken (vgl. BGE 141 IV 249 E. 1.3.1; Urteil 6B_684/2020 vom 21. April 2021 E. 1.6).
Verwertbarkeit Videoaufnahme
Das inkriminierte Fahrmanöver des Beschuldigten wurde von einer Sat-Speed-Kamera eines Fahrzeuges der Kantonspolizei Zürich aufgezeichnet (Urk. 1; Urk. 4). Die Vorderrichterin prüfte von Amtes wegen die Verwertbarkeit der fraglichen Videoaufzeichnung und kam zusammengefasst zum Schluss, die Bilder seien anlässlich einer anlasslosen Aufzeichnung des Strassenverkehrs unrechtmässig erstellt worden. Insbesondere sei nicht ersichtlich, was die Polizei vorliegend veranlasst habe, die Aufnahme zu starten, zumal das Fahrverhalten des Beschuldigten und dasjenige der übrigen Verkehrsteilnehmer vor dem inkriminierten Manöver nicht beanstandet werden könne. Der Polizei – so die Vorderrichterin weiter – seien damit keine Verdachtsmomente vorgelegen, und es gehe aus dem Rapport nicht hervor, dass der Strassenverkehr aufgrund einer Stichprobe im Rahmen einer Grosskontrolle aufgezeichnet worden sei. Da Personen mit der Aufzeichnung von Fahrzeugkontrollschildern identifiziert werden können, hätten gemäss § 32b Abs. 2 lit. a PolG/ZH für die Zulässigkeit der Videoaufnahme am überwachten Ort bereits Straftaten begangen worden sein müssen. Entsprechend dürfe die Videoaufzeichnung prozessual nicht verwertet werden (Urk. 48 S. 4 f.).
Die Verteidigung beanstandete die Verwertbarkeit des Videos bis anhin nicht, sondern nahm – letztmals vor Vorinstanz – vielmehr wiederholt Bezug auf das verfügbare Videomaterial, um ihren Standpunkt zu untermauern (vgl. Urk. 34
S. 2 ff. und Urk. 34/A). Demgegenüber brachte die Verteidigung anlässlich der Berufungsverhandlung neu vor, es handle sich gemäss zutreffender Ansicht der Vorinstanz um eine anlasslose und ständige Aufzeichnung des Strassenverkehrs,
welche im relevanten Zeitpunkt bereits seit 207 Minuten angedauert habe und wofür keine genügende gesetzliche Grundlage bestehe (Urk. 73 N 11-18; Prot. II S. 8).
Die Staatsanwaltschaft stellt sich dagegen zusammengefasst auf den Standpunkt, die Videobilder würden nicht einer anlasslosen Aufnahme entstammen, sondern seien erst mit Aktivierung des Ringspeichers des Patrouillenfahrzeugs gezielt aufgenommen worden. Dass die Kamera bereits zuvor aufgeschaltet gewesen sei, sei rein technisch begründet, ansonsten eine rückwirkende Sicherung des Videomaterials durch das Betätigen der Aufnahmefunktion gar nicht möglich wäre. Weiter bestehe im Unterschied zu privaten Dashcams eine genügende gesetzliche Grundlage für den zertifizierten Betrieb von solchen Kameras in Polizeifahrzeugen. Die vorliegende Aufnahme sei daher im Sinne von Art. 13 Abs. 1 DSG rechtmässig erfolgt. Zeitpunkt, Anlass und Zusammenhang der Videoaufnahme seien sodann klar nachvollziehbar, weshalb keine Gründe für die Annahme der Unverwertbarkeit dieser Videosequenz bestünden (Urk. 52 S. 3 f.; Urk. 72 S. 3 ff.).
Die beiden Polizeibeamten des verkehrspolizeilichen Einsatzdienstes waren in ihrem Patrouillenfahrzeug unterwegs, als sie den Beschuldigten in seinem Volvo kreuzten respektive dessen Fahrmanöver wohl zufällig unmittelbar wahrgenommen haben (Urk. 1; Urk. 3 F/A 2). Wenn die Verteidigung gestützt auf die vorinstanzlichen Erwägungen geltend macht, die Polizeipatrouille habe in diesem Zeitpunkt bereits mehrere Stunden anlasslos das Verkehrsgeschehen gefilmt und abgespeichert, da die Kamera bereits seit 207 Minuten gelaufen sei, kann dem nicht gefolgt werden (Urk. 73 N 16 f.; Urk. 48 S. 4 f.). Die Staatsanwaltschaft hat unter Verweis auf die im Recht liegende Bedienungsanleitung des eingesetzten SAT-Speed-Systems zutreffend dargelegt, dass das System zwar grundsätzlich bereits eingeschaltet sein muss, die Aufnahme bzw. Messung jedoch erst nach (zusätzlicher) Betätigung der Start- Taste überhaupt aktiviert wird. Allein aufgrund des vorhandenen Ringspeichers, welcher Daten permanent speichert und nach einer vordefinierten Dauer wieder überschreibt, werden ab dem Zeitpunkt der Auslösung der Aufnahmefunktion
überhaupt auch die vorangehenden 30 Sekunden Filmmaterial der Frontkamera gespeichert (vgl. Urk. 53 S. 30; Urk. 69; Urk. 72 S. 6-10). Auch anhand der streitbetroffenen Aufzeichnung selber ergibt sich dieser technische Ablauf. So springt die im Video ersichtliche Zeitanzeige bei Aktivierung der Aufzeichnung kurz nach dem inkriminierten Fahrmanöver auf 0 (vgl. Urk. 4). Es bestehen mithin keinerlei Anzeichen dafür, dass die Patrouille bereits über einen längeren Zeitraum anlasslos Aufnahmen getätigt hätte. Vielmehr ist das inkriminierte Fahrmanöver des Beschuldigten einzig aufgrund des vorhandenen Ringspeichers, dessen Zulässigkeit seitens der Verteidigung ausdrücklich nicht bestritten wird (Urk. 73 N 15 f.), überhaupt auf Video verfügbar. Wie die nachfolgenden Erwägungen verdeutlichen, ist entgegen der Ansicht der Vorinstanz sodann hinsichtlich der Verwertbarkeit des Videomaterials irrelevant, aus welchem Grund die Beamten die fragliche Strasse befuhren respektive ob bereits vor dem Fahrmanöver ein Tatverdacht gegen den Beschuldigten vorlag nicht.
Generell muss ein Anfangsoder Tatverdacht nur gegeben sein, wenn die polizeiliche Ermittlungstätigkeit im Rahmen eines strafprozessualen Vorverfahrens erfolgt (Art. 15 Abs. 1 StPO und Art. 299 Abs. 2 StPO). Dies ist vorliegend klar zu verneinen, tätigten die Polizisten doch gerade keine Beweiserhebungen ausgehend von einem bereits bestehenden Anfangsverdacht. Es dürfte sodann nicht weiter umstritten sein, dass eine Patrouille des verkehrspolizeilichen Einsatzdienstes auch ohne konkreten Ermittlungsoder Kontrollauftrag bei Fahrten auf öffentlichen Strassen ganz grundsätzlich in Wahrnehmung ihrer verkehrspolizeilichen Aufgaben agiert (vgl. hierzu sogleich
E. II.1.5.), weshalb für die Frage der Verwertbarkeit nicht die StPO, sondern die Polizeigesetzgebung Anwendung findet. Dass die Kontrolle des Strassenverkehrs in der Konsequenz immer auch der Ermittlung fehlbarer Fahrzeuglenker und der Sicherstellung von Beweisen im Hinblick auf ein späteres Strafverfahren dient, ändert nichts an der Einstufung als sicherheitspolizeiliche Tätigkeit (vgl. Urteil 6B_1143/2015 vom 6. Juni 2016 E. 1.3.1; s.a. WOHLERS, in: Die Verwertbarkeit staatlich erstellter Videoaufzeichnungen im Strafprozess, ZStrR 140/2022 S. 49 ff., S. 61).
Gesetzliche Grundlagen für die Kontrolle des Verkehrs auf öffentlichen Strassen durch die Kantonspolizei bilden das Strassenverkehrsgesetz (SVG), die dazugehörige Strassenverkehrskontrollverordnung (SKV) sowie das kantonale Polizeigesetz (PolG/ZH). Aus diesen Bestimmungen geht im Wesentlichen hervor, dass die kantonale Polizei zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und Verhütung von Unfällen die erforderlichen Massnahmen trifft (Art. 1 Abs. 1 SVG und Art. 106 Abs. 1 SVG; Art. 1 SKV und Art. 3 SKV; § 1 Abs. 1 PolG/ZH und § 3 Abs. 2 lit. b PolG/ZH). In Art. 9 Abs. 1 SKV ist ausdrücklich vorgesehen, dass die Polizei für Kontrollen des Strassenverkehrs nach Möglichkeit technische Hilfsmittel einsetzt. Die Staatsanwaltschaft hat grundsätzlich zutreffend aufgezeigt, dass zu den tech- nischen Hilfsmitteln der genannten Norm auch sogenannte Sat-Speed-Systeme gehören (Urk. 52 S. 3). Aufgrund der nicht abschliessenden Aufzählung von Kontrollmöglichkeiten ist dabei irrelevant, dass die Kontrolle von Überholmanövern in Art. 9 Abs. 1 SKV nicht namentlich erwähnt wird (vgl. Urk. 73 N 13). Der Einsatz von Sat-Speed-Systemen im Besonderen wird sodann in Art. 6 lit. c VSKV-ASTRA sowie den Weisungen über polizeiliche Geschwindigkeitskontrollen und Rotlichtüberwachung im Strassenverkehr vom
22. Mai 2008 geregelt (s.a. Urteil 6B_1025/2015 vom 4. November 2015 E. 3.2). Keine dieser genannten Bestimmungen verlangt einen Anfangsverdacht und erst recht keinen hinreichenden Tatverdacht zur Legitimation polizeilichen Handelns im Rahmen von Verkehrskontrollen (so ausdrücklich: Urteil 6B_1143/2015 vom
6. Juni 2016 E. 1.3.3). Im Gegenteil: Art. 5 Abs. 1 und 2 SKV legt sogar fest, dass die Kontrollen stichprobenweise, systematisch im Rahmen von Grosskontrollen erfolgen können.
Hält die Vorinstanz fest, es gehe aus dem Polizeirapport nicht hervor, ob der Strassenverkehr aufgrund einer Stichprobe im Rahmen einer Grosskontrolle aufgezeichnet worden sei, ist dies nicht stichhaltig (vgl. Urk. 48
S. 5). Die Patrouille der Verkehrspolizei erfüllte auch ohne konkreten Auftrag eine ihr von Gesetzes wegen auferlegte Pflicht. Die anlassfreie Kontrolle des Strassenverkehrs, selbst unter Einsatz technischer Hilfsmittel, wird vom Bundesgericht denn auch als zulässig angesehen. Der Beizug von polizeilich erstellten Daten als erkennungsdienstliches Material in einem Strafverfahren
vermag dabei grundsätzlich keine prozessualen Beweisverbote zu begründen (zum Ganzen: Urteil 6B_1143/2015 vom 6. Juni 2016 E. 1.3.2. ff. und Urteil 6B_57/2018 vom 18. April 2018 E. 4). Auch der Hinweis der Vorinstanz und der Verteidigung auf § 32a PolG/ZH ist vorliegend nicht einschlägig (vgl. Urk. 48 S. 5; Urk. 73 N 14). Entgegen dem Randtitel im Gesetz enthält diese Norm keine allgemeinen Grundsätze für die Audio- und Videoüberwachung durch die Polizei, sondern regelt allein die Videoüberwachung als eine von vier Überwachungsformen des kantonalzürcherischen Polizeigesetzes (neben den Überwachungsmassnahmen gemäss §§ 32, 32b und 32c PolG/ZH; vgl. RHYNER, in: DONATSCH/JAAG/ZIMMERLIN, Kommentar zum Polizeigesetz des Kantons Zürich, 2018, § 32a N 2). Die zulässigen Modalitäten von Strassenverkehrskontrollen werden jedoch durch die Strassenverkehrsgesetzgebung des Bundes erschöpfend vorgegeben (Urteil 6B_1143/2015 vom 6. Juni 2016 E. 1.3.3). Vorliegend ist also einzig die bereits zitierte Norm von Art. 9 Abs. 1 SKV massgebend, die als übergeordnete bundesrechtliche Vorschrift den Einsatz technischer Hilfsmittel zur Erfassung von Verkehrsregelverstössen ausdrücklich vorsieht. Insgesamt bestand damit für die Aufzeichnung der strittigen Videosequenz eine ausreichende gesetzliche Grundlage, weshalb diese rechtmässig erfolgte und ohne weitergehende Prüfung verwertbar ist.
Beweisantrag
Die Staatsanwaltschaft stellte berufungsweise den Beweisantrag, der rapportierende Polizeibeamte sei eventualiter als Zeuge einzuvernehmen, sofern sich der Fall nicht aufgrund der rechtskonformen Verwertung des Videomaterials als spruchreif erweise (Urk. 52 S. 2; Urk. 72 S. 1 ff.). Wie nachfolgend aufzuzeigen sein wird, kann aufgrund der verwertbaren Videoaufnahmen der Sachverhalt erstellt und auf die Einvernahme des Polizeibeamten verzichtet werden.
Ausgangslage und Grundsätze der Beweiswürdigung
Der Beschuldigte lenkte am 20. April 2020, ca. 19.46 Uhr, seinen Personenwagen Volvo auf der B. -strasse in Fahrtrichtung C. . In diesem Zusammenhang wird ihm vorgeworfen, vor einer Rechtskurve im Ausserortsbereich mit ca. 70 km/h auf die Gegenfahrbahn eingespurt zu haben, in der Absicht, den vorausfahrenden Lastwagen, zu welchem der Beschuldigte bereits aufgeschlossen habe, zu überholen. Dabei habe der Beschuldigte den ca. 165 Meter weit entfernten Polizeiwagen nicht bemerkt, welcher ihm mit ca. 80 km/h entgegengekommen sei. Erst unmittelbar bevor der Beschuldigte mit den rechten Rädern seines Volvos die Mittellinie überfahren habe, habe er den Polizeiwagen bemerkt und den Volvo zurückgelenkt. Aufgrund dieses Überholmanövers habe der Lenker des Polizeifahrzeuges eine Vollbremsung einleiten müssen. Dennoch sei das Fahrzeug des Beschuldigten nur ca. eine halbe Lastwagenlänge entfernt mit allen vier Rädern wieder auf der eigenen Fahrbahn gewesen (Urk. 25 S. 2). Aufgrund der örtlichen Verhältnisse und des Aufschliessens auf den vorausfahrenden Lastwagen sei es dem Beschuldigten bei Einleitung des Manövers nicht möglich gewesen, zu sehen, ob Gegenverkehr nahe. Dadurch habe der Beschuldigte eine ernstliche Gefahr für seine Sicherheit bzw. diejenige von Dritten hervorgerufen und in Kauf genommen (Urk. 25 S. 2 f.; Urk. 72 S. 13 ff.).
Der Beschuldigte macht im Wesentlichen geltend, er habe sich noch gar nicht für ein Überholmanöver entschieden gehabt, sondern habe nur (links) am Lastwagen vorbeisehen wollen, ob die Strecke frei sei (Urk. 3 F/A 2 und 7; Urk. 20 F/A 5 f.; Prot. I S. 8). Dabei sei er weder mit allen Rädern auf der Gegenfahrbahn gefahren, noch habe das Polizeifahrzeug eine Vollbremsung einleiten müssen (Urk. 20 F/A 6 f.; Urk. 75 S. 5 f.). Es sei genügend Abstand vorhanden gewesen (Prot. I S. 13).
Auch die Verteidigung hält unter Verweis auf die Videoaufnahmen dafür, der Beschuldigte habe nicht überholt, sei nicht auf die Gegenfahrbahn eingespurt und
die Polizei habe weder eine Vollbremsung noch eine Ausweichbewegung nach rechts vollziehen müssen. Ein Abbremsen des Polizeifahrzeuges sei nicht erstellt, respektive erst später und lediglich zum Zwecke des Wendens erfolgt. Das Vorgehen des Beschuldigten stelle noch kein Überholen, sondern eine straflose Vorbereitung dazu dar (Urk. 34 S. 2 ff.; Urk. 73 N 2-7).
Nachfolgend gilt es, den rechtlich relevanten Sachverhalt anhand der vorhandenen Beweismittel zu erstellen. Dabei würdigt das Gericht die Beweise frei nach seiner aus dem gesamten Verfahren gewonnenen Überzeugung (Art. 10 Abs. 2 StPO).
Fahrmanöver des Beschuldigten
Der äussere Sachverhalt lässt sich weitgehend anhand der Videoaufnahme des Patrouillenfahrzeugs der Kantonspolizei erstellen (Urk. 4). Es handelt sich um Farbbildaufzeichnungen ohne Ton. Da es sich dabei nebst den Aussagen des Beschuldigten um das einzige belastende Beweismittel handelt, drängt sich eine eingehende Auseinandersetzung mit der Videoaufzeichnung auf. Die nachfolgen- den Bandstellen beziehen sich auf die eingeblendete Zahl Record bzw. auf die eingeblendete Uhrzeit in der Scriptzeile des unteren Bildrandes.
Anhand der Videoaufnahme ist erkennbar, dass das Polizeifahrzeug mit
angezeigten rund 81 bis 88 km/h von C.
herkommend auf der B. strasse in Fahrtrichtung D. unterwegs ist. Ein silbriger Personenwagen fährt in grösserer Distanz vor dem Patrouillenfahrzeug in eine offene Linkskurve. Im linken Bildrand ist in grösserer Entfernung erstmals ein weisser Lkw erkennbar. Es handelt sich um einen Anhängerzug mit geschlossener Ladefläche, welcher sich auf der Gegenfahrbahn dem Polizeifahrzeug nähert (Record 720326-720450; 19:45:55-19:46:00). Nachdem das Polizeifahrzeug mit gleichbleibender Geschwindigkeit die Linkskurve zu befahren beginnt und der Lkw kurzzeitig aus dem Blickfeld verschwindet, kreuzt der silbrige Personenwagen auf der Geraden nach der Kurve den Lkw, welcher zu diesem Zeitpunkt wieder im Aufnahmebereich der Kamera erscheint (Record 72620; 19:46:06). Der Lkw nähert sich auf der Gegenfahrbahn weiter dem Polizeifahrzeug, hat die Kurve aber noch nicht erreicht (Record 720620-720646; 19:46:06-19:46:07).
Das Polizeifahrzeug befindet sich ausgangs der vorgenannten Linkskurve, als der linke Scheinwerfer des Volvos des Beschuldigten unmittelbar hinter dem Lkw aufscheint. Zuvor ist das Fahrzeug des Beschuldigten auf dem Video nicht auszumachen. Der Volvo beginnt (in seiner Fahrtrichtung) nach links auszuscheren und die Fahrbahn des Polizeifahrzeuges zu befahren. Innert einer Sekunde ist das Fahrzeug des Beschuldigten nicht mehr vom Lkw verdeckt und vollständig ersichtlich. Lediglich die rechten Reifen des Volvos (beifahrerseitig) befinden sich noch knapp auf der eigenen Fahrspur und haben die Mittellinie der Strasse nicht überquert (Record 720647-720672; 19:46:08). Ein ungehindertes Kreuzen mit genügendem seitlichen Abstand wäre zu diesem Zeitpunkt unmöglich. Einen Augenblick später ist beim Volvo ein starkes Einfedern der Vorderachse ersichtlich (Einnicken nach vorne). Ausserdem ist im mittleren bis hinteren Bereich des Volvo's ab diesem Moment kurzzeitig eine Partikelwolke im Sinne einer Rauchoder Staubansammlung auszumachen. Sogleich zieht der Volvo zurück auf die eigene Fahrspur, wo er sich unmittelbar hinter dem Lkw wieder in den Verkehr einreiht (Record 720675-720710; 19:46:09-19:46:10).
Der Beschuldigte erklärte hierzu, er fahre die Strecke manchmal, vielleicht einmal pro Monat (Urk. 3 F/A 14; Urk. 20 F/A 10). Er habe vor dem Manöver gewusst, dass eine leichte Rechtskurve komme und sei so schon länger hinter dem Lkw hergefahren (Prot. I S. 11; Urk. 20 F/A 22). Er habe aber nicht gesehen, ob die Strecke übersichtlich bzw. zum Überholen frei sei (Urk. 20 F/A 21). Um dies zu prüfen, habe er zunächst rechts am Lkw nach vorne gesehen und sei da- nach links mit den Rädern hinaus gefahren (Urk. 20 F/A 6 und 12; Prot. I S. 8 und
S. 10 f.). Nachdem er auf die Gegenfahrbahn gefahren sei, habe er den Patrouillenwagen gesehen und sei sofort wieder hinter den Lastwagen gefahren (Urk. 3 F/A 12; Urk. 20 F/A 15 f.; Urk. 75 S. 5). Auf Vorhalt, dass der Beschuldigte immer weiter nach links gefahren sei, bis die rechten Räder knapp vor der Mittellinie gewesen seien und er hernach plötzlich in die entgegengesetzte Richtung lenke, erwiderte der Beschuldigte, dass dies der Moment gewesen sei, als er das Polizeiauto bemerkt habe (Urk. 20 F/A 23). Weiter erklärte der Beschuldigte sinngemäss, er habe derart weit in die andere Spur fahren müssen, um das entgegenkommende Polizeiauto überhaupt sehen zu können: Wie soll ich es denn sonst sehen? Je mehr ich rausfahre, um so grösser wird mein Sichtfeld. So lernt man es in der Fahrschule […]. Hinter dem Lastwagen sehe ich ja nicht, ob es frei ist (Urk. 20 F/A 30). Zuvor habe er das Polizeifahrzeug nicht gesehen (Urk. 20 F/A 17). Er räumte ein, dass sein Sichtfeld bereits aufgrund der Grösse und Breite des vorausfahrenden Lkw's stark eingeschränkt gewesen sei (Urk. 20 F/A 33).
Bremsvorgang Polizeifahrzeug
Die Staatsanwaltschaft macht geltend, das Polizeifahrzeug habe aufgrund des Manövers des Beschuldigten zumindest stark abbremsen müssen, was auf den Videoaufnahmen ersichtlich sei (Urk. 72 S. 11). Dass der Polizeiwagen zu- nächst mit ca. 80 km/h entgegenkam, ergibt sich aus den Aufnahmen der SAT- Speed-Kamera und wird seitens der Verteidigung nicht bestritten (Urk. 4; Urk. 34
S. 5). Die Verteidigung wendet dagegen ein, das Polizeifahrzeug habe im Rahmen des Fahrmanövers des Beschuldigten keine Vollbremsung machen müssen. So habe das Polizeifahrzeug beim Kreuzen mit dem Beschuldigten gemäss Videoaufnahme noch immer eine Geschwindigkeit von 86 km/h gehabt. Von dieser Geschwindigkeit müsse ausgegangen werden, selbst wenn die im Video eingeblendete Geschwindigkeit verzögert angezeigt worden wäre (Urk. 34 S. 2 und
S. 4; Urk. 73 N 2 und Prot. II S. 10).
Richtig ist, dass eine Vollbremsung des Polizeifahrzeuges, mithin die Bremsung mit grösstmöglicher Bremskraft, aufgrund des Videos nicht erstellt werden kann (Record 720666-000015; 19:46:08-19:46:11). Weiter ist zutreffend, dass selbst im Zeitpunkt des Kreuzens in der Scriptzeile der Videoaufnahme eine Geschwindigkeit von 80 km/h (Record 720721; 19:46:10), und nach Aktivierung der rückwirkenden Aufzeichnung noch kurz eine solche von 57 km/h angezeigt wird (vgl. Zeitpunkt des Aufnahmestarts: Record 000000; 19:46:11). Vergleicht man diese Geschwindigkeiten mit dem vorhandenen Bildmaterial, erscheint ein vorbehaltloses Abstellen auf die Tempoangaben im Zeitraum von wenigen Zehntelsekunden aber nicht sachgerecht.
Nachdem der Beschuldigte ausscherte, neigt der Aufnahmebereich der Kamera abrupt horizontal nach unten und richtet sich erst nach dem Passieren des Volvos wieder nach oben in die ursprüngliche Position. Dies ist auf dem Vi- deo klar erkennbar und deutet auf ein sogenanntes Einfedern und damit auf ei- nen starken Bremsvorgang hin, da das deutliche Einnicken auf der Frontachse typischerweise aufgrund der zusätzlichen Krafteinwirkung bei einem starken Bremsvorgang erfolgt (Record 720680-000010; 19:46:09-19:46:11; vgl. zum Ganzen: Bremswirkung hinten vorne, Auto & Technik, Juni 2010, S. 6 ff., online abrufbar unter: https://auto-wirtschaft.ch/bilddownload/img1139_1.pdf). Dass eine plötzliche, für mindestens zwei Sekunden andauernde starke Veränderung des Aufnahmebereichs von einer Strassenunebenheit herrühren könnte, wie dies die Verteidigung geltend machen will, kann ausgeschlossen werden (Prot. II S. 10). Auf den Bildern ist keine Unebenheit erkennbar, hingegen kann bei normaler Abspielgeschwindigkeit im gleichen Zeitraum eine auffallende Verlangsamung des Patrouillenfahrzeuges festgestellt werden, welche mit der in den einzelnen Bildfolgen noch angezeigten Geschwindigkeit (bei 25 Bildern pro Sekunde) nicht korrespondiert (vgl. Urk. 53 S. 20 und S. 23). Die Bildbewegungen, beispielsweise bei dem sich am rechten Strassenrand befindlichen Weidezaun, muten beim Kreuzen der beiden Fahrzeuge jedenfalls beträchtlich langsamer an, als dies zuvor bei der über einen längeren Zeitraum gefahrenen Geschwindigkeit von rund 80 km/h der Fall war. Die Angaben zur Eigengeschwindigkeit erscheinen daher nicht für jedes einzelne Standbild verlässlich, zumal im relevanten Zeitraum gar keine gültige Geschwindigkeitsmessung mit dem installierten System durchgeführt worden war. Die Durchsicht des Videomaterials lässt vielmehr darauf schliessen, dass die Geschwindigkeiten vorliegend im Zehntelsekundenbereich leicht verzögert angezeigt werden. Dies zeigt sich exemplarisch beim Wendema- növer des Polizeifahrzeuges. Während des kurzzeitigen Anhaltens und Zurücksetzens wird zunächst noch eine Geschwindigkeit von 10 km/h angezeigt, obwohl das Fahrzeug stoppt bzw. zurückfährt (Record 000168; 19:46:17). Betont die Verteidigung, es gehe in erster Linie um die Interpretation des Videos, wobei man nur glauben müsse, was man sehe (Urk. 34 S. 5; Urk. 73 N 2), so ist nach dem Gesagten immerhin erstellt, dass das Polizeifahrzeug zumindest kurzzeitig erheblich
abbremste, als sich der Beschuldigte noch überwiegend auf der Fahrspur des Patrouillenwagens befand. Eine genaue Aufschlüsselung der festgestellten Verzögerung bei der angezeigten Geschwindigkeit, wie dies die Verteidigung fordert, ist für diese Erkenntnis nicht erforderlich (Prot. II S. 9). Ebenso erweist sich mit Blick auf das Anklageprinzip als unproblematisch, dass die Anklage dem Beschuldigten eine Vollbremsung des Patrouillenfahrzeuges zur Last legt. Es wird ihm jedoch insbesondere nicht vorgeworfen, dass das Polizeifahrzeug bis zum Stillstand habe abbremsen müssen. Die aus dem Anklagegrundsatz entspringen- de Informationsfunktion war somit auch bei einem blossem Abbremsen des Patrouillenfahrzeuges stets gewahrt, wusste der Beschuldigte doch von Beginn an, wogegen er sich konkret zu verteidigen hat (vgl. Urk. 73 N 7).
Der Beschuldigte bestreitet, dass nur eine halbe Lastwagenlänge Abstand bestanden habe, als er wieder auf die eigene Spur zurückgekehrt sei (Urk. 20 F/A 26). Der Standort des Polizeifahrzeuges lässt sich anhand der Videobilder zwar nicht punktgenau eruieren, da nicht restlos klar ist, wo genau die Kamera am Polizeifahrzeug angebracht war. Jedoch kann die Zugmaschine des Anhängerzugs im Zeitpunkt, als sich der Volvo wieder vollständig auf der eigenen Spur befand, nicht mehr erblickt werden (Record 72709; 19:46:10). Dies, obwohl der Blickwinkel der Kamera leicht nach links gerichtet ist, mithin in Richtung der Gegenfahrbahn. Damit belegen die Bilder, dass sich der Volvo weniger als eine Lastwagenlänge vor dem Polizeifahrzeug wieder mit allen vier Rädern auf der eigenen Fahrspur befand, obwohl das Polizeifahrzeug bereits abgebremst hatte.
Geschwindigkeit und Entfernung
Bezüglich der eigenen gefahrenen Geschwindigkeit führte der Beschuldigte wiederholt aus, geschätzt mit ca. 70 km/h gefahren zu sein, als er das Manöver begonnen habe (Urk. 3 F/A 10; Urk. 20 F/A 14). Andernorts macht er geltend, der Lastwagen sei sicher nicht schneller als 50 bis 60 km/h gefahren. Er habe nicht beschleunigt, als er auf die Gegenfahrbahn gewechselt sei, und habe beim Wiedereinbiegen auf seine Spur nicht abbremsen müssen (Urk. 3 F/A 16; Urk. 20 F/A 15 und 22; Prot. I S. 11). Wie nachfolgend aufgezeigt wird, kann diesen Angaben des Beschuldigten nicht restlos gefolgt werden.
Das auf dem Video sichtbare starke Einfedern des Volvo's indiziert – wie bereits dargelegt – einen kurzen abrupten Bremsvorgang. Wenn die Verteidigung in diesem Zusammenhang vorbringt, die Bewegung des Fahrzeugs des Beschuldigten könnte auch von einer Unebenheit herrühren bzw. Folge des Zurückschwenkens auf die eigene Spur sein, weshalb ein Abbremsen bloss eine von vielen Möglichkeiten darstelle, so lässt sie dabei die nahezu zeitgleiche Rauchentwicklung um das Fahrzeug ausser Acht. Diese beiden Indizien zusammen schliessen eine zufällig aufwirbelnden Staubwolke blosse Unebenheit des Strassenbelags nahezu aus, zumal auch der dem Beschuldigten vorausfahrende Lkw am gleichen Ort keinen solchen Staubwirbel verursacht hat (Prot. II S. 9 f.; Urk. 4 Record 720680 ff.; 19:46:09-19:46:11). Vielmehr indiziert das Zusammenspiel dieser beiden physikalischen Vorgänge einen Bremsvorgang. Damit ist die Behauptung des Beschuldigten entkräftet, er habe nicht beschleunigt und für das Wiedereinbiegen nicht bremsen müssen. Anlässlich der heutigen Berufungsverhandlung hat der Beschuldigte vor diesem Hintergrund denn auch eingeräumt, es sei vielleicht möglich, dass er kurz auf die Bremse gedrückt habe (Urk. 75 S. 7).
Da der Beschuldigte in der Folge unmittelbar hinter dem Lkw einspuren muss (Record 720705-720718; 19:46:10), kann zwanglos davon ausgegangen werden, der Beschuldigte sei beim Ausscheren auf die Gegenfahrbahn mit ca. 70 km/h unterwegs gewesen. Die genau gefahrene Geschwindigkeit des Beschuldigten erweist sich mit Blick auf die rechtlichen Würdigung aber nur als von untergeordneter Bedeutung (vgl. E. IV.3.3).
Die in der Anklage genannte Entfernung des Polizeifahrzeuges von 165 m erscheint aufgrund der Kartenausschnitte plausibel und wurde zugunsten des Beschuldigten in dieser Höhe errechnet (Urk. 17). Auch die Verteidigung geht bei ihren Berechnungen von den in der Anklage aufgeführten Parametern aus (Urk. 34 S. 5). Mit Blick auf die rechtliche Würdigung ist eine metergenaue Berechnung der Entfernung der Fahrzeuge letztlich aber ebenfalls nicht notwendig.
Fazit
Aufgrund der Videobilder und der Aussagen des Beschuldigten ist erstellt, dass der Beschuldigte angesichts der örtlichen Verhältnisse und des Aufschliessens auf den vorausfahrenden Lkw bei Einleitung seines Manövers nicht sehen konnte, ob ca. 165 m entfernter Gegenverkehr naht. Dennoch spurte er mit ca. 70 km/h bewusst vor einer Rechtskurve auf die Gegenfahrbahn ein. Dabei bemerkte er das ihm mit ca. 80 km/h entgegenkommende Polizeifahrzeug zunächst nicht, obwohl sich nur noch die rechten beifahrerseitigen Räder seines Fahrzeugs auf seiner Fahrspur befanden bzw. diese die Mittellinie noch nicht überfahren hatten. Als der Beschuldigte das Polizeifahrzeug bemerkte, lenkte er den Volvo auf seine Fahrbahn zurück. In der Folge bremste das Polizeifahrzeug ab, wobei nicht erstellt werden kann, ob der Lenker des Polizeiwagens eine Vollbremsung einleiten musste. Das Fahrzeug des Beschuldigten war dabei weniger als eine Lastwagenlänge vor dem Polizeifahrzeug mit allen vier Rädern wieder auf der eigenen Fahrbahn.
Die Frage, ob der Beschuldigte bereits ein Überholmanöver im Sinne von Art. 35 SVG begonnen hat, ist primär rechtlicher Natur und daher nachfolgend im Rahmen der rechtlichen Würdigung zu behandeln.
Standpunkte
Die Vorinstanz erwog im Sinne einer Eventualbegründung, der Beschuldigte sei mit zwei Rädern auf der eigenen Fahrspur geblieben, weshalb er bloss ausgeschert sei, um zu prüfen, ob er überholen könne. Dies stelle in rechtlicher Hinsicht kein Überholen dar. Dass der Beschuldigte nicht genügend Abstand gegenüber dem Lkw eingehalten habe, sei zudem nicht Gegenstand der Anklage, weshalb der Beschuldigte (auch) aus rechtlichen Überlegungen freizusprechen sei (Urk. 48 S. 7). Auch die Verteidigung hält dafür, der Beschuldigte habe mit seinem Verhalten noch kein Überholmanöver eingeleitet. Es sei üblich, dass man hinter einem Lastwagen herfahrend hie und da nachschaue, ob es Möglichkeiten zum Überholen gebe (Urk. 34 S. 5 f.). Ob eine
Absicht für ein Überholen bestanden habe, stelle sodann eine subjektive Komponente dar. Der Beschuldigte habe dies verneint und erklärt, den Entschluss noch nicht gefasst zu haben. Die Meinungsbildung des Beschuldigten – so die Verteidigung weiter – sei mithin noch nicht abgeschlossen gewesen, was sich auch anhand der weiteren Beweismittel nicht widerlegen lasse (Urk. 73 N 4).
Die Staatsanwaltschaft bringt vor, im Strassenverkehrsrecht fehle es an einer Legaldefinition des Überholens. Dieses müsse in drei Phasen unterteilt werden, wobei der Autolenker in einer ersten Phase in der Absicht zu überholen auf die Gegenfahrbahn ausschwenke, hernach das vorausfahrende Fahrzeug mit entsprechender Geschwindigkeitsdifferenz links überhole und letztlich wieder auf die eigene Fahrbahn einschwenke. Beim Beschuldigten sei die erste Phase beinahe abgeschlossen gewesen, und er habe sich viel weiter auf der Gegenfahrbahn befunden, als dies nötig gewesen wäre, um lediglich nach dem Gegenverkehr zu sehen. Die Annahme, es habe sich um ein reines Ausschwenken und (noch) nicht um ein Überholmanöver gehandelt, sei aktenwidrig. Auf dem Video sei vielmehr ein abrupter Abbruch eines Überholmanövers ersichtlich, ansonsten der Beschuldigte nicht derart weit hätte Ausschwenken müssen. Der Beschuldigte sei daher der vorsätzlichen groben Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG schuldig zu sprechen (Urk. 52 S. 2 und S. 5; Urk. 72 S. 13 ff.).
Rechtliche Grundlagen
Der Tatbestand der groben Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG ist erfüllt, wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit ernstlich gefähr- det. Eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer ist nicht erst bei einer konkreten, sondern bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Ob eine konkrete, eine erhöhte abstrakte nur eine abstrakte Gefahr geschaffen wird, hängt von der Situation ab, in welcher die Verkehrsregelverletzung begangen wird. Wesentliches Kriterium für die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefahr ist die Nähe der Verwirklichung. Subjektiv erfordert der Tatbestand ein rücksichtsloses sonst schwerwiegend verkehrswidriges Verhalten. Rücksichtslos
ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern, was auch in einem blossen Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen kann. Je schwerer die Verkehrsregelverletzung objektiv wiegt, desto eher wird Rücksichtslosigkeit subjektiv zu bejahen sein (BGE 131 IV 133 E. 3.2 m.H.; BGE 142 IV 93 E. 3.1; Urteil 6B_992/2020 vom 30. November 2020 E. 2.2 m.H.).
Als Überholen gilt grundsätzlich ein Verkehrsvorgang, bei dem ein Fahrzeug an einem sich auf derselben Fahrbahn langsamer in gleicher Richtung bewegenden anderen Verkehrsteilnehmer linksoder rechtsseitig vorfährt und vor diesem die Fahrt fortsetzt. Weder ein Ausschwenken vor der Vorbeifahrt noch ein Wiedereinbiegen vor dem Überholten ist notwendige Voraussetzung des Überholens (BSK SVG-M AEDER, Art. 35 N 17 m.H.). Muss vorgängig ausgeschwenkt werden, beginnt das unter Art. 35 SVG fallende Manöver, wenn der Überholende seine ursprüngliche Spur zum Zwecke des Vorfahrens verlässt (GIGER, in: OF-Kommentar SVG, 8. Aufl. 2014, Art. 35 N 7). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung überholt bereits, wer in der Absicht, einem andern vorzufahren, auf die neben diesem verlaufende Fahrbahn ausbiegt und ihn einzuholen beginnt, d.h. sich dem zu Überholenden so weit nähert, dass er, wenn er mit genügendem Abstand hinter diesem wieder nach rechts einbiegen wollte, seine Fahrt verzögern müsste (BGE 101 IV 72 E. 1a; BSK SVG-MAEDER, Art. 35 N 18 m.H.). Wer hingegen hinter einem Fahrzeug nach links ausschert, um vorerst zu prüfen, ob überholt werden könnte, hat dadurch mit dem Überholen noch nicht begonnen, denn durch die blosse Abklärung der Sicht- und Verkehrsverhältnisse wird das eigentliche Überholen erst vorbereitet (BGE 102 IV 113 E. 2).
Gemäss Art. 35 Abs. 2 SVG ist Überholen nur gestattet, wenn der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird. Ferner darf nach Art. 35 Abs. 4 SVG im Bereich von unübersichtlichen Kurven nicht überholt werden (BGE 109 IV 134 E. 3). Nicht nur die für den Überholvorgang be- nötigte Strecke muss übersichtlich und frei sein, sondern zusätzlich jene, die ein entgegenkommendes Fahrzeug bis zu jenem Zeitpunkt zurücklegt, wo der Über-
holende die linke Strassenseite freigegeben haben wird (Urteil 6B_161/2015 vom 8. Juli 2015 E. 5.2 m.H.).
Würdigung
Der Beschuldigte räumte in seiner ersten Befragung ein, dass er vielleicht überholt hätte, wenn die Strecke frei gewesen wäre und er nach ganz vorne hätte sehen können (Urk. 3 F/A 2 und 7). Die spätere Relativierung, er hätte ohnehin nicht überholt, da die Kurve unübersichtlich gewesen sei (Urk. 20 F/A 13 und 20), erscheint hingegen wenig nachvollziehbar. Dem Beschuldigten war von vornherein klar, dass er sich aufgrund des Lkw's vor einer unübersichtlichen Kurve befand, weshalb es grundsätzlich gar keiner Vergewisserung der freien Fahrbahn respektive weitergehenden Abklärung der Sichtverhältnisse mehr bedurft hätte. Ein Ausbiegen auf die Gegenfahrbahn war mithin gar nicht mehr nötig. Der Beschuldigte schloss jedoch auf den Lkw auf und scherte derart auf die Gegenfahrbahn aus, dass sich die rechten Räder seines Volvos nur noch knapp auf der eigenen Fahrspur befanden (vgl. vorstehend E. III.2.3). Letzteres kann vorliegend aber nicht ausschlaggebendes Kriterium sein, sondern die Tatsache, dass sich der Beschuldigte mit seinem Fahrzeug nahezu vollständig auf der Gegenfahrbahn befand und damit seine ursprüngliche Fahrspur faktisch verlassen hatte. Das Fahrmanöver geht jedenfalls über ein vorsichtiges Ausschwenken (vgl. Art. 10 VRV) geschweige denn blosses Abklären der Sicht- und Verkehrsverhältnisse klar hinaus, welches vom Bundesgericht bei übersichtlichen Verhältnissen noch als Vorbereitungshandlung für ein Überholmanöver angesehen wurde (s.a. BGE 89 IV 146 S. 149 E. 4). Darauf hat auch die Staatsanwaltschaft zu Recht hingewiesen (Prot. II S. 11). Kommt hinzu, dass der Beschuldigte aufgrund seines festgestellten Fahrverhaltens nur noch mit knappem Abstand hinter dem Lkw einbiegen konnte, obwohl er abbremste. Unter Würdigung der konkreten Verhältnisse ist in rechtlicher Hinsicht daher insgesamt von einem Überholen im Sinne von Art. 35 SVG auszugehen.
Im Übrigen kann keinem Zweifel unterliegen, dass das fragliche Manöver des Beschuldigten hätte unterbleiben müssen. Das Überholen – vorab auf Strassen mit Gegenverkehr – gehört zu den gefährlichsten Fahrmanövern. Ein
solches Manöver ist deshalb nur gestattet bzw. darf nur durchgeführt werden, wenn es nicht überhaupt verboten ist, der nötige Raum übersichtlich und frei ist und andere Verkehrsteilnehmer nicht behindert gefährdet werden (BGE 129 IV 155 E. 3.2.1; Urteil 6B_161/2015 vom 8. Juli 2015 E. 5.2 m.H.). Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht erfüllt. Es ist erstellt und unbestritten, dass der Beschuldigte unmittelbar hinter einem Lkw fahrend und vor einer ihm bekannten unübersichtlichen Rechtskurve ausserorts auf die Gegenfahrbahn ausgebogen ist und sich sein Manöver daher in einen nicht einsehbaren Strassenabschnitt hineinzog. Damit missachtete er nicht nur das Überholverbot im Bereich von unübersichtlichen Kurven gemäss Art. 35 Abs. 4 SVG. Mit seinem Manöver erzwang er auch ein Abbremsen des ihm entgegenfahrenden Polizeifahrzeuges, weshalb die seitens des Beschuldigten beanspruchte linke Strassenseite für den Gegenverkehr im fraglichen Zeitpunkt nicht frei gewesen ist (vgl. Urteil 6B_161/2015 vom 8. Juli 2015 E. 5.2 m.H.). Aufgrund der geschaffenen Gefahr sowie des rücksichtslosen Verhaltens liegt somit auch eine Missachtung von Art. 90 Abs. 2 SVG vor. Ohne Bedeutung bleibt, dass der Beschuldigte letztlich gar nicht neben dem Lkw vorgefahren ist.
Ob aufgrund der in der Anklage aufgeführten Geschwindigkeiten und Entfernungen von einer konkreten Gefährdung auszugehen ist, muss nicht abschliessend geprüft werden. Es bestand zumindest eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG, welche bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben ist. In Anbetracht der gesamten Umstände lag der Eintritt einer konkreten Gefährdung von Verkehrsteilnehmern jedenfalls nahe, zumal für den Beschuldigten auch nicht abzuschätzen war, wie sich der Lenker eines entgegenkommenden Fahrzeuges verhalten würde. Das Bundesgericht bejaht denn auch in der Regel eine mindestens erhöhte abstrakte Gefährdung und damit eine objektiv grobe Verkehrsregelverletzung, wenn ein Fahrzeuglenker überholt, obschon er aufgrund einer eingeschränkten Sicht nach vorne nicht sicher sein kann, ohne Behinderung bzw. Gefährdung wieder einbiegen zu können (Urteil 6B_104/2015 vom 20. August 2015 E. 3.2).
Das Handeln mit Vorsatz ist als innere Tatsache bei fehlendem Geständnis oft nur anhand äusserer Kennzeichen feststellbar. Vorliegend waren dem Beschuldigten die zuvor geschilderten Umstände sowie die damit einhergehende besondere Gefährlichkeit seines Handelns bewusst, weshalb er eine erhöhte abstrakte Gefährdung im Sinne von Art. 12 Abs. 2 StGB in Kauf nahm, als er sein Fahrmanöver ausführte. So konnte er insbesondere keine Gewissheit haben, dieses ohne Behinderung des Gegenverkehrs abschliessen zu können und er wusste um die Strassenführung, die im dortigen Ausserortsbereich gefahrenen Geschwindigkeiten sowie die stark eingeschränkte Sicht aufgrund der Grösse des Lkw's. Damit ist Eventualvorsatz gegeben.
Nur der Vollständigkeit halber ist Folgendes anzumerken: Würde ein Überholvorgang im Sinne von Art. 35 SVG verneint werden, gilt im Strassenverkehr – namentlich auf unübersichtlichen Strecken – das Rechtsfahrgebot (Art. 34 Abs. 1 SVG). Diese Bestimmung bildet ebenfalls eine grundlegende Verkehrsregel, deren Verletzung gemäss Art. 90 SVG strafbar ist (BSK SVG-M AEDER, Art. 34 N 2 und N 22). Wie vorstehend ausgeführt, war die durch den Beschuldigten befahrene Strecke weder übersichtlich, noch hielt er sich bei seinem Manöver an den rechten Strassenrand. Sein nahezu vollständiges Ausschwenken auf die Gegenfahrbahn ging weit über eine noch erlaubte Abklärung der Verhältnisse hinaus. Auch im Lichte von Art. 34 SVG wäre daher entgegen der Verteidigung unter vollständigem Verweis auf die bereits gemachten Erwägungen zwanglos eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG sowie deren Inkaufnahme anzunehmen (vgl. das diesbezügliche Vorbringen der Verteidigung: Prot. II S. 10).
Fazit
Da weder Rechtfertigungs- noch Schuldausschlussgründe bestehen, ist der Beschuldigte in Gutheissung der Berufung der eventualvorsätzlichen groben Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG schuldig zu sprechen.
Anträge, Grundsätze der Strafzumessung und Strafrahmen
Die appellierende Staatsanwaltschaft beantragt, der Beschuldigte sei mit einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr. 220.– bei einer Probezeit von 2 Jahren sowie mit einer Busse von Fr. 1'100.– zu bestrafen (Urk. 52 S. 2 f.; Urk. 72 S. 17 ff.). Die Verteidigung verzichtete auf Eventualanträge zum Strafmass (Prot. II S. 10).
Das Bundesgericht hat die Grundsätze der Strafzumessung nach Art. 47 ff. StGB und die an sie gestellten Begründungsanforderungen wiederholt dargelegt (BGE 136 IV 55 E. 5.4 ff. m.H.). Darauf kann verwiesen werden.
Grobe Verkehrsregelverletzungen werden gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen geahndet (Art. 102 SVG in Verbindung mit Art. 34 StGB).
Tatverschulden und Täterkomponente
Das Tatverschulden ist im Rahmen des weiten Strafrahmens von bis zu 3 Jahren bzw. angesichts der denkbaren, weit gravierenderen Tatvarianten als leicht zu bewerten. So sind bei der Verschuldensbewertung – im Gegensatz zur Beurteilung der Qualifikationsfrage von Art. 90 Abs. 1 Abs. 2 SVG – auch die konkreten Verhältnisse in Erwägung zu ziehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Beschuldigte das angedachte Überholmanöver frühzeitig beendete und damit zwar eine erhöhte, aber noch keine zwingend konkrete Gefahr für die übrigen Verkehrsteilnehmer resultierte. Selbst wenn kein reges Verkehrsaufkommen herrschte, bestand dennoch ein nicht unerhebliches Gefährdungspotential, ist doch bei einem gefährlichen Ausscheren an unübersichtlicher Stelle im Ausserortsbereich immer mit nahendem Gegenverkehr zu rechnen und kann jeweils nicht abgeschätzt werden, wie entgegenkommende Fahrzeuglenker reagieren, welche nicht mit solchen Manövern zu rechnen haben. Der Umstand, dass der Beschuldigte das Polizeifahrzeug nicht gesehen hat, obwohl er zuvor rechts und links am Lkw vorbei nach vorne sah, zeigt dies exemplarisch auf. Mit der
Staatsanwaltschaft darf das Manöver des Beschuldigten zwar nicht bagatellisiert werden (Urk. 72 S. 18). Immerhin kann sein Verhalten – ähnlich wie beim Versuchstatbestand – aber auch nicht mit tatsächlich durchgeführten Überholmanövern verglichen werden, bei welchen gänzlich rücksichtslos vorgefahren wird. Das objektiv leichte Tatverschulden ist daher im untersten Bereich des unteren Strafrahmendrittels anzusiedeln. Es erscheinen 25 Tagessätze angemessen.
Subjektiv ist zu berücksichtigen, dass der Beschuldigte eventualvorsätzlich handelte und die verursachte Gefährdung nicht Ziel seines Verhaltens war. Dennoch resultierte daraus ein Manöver ohne nachvollziehbaren Grund, folgte er gemäss eigenen Aussagen dem sich regelkonform verhaltenden Lkw doch bereits über einen längeren Zeitraum und war er nicht in Eile (Prot. I S. 10 f.). Das subjektive Tatverschulden vermag die objektive Tatschwere daher weder zu erhöhen noch zu relativieren.
Der Beschuldigte ist in Zürich geboren, schloss nach dem Gymnasium ein Studium in … ab und war hernach mehrere Jahre in einer Grossbank tätig. Heute arbeitet er als Schulleiter, hat eine volljährige Tochter und ist von seiner Ehefrau geschieden (Prot. I S. 5 f.). Die persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten sowie seine Vorstrafenlosigkeit wirken sich strafzumessungsneutral aus (Urk. 54). Gleiches gilt für den Umstand, dass der Beschuldigte sich nicht geständig zeigt.
Höhe der Geldstrafe
Insgesamt erscheint eine Geldstrafe von 25 Tagessätzen angemessen.
Gemäss Art. 34 Abs. 2 StGB bemisst sich die Höhe des Tagessatzes nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters im Zeitpunkt des Urteils, namentlich nach Einkommen und Vermögen, Lebensaufwand, allfälligen Familien- und Unterstützungspflichten sowie nach dem Existenzminimum. Ausgangspunkt für die Bemessung der Höhe des Tagessatzes bildet das Einkommen, das dem Täter durchschnittlich an einem Tag zufliesst, ganz gleich, aus welcher Quelle die Einkünfte stammen (BGE 134 IV 60 E. 6). Was gesetzlich geschuldet ist dem Täter wirtschaftlich nicht zukommt ist abzuziehen, so die
laufenden Steuern, die Beiträge an die obligatorische Kranken- und Unfallversicherung, allfällige Familien- und Unterstützungspflichten sowie die notwendigen Berufsauslagen. Demgegenüber können Hypothekarzinsen wie an sich Wohnkosten überhaupt in der Regel nicht in Abzug gebracht werden (Urteil 6B_900/2020 vom 1. Oktober 2020 E. 2.2).
Der Beschuldigte erzielt ein monatliches Einkommen von rund Fr. 8'900.– netto, erhält jedoch einen 13. Monatslohn. Dies entspricht einem monatlichen Einkommen von rund Fr. 9'600.– (Urk. 63/3; Urk. 75 S. 2). Zusätzlich generiert er mit seiner Gewerbeliegenschaft einen Gewinn von ca. Fr. 1'666.– pro Monat (Fr. 20'000.– / 12 = Fr. 1'666.67; vgl. Urk. 75 S. 2 f.). Es kann daher gesamthaft von durchschnittlichen monatlichen Einkünften von Fr. 11'266.– ausgegangen werden. Abzüglich der vom Beschuldigten geltend gemachten monatlichen Auslagen (Unterhaltsbeiträge von insgesamt Fr. 1'000.–; Krankenkasse Fr. 375.–; Steuern Fr. 1'750.–) resultiert für die Berechnung des Tagessatzes ein tatsächliches monatliches Einkommen von Fr. 8'141.– (vgl. Urk. 63/1-8; Prot. II
S. 2 f.). Die Tagessatzhöhe ist somit auf Fr. 270.– festzulegen.
Verbindungsbusse und konkrete Strafe
Um der im Strassenverkehr bekannten Schnittstellenproblematik gerecht zu werden, rechtfertigt sich zudem die Ausfällung einer zu bezahlenden Verbin- dungsbusse (vgl. zur Schnittstellenproblematik: BGE 134 IV 60 E. 7.3.1). Es liegt ein klassischer Fall vor, bei welchem ein Täter durch den bedingten Vollzug der Geldstrafe nicht besser fahren soll als jener, der für eine geringere Verkehrsregelverletzung eine unbedingte Busse erhält. Allerdings darf die Verbindungsbusse gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht zu einer Straferhöhung führen (BGE 135 IV 188 E. 3.3). Sie erlaubt lediglich innerhalb der schuldangemessenen Strafe eine täter- und tatangemessene Sanktion, wobei die an sich verwirkte Geldstrafe und die damit verbundene Busse in ihrer Summe schuldangemessen sein müssen (vgl. BGE 134 IV 1 E. 4.5.2).
Angesichts der finanziellen Verhältnisse und der zuvor dargelegten Strafzumessungsfaktoren erweist sich eine Busse von Fr. 1'350.– angemessen
(Art. 42 Abs. 4 StGB in Verbindung mit Art. 106 StGB). Aufgrund der festgelegten Tagessatzhöhe (Fr. 270.–) entspricht die Verbindungsbusse 5 Tagessätzen, um welche die zuvor festgesetzte Strafe zu reduzieren ist.
Der Beschuldigte ist demnach mit einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr. 270.– und einer Busse in Höhe von Fr. 1'350.– zu bestrafen.
Vollzug
Dem Beschuldigten ist als Ersttäter der bedingte Vollzug der Geldstrafe zu gewähren und die Probezeit ist auf das Minimum von 2 Jahren festzusetzen (Art. 42 Abs. 1 StGB und Art. 44 Abs. 1 StGB).
Die Busse ist zu bezahlen. Für den Fall, dass der Beschuldigte die Busse schuldhaft nicht bezahlt, ist im Lichte der zuvor festgelegten Tagessatzhöhe eine Ersatzfreiheitsstrafe von 5 Tagen auszusprechen (BGE 134 IV 60 E. 7.3.3).
Untersuchung und erstinstanzliches Verfahren
Fällt die Rechtsmittelinstanz selber einen neuen Entscheid, so befindet sie darin auch über die von der Vorinstanz getroffene Kostenregelung (Art. 428 Abs. 3 StPO). Die Kosten für die Untersuchung und das erstinstanzliche Verfahren trägt die beschuldigte Person, wenn sie verurteilt wird und zwischen dem strafbaren Verhalten sowie den Kosten ein Kausalzusammenhang besteht (Art. 426 Abs. 1 StPO). Dies ist vorliegend der Fall. Dem Beschuldigten sind ausgangsgemäss die Kosten der Untersuchung und des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens aufzuerlegen. Die Gerichtsgebühr für das vorinstanzliche Verfahren ist dabei auf Fr. 1'500.– festzusetzen (Art. 424 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 14 Abs. 1 lit. a GebV OG). Eine Entschädigung für anwaltliche Verteidigung steht dem Beschul- digten bei dieser Ausgangslage nicht zu.
Berufungsverfahren
Die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens sind auf Fr. 2'500.– zu veranschlagen (§ 16 Abs. 1 GebV OG in Verbindung mit § 14 GebV OG). Da die Staatsanwaltschaft mit ihrer Berufung vollumfänglich obsiegt, sind die Kosten des Berufungsverfahrens dem Beschuldigten aufzuerlegen (Art. 428 Abs. 1 StPO). Auch hier steht eine Entschädigung des Beschuldigten aufgrund der ihn treffenden Kostenpflicht ausser Frage.
Es wird erkannt:
Der Beschuldigte A.
ist schuldig der groben Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG in Verbindung mit Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG.
Der Beschuldigte wird bestraft mit einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr. 270.– sowie mit einer Busse von Fr. 1'350.–.
Der Vollzug der Geldstrafe wird aufgeschoben und die Probezeit auf 2 Jahre festgesetzt.
Die Busse ist zu bezahlen. Bezahlt der Beschuldigte die Busse schuldhaft nicht, so tritt an deren Stelle eine Ersatzfreiheitsstrafe von 5 Tagen.
Die erstinstanzliche Gerichtsgebühr wird angesetzt auf: Fr. 1'500.–; die weiteren Kosten betragen:
Fr. 1'000.– Gebühr Anklagebehörde
Fr. 60.– Auslagen Polizei.
Die Kosten der Untersuchung und des erstinstanzlichen Verfahrens werden vollumfänglich dem Beschuldigten auferlegt.
Die zweitinstanzliche Gerichtsgebühr wird festgesetzt auf Fr. 2'500.–.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden vollumfänglich dem Beschul- digten auferlegt.
Dem Beschuldigten wird keine Entschädigung zugesprochen.
Schriftliche Mitteilung im Dispositiv an
die Verteidigung im Doppel für sich und zuhanden des Beschuldigten (versandt)
die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland (versandt) sowie in vollständiger Ausfertigung an
die Verteidigung im Doppel für sich und zuhanden des Beschuldigten
die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland
und nach unbenütztem Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. Erledigung allfälliger Rechtsmittel an
die Vorinstanz
das Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich, Abteilung Administrativmassnahmen, 8090 Zürich (PIN-Nr. 00.000.097.667)
die Koordinationsstelle VOSTRA/DNA mit Formular A.
Gegen diesen Entscheid kann bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen erhoben werden.
Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, von der Zustellung der vollständigen, begründeten Ausfertigung an gerechnet, bei der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen.
Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.
Obergericht des Kantons Zürich
I. Strafkammer
Zürich, 5. Mai 2022
Der Präsident:
lic. iur. Ch. Prinz
Der Gerichtsschreiber:
lic. iur. M. Keller
Zur Beachtung:
Der/die Verurteilte wird auf die Folgen der Nichtbewährung während der Probezeit aufmerksam gemacht:
Wurde der Vollzug einer Geldstrafe unter Ansetzung einer Probezeit aufgeschoben, muss sie vorerst nicht bezahlt werden. Bewährt sich der/die Verurteilte bis zum Ablauf der Probezeit, muss er/sie die Geldstrafe definitiv nicht mehr bezahlen (Art. 45 StGB); Analoges gilt für die bedingte Freiheitsstrafe.
Eine bedingte Strafe bzw. der bedingte Teil einer Strafe kann im Übrigen vollzogen werden (Art. 46 Abs. 1 bzw. Abs. 4 StGB),
wenn der/die Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen Vergehen begeht,
wenn der/die Verurteilte sich der Bewährungshilfe entzieht die Weisungen missachtet.
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
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