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Urteil Obergericht des Kantons Zürich (ZH)

Zusammenfassung des Urteils SB190442: Obergericht des Kantons Zürich

In dem vorliegenden Gerichtsverfahren vor dem Obergericht des Kantons Zürich II. Strafkammer ging es um mehrfachen, teilweise geringfügigen Diebstahl, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und weitere Vergehen. Der Beschuldigte wurde aufgrund nicht selbst verschuldeter Schuldunfähigkeit freigesprochen und zu einer ambulanten Massnahme verurteilt. Die Privatkläger wurden auf den Zivilweg verwiesen, die Gerichtskosten betrugen insgesamt 21'310.75 CHF. Die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung legten Berufung ein, wobei es um die Anrechnung der Untersuchungshaft an eine stationäre Massnahme ging. Das Bundesgericht hob das vorherige Urteil auf und wies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Obergericht zurück. Es wurde festgestellt, dass der Beschuldigte einen Genugtuungsanspruch aufgrund der erstandenen Haft hat, jedoch wurde die Entscheidung über die Höhe des Anspruchs auf das Ende der ambulanten Massnahme verschoben. Die Kosten des Verfahrens wurden auf die Gerichtskasse genommen.

Urteilsdetails des Kantongerichts SB190442

Kanton:ZH
Fallnummer:SB190442
Instanz:Obergericht des Kantons Zürich
Abteilung:II. Strafkammer
Obergericht des Kantons Zürich Entscheid SB190442 vom 02.12.2019 (ZH)
Datum:02.12.2019
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Mehrfacher, teilweise geringfügiger Diebstahl etc. (Rückweisung des Schweizerischen Bundesgerichtes)
Schlagwörter : Urteil; Beschuldigte; Berufung; Massnahme; Beschuldigten; Genugtuung; Verfahren; Verfahren; Bundesgericht; Staatsanwalt; Genugtuungsanspruch; Staatsanwaltschaft; Berufungsverfahren; Gericht; Winterthur; Sinne; Untersuchung; Untersuchungs; Bezirksgericht; Entschädigung; Kantons; Verteidigung; Entscheid; Überhaft; Behandlung; Urteils; Gerichtskasse; Dispositiv
Rechtsnorm:Art. 144 StGB ;Art. 186 StGB ;Art. 286 StGB ;Art. 363 StPO ;Art. 3b VRV ;Art. 402 StPO ;Art. 431 StPO ;Art. 59 StGB ;Art. 63 StGB ;Art. 63b StGB ;Art. 93 StGB ;Art. 96 VRV ;
Referenz BGE:135 III 334; 143 IV 214;
Kommentar:
-

Entscheid des Kantongerichts SB190442

Obergericht des Kantons Zürich

II. Strafkammer

Geschäfts-Nr.: SB190442-O/U/ad-cs

Mitwirkend: Oberrichter lic. iur. Spiess, Präsident, Oberrichterin lic. iur. WasserKeller und Oberrichterin lic. iur. Schärer sowie Gerichtsschreiber MLaw Orlando

Urteil vom 2. Dezember 2019

in Sachen

Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland, vertreten durch Staatsanwalt lic. iur. Wicky,

Anklägerin und Berufungsklägerin

gegen

A. ,

Beschuldigter und Berufungsbeklagter

amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt lic. iur. X. , vertreten durch Beistand B. ,

betreffend mehrfachen, teilweise geringfügigen Diebstahl etc. (Rückweisung des Schweizerischen Bundesgerichtes)

Berufung gegen ein Urteil des Bezirksgerichtes Winterthur vom 10. Februar 2017 (DG160076); Urteil des Obergerichtes des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 27. Februar 2018 (SB170165); Urteil des Schweizerischen Bundesgerichtes vom 12. August 2019 (6B_375/2018)

Antrag:

Der Antrag der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland vom 22. November 2016 (Urk. 18) ist diesem Urteil beigeheftet.

Urteil der Vorinstanz:

  1. Es wird festgestellt, dass der Beschuldigte A. folgende Tatbestände in objektiver und subjektiver Hinsicht erfüllt hat:

    • mehrfacher, teilweise geringfügiger Diebstahl im Sinne von Art. 139 Ziff. 1 StGB, teilweise in Verbindung mit Art. 172 ter Abs. 1 StGB;

    • mehrfacher Hausfriedensbruch im Sinne von Art. 186 StGB;

    • mehrfache Sachbeschädigung im Sinne von Art. 144 Abs.1 StGB;

    • Hinderung einer Amtshandlung im Sinne von Art. 286 Abs. 1 StGB;

    • Lenken eines Motorfahrzeugs ohne Berechtigung im Sinne von Art. 95 Abs. 1 lit. a SVG;

    • Nichttragen eines Schutzhelms im Sinne von Art. 96 VRV in Verbindung mit Art. 3b Abs. 1 VRV.

      Vom Vorwurf der Hehlerei im Sinne von Art. 160 Ziff. 1 StGB wird der Beschuldigte freigesprochen.

  2. Aufgrund der nicht selbst verschuldeten Schuldunfähigkeit wird von einer Strafe abgesehen.

  3. Es wird eine ambulante Massnahme im Sinne von Art. 63 Abs. 1 StGB (Behandlung von psychischen Störungen und Suchtbehandlung) angeordnet.

  4. Für die Dauer der Behandlung wird eine Bewährungshilfe gemäss Art. 93 StGB angeordnet.

  5. Die Privatkläger 1 - 4 werden mit ihren Schadenersatzbegehren auf den Weg des Zivilprozesses verwiesen. Das Genugtuungsbegehren der Privatklägerin 4 (C. GmbH) wird abgewiesen.

  6. Die Gerichtsgebühr wird angesetzt auf:

    Fr. 3'600.00; die weiteren Kosten betragen: Fr. 2'100.00 Gebühr für das Vorverfahren Fr. 8'871.40 Auslagen (Gutachten)

    Fr. 630.00 Auslagen Polizei

    Fr. 6'109.35 amtliche Verteidigung

    Fr. 21'310.75 Total

    Allfällige weitere Kosten bleiben vorbehalten.

    Verlangt keine der Parteien eine schriftliche Begründung des Urteils, ermässigt sich die Entscheidgebühr auf zwei Drittel.

  7. Die Kosten der Untersuchung und des gerichtlichen Verfahrens, einschliesslich derjenigen der amtlichen Verteidigung und derjenigen des psychiatrischen Gutachtens, werden definitiv auf die Gerichtskasse genommen.

  8. Dem Beschuldigten wird für die erstandene Haft der Betrag von Fr. 14'600.zuzüglich 5 % Zins ab 20. September 2016 als Genugtuung aus der Gerichtskasse zugesprochen. Der Betrag von Fr. 14'600.ist zahlbar an den Beistand, B. , [Adresse], zugunsten des Beschuldigten.

Berufungsanträge:

  1. Der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich: (Urk. 78, schriftlich)

    Es sei die im Verfahren Unt.Nr. 2016/7215 (DG160076) erstandene 292tägige Untersuchungsund Sicherheitshaft an die stationäre Massnahme gemäss Urteil des Bezirksgerichts Winterthur vom 7. November 2018 (DG180073) anzurechnen.

  2. Der Verteidigung des Beschuldigten: (Urk. 85, schriftlich)

    1. Die Berufung sei abzuweisen.

    2. Eventualiter sei auf den Genugtuungsanspruch des Berufungsbeklagten infolge erlittener Haft von 292 Tagen nicht einzutreten.

      Es sei sicherzustellen, dass der Genugtuungsanspruch nach Aufhebung bzw. Beendigung der ambulanten Massnahme erstinstanzlich behandelt wird.

      Unter Kostenfolgen zu Lasten der Staatskasse.

      Erwägungen:

      1. Verfahrensgang

        1. Gegen das eingangs im Dispositiv erwähnte Urteil des Bezirksgerichtes Winterthur vom 10. Februar 2017 erhob die Staatsanwaltschaft Winterthur / Unterland

          (nachfolgend: Staatsanwaltschaft) rechtzeitig Berufung und reichte fristgerecht die Berufungserklärung ein (Urk. 43; Urk. 53). Weder seitens des Beschuldigten noch seitens der Privatklägerschaft wurde Anschlussberufung erhoben (vgl. Urk. 54 f). Mit Beschluss vom 14. Juni 2017 wurde das schriftliche Verfahren angeordnet (Urk. 56). Beweisanträge wurden keine gestellt. Das Urteil im ersten Berufungsverfahren SB170165 erging am 27. Februar 2018 (Urk. 66). Zu den Einzelheiten des Verfahrensgangs sowie insbesondere zu den von der Referentin und vom Gerichtsschreiber zu Protokoll genommenen Minderheitsvoten (Prot. II S. 8 ff. und

          S. 13 ff.) im ersten Berufungsverfahren sei auf die entsprechenden Erwägungen im schriftlich begründeten Urteil der Berufungskammer vom 27. Februar 2018 zu verweisen (Urk. 66 S. 4 f.). Mit Urteil der erkennenden Kammer vom 27. Februar 2018 wurde dem Beschuldigten in Bestätigung der Dispositivziffer 8 des angefochtenen Urteils vom 10. Februar 2017 für 292 Tage erstandene Untersuchungsund Sicherheitshaft Fr. 14'600.zuzüglich 5 % Zins ab 20. September 2016 als Genugtuung zugesprochen. Betreffend die Kostenund Entschädigungsregelung sei auf das Urteilsdispositiv verwiesen (Urk. 66 S. 14).

        2. Gegen das Urteil der erkennenden Kammer vom 27. Februar 2018 erhob die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich innert Frist mit Eingabe vom 11. April 2018 Beschwerde in Strafsachen an das Schweizerische Bundesgericht

          (Urk. 69/1). Sie beantragte, es sei das Urteil der II. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Zürich vom 27. Februar 2018 aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter sei vorgenanntes Urteil aufzuheben, und die vom Beschuldigten erstandenen Hafttage seien an die ambulante Massnahme anzurechnen (Urk. 69/2 S. 1 u. 2). Mit Urteil der strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes vom 12. August 2019 (Urteil 6B_375/2018 vom 12. August 2019) wurde die Beschwerde gutgeheissen, das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die hiesige Kammer zurückgewiesen (Urk. 75 S. 11).

        3. Mit Beschluss vom 1. Oktober 2019 wurde das schriftliche Verfahren angeordnet und den Parteien Frist angesetzt, um zum verbleibenden Verfahrensgegenstand Stellung zu nehmen (Urk. 76). Dem kamen die Staatsanwaltschaft mit

        Eingabe datierend vom 3. Oktober 2019 (hierorts eingegangen am 8. Oktober 2019; Urk. 78) sowie die amtliche Verteidigung des Beschuldigten mit Eingabe vom 4. November 2019 (Urk. 80) jeweils innert Frist (Urk. 77/1-2, Urk. 78; Urk. 80) nach. Die jeweiligen Stellungnahmen der Parteien (Urk 78 u. Urk. 80) wurden je zur Kenntnisnahme zugestellt (Urk. 82/1-3; Urk. 83). Mit Eingabe vom 22. November 2019 reichte der amtliche Verteidiger eine Stellungnahme zur Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft vom 3. Oktober 2019 ein (Urk. 85). Diese Stellungnahme wurde der Staatsanwaltschaft mit Präsidialverfügung vom 27. November 2019 zur Kenntnisnahme und mit dem Hinweis zugestellt, dass die Stellungnahme der amtlichen Verteidigung (Urk. 85) zu keinen Weiterungen Anlass gebe und folglich auf die Einholung weiterer Stellungnahmen verzichtet werde

        (Urk. 86). Das Verfahren erweist sich als spruchreif.

      2. Prozessuales

        1. Heisst das Bundesgericht eine Beschwerde gut und weist es die Angelegenheit zur neuen Beurteilung an das Berufungsgericht zurück, hat die mit der Neubeurteilung befasste kantonale Instanz nach ständiger Rechtsprechung die rechtliche Beurteilung, mit der die Zurückweisung begründet wird, ihrer Entscheidung zugrunde zu legen. Wegen dieser Bindung der Gerichte ist es diesen wie auch den Parteien, abgesehen von allenfalls zulässigen Noven, verwehrt, der Beurteilung des Rechtsstreits einen anderen als den bisherigen Sachverhalt zu unterstellen die Sache unter rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, die im Rückweisungsentscheid ausdrücklich abgelehnt überhaupt nicht in Erwägung gezogen worden sind (BGE 135 III 334 E. 2 und E. 2.1 S. 335 f. mit Hinweisen). Diese Rechtsprechung kommt zum Tragen, wenn das Bundesgericht eine Angelegenheit lediglich zur neuen rechtlichen Würdigung an die Vorinstanz zurückweist. Dies ist unter anderem der Fall, wenn die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung vor Bundesgericht nicht angefochten war. Steht im Rückweisungsverfahren nur noch die rechtliche Würdigung zur Diskussion, muss die mit der Neubeurteilung befasste kantonale Instanz keine neue mündliche Berufungsverhandlung durchführen und sie darf, abgesehen von allenfalls zulässigen Noven, auch keine neue Beweiswürdigung vornehmen (BGE 143 IV 214 E. 5.3.3). Das Verfahren wird nur insoweit neu in Gang gesetzt, als dies notwendig ist, um den verbindlichen Erwägungen des Bundesgerichts Rechnung zu tragen (BGE 143 IV 214

          E. 5.2.1 mit Hinweisen und Urteil des Bundesgerichts 6B_1366/2016 vom 6. Juni 2017 E. 3.2.1).

        2. Im aufgehobenen Urteil der hiesigen Kammer vom 27. Februar 2018 wurde festgehalten, dass der vorinstanzliche Entscheid betreffend die Dispositivziffern 1 (Feststellung der erfüllten Tatbestände sowie Freispruch), 2 (Absehen von Strafe aufgrund nicht selbst verschuldeter Schuldunfähigkeit), 3 (ambulante Behandlung), 4 (Bewährungshilfe), 5 (Zivilpunkt) sowie 6-7 (Kostenregelung) nicht angefochten worden und entsprechend in Rechtskraft erwachsen (Art. 402 StPO) seien (Urk. 66 Ziffer I.2.2.). Daran hat sich nichts geändert. Entsprechend ist vorab mittels Beschluss festzustellen, dass vorerwähnte Dispositivziffern des vorinstanzlichen Urteils vom 10. Februar 2017 in Rechtskraft erwachsen sind.

        3. Der bundesgerichtliche Rückweisungsentscheid betrifft die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Beschuldigte für die erstandene Untersuchungshaft von 292 Tagen zu entschädigen ist bzw. ob eine Anrechnung der Untersuchungshaft an die mit Urteil des Bezirksgerichts Winterthur vom 10. Februar 2017 angeordnete und in Rechtskraft erwachsene ambulante Massnahme zu erfolgen hat (vgl. hienach Ziffer III.1.). Ferner legte das Bundesgericht dar, in welchem Verfahren ein Genugtuungsanspruch des Beschuldigten nach Aufhebung bzw. Beendigung der ambulanten Massnahme zu prüfen ist (Urk. 75 S. 7 ff.). Wie nachstehend darzulegen sein wird, ist im vorliegenden zweiten Berufungsverfahren gemäss den bundesgerichtlichen Erwägungen nicht abschliessend über einen Entschädigungsbzw. Genugtuungsanspruch des Beschuldigten zu befinden (vgl. hienach Ziffer III.4.). Ferner wird zu prüfen sein, ob eine Neuregelung der Kostenund Entschädigungsfolgen im (ersten) Berufungsverfahren SB170165 geboten ist (vgl. hienach Ziffer IV.1.).

      3. Entschädigungsanspruch des Beschuldigten

        1. In Bezug auf die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Beschuldigte für die erlittene Haft zu entschädigen sei, stellte das Bundesgericht in einem ersten Schritt fest, dass vorliegend das Bestehen eines Entschädigungsbzw. Genugtuungsanspruchs des Beschuldigten auf der Grundlage von Art. 431 Abs. 2 StPO zu prüfen sei. Von der Vorinstanz sei erstinstanzlich festgestellt worden, dass der Beschuldigte die ihm vorgeworfenen Tatbestände im Zustand der nicht selbst verschuldeten Schuldunfähigkeit erfüllt habe. Ferner habe die Vorinstanz eine ambulante therapeutische Massnahme angeordnet. Infolgedessen sei kein Freispruch ergangen, weshalb kein Anwendungsfall von Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO vorliege (Urk. 75 S. 4 E. 2.4.). Weiter bestehe gemäss Art. 431 Abs. 2 StPO sodann ein Anspruch auf Entschädigung resp. Genugtuung wegen Überhaft, welche vorliege, wenn die Untersuchungshaft rechtmässig angeordnet worden sei, hingegen die tatsächlich ausgefällte Sanktion überdauere. Die Überhaft werde ferner nur in Form eines finanziellen Ausgleichs entschädigt, wenn sie nicht an die ausgesprochene Sanktion angerechnet werden könne. In einem zweiten Schritt erwog das Bundesgericht sodann, dass die Untersuchungsbzw. Sicherheitshaft an eine ambulante Massnahme anzurechnen sei, wenn Letzterer freiheitsentziehende Wirkung zukomme (Urk. 75 S. 8 E. 2.7.). Im Hinblick auf einen dem Beschuldigten infolge Überhaft zustehenden Genugtuungsanspruch hielt das Bundesgericht ferner fest, dass gemäss Art. 63b Abs. 4 StGB das Gericht entscheide, inwieweit der mit der ambulanten Behandlung verbundene Freiheitsentzug auf die Strafe angerechnet werde. Eine ambulante Massnahme sei in demjenigen Masse auf die Strafe anrechenbar, wie eine tatsächliche Beschränkung der persönlichen Freiheit vorliege. In diesem Zusammenhang sei im Wesentlichen von Bedeutung, mit welchem Zeitund Kostenaufwand die Massnahme für den Betroffenen verbunden gewesen sei (Urk. 75 S. 9 E. 2.8.2.). Ein Genugtuungsanspruch des Beschuldigten zufolge Überhaft sei nur gegeben, wenn sich ex post zeigen sollte, dass das Gesamtmass des mit der ambulanten Behandlung einhergehenden Freiheitsentzugs von der Dauer her im Einzelfall kürzer sei, als die erstandene Untersuchungsbzw. Sicherheitshaft. Da im Urteilszeitpunkt vom

        27. Februar 2018 weder festgestanden sei, ob der angeordneten und in Rechtskraft erwachsenen ambulanten Massnahme freiheitsentziehende Wirkung zukomme, noch feststellbar gewesen sei, zu welchem Gesamtmass an Freiheitsentzug die ambulante Massnahme dereinst führen werde, liessen sich entsprechende Feststellungen erst nach Aufhebung bzw. Beendigung sowie unter konkreter Berücksichtigung der konkreten Ausgestaltung der jeweiligen ambulanten Massnahme treffen. Die Frage, ob eine nach 431 Abs. 2 StPO zu entschädigende Überhaft vorliege, sei in einem selbstständigen nachträglichen Verfahren im Sinne von Art. 363 StPO nach Ablauf der ambulanten Massnahme zu beurteilen (Urk. 75 S. 10 E. 2.9.).

        1. Die Staatsanwaltschaft brachte mit Eingabe datierend vom 3. Oktober 2019 vor, dass mit Urteil des Bezirksgerichtes Winterthur vom 7. November 2018 (Geschäfts-Nr.: DG180073) für den wiederum als schuldunfähig erachteten Beschuldigten eine stationäre Massnahme im Sinne von Art. 59 Abs. 1 StGB angeordnet worden sei (Urk. 78 S. 2; vgl. Urk. 79 S. 37). Da als ausgeschlossen erscheine, dass die mit Urteil des Bezirksgerichtes Winterthur vom 10. Februar 2017 angeordnete ambulante Massnahme in Vollzug gesetzt werden könne, beantragt die Staatsanwaltschaft, es sei die erstandene Untersuchungshaft (292 Tage) an die stationäre Massnahme gemäss Urteil des Bezirksgerichts Winterthur vom 7. November 2018 anzurechnen (Urk. 78 S. 2).

        2. Der Beschuldigte lässt beantragen, die Berufung sei abzuweisen. Eventualiter sei auf den Genugtuungsanspruch infolge erlittener Haft von 292 Tagen nicht einzutreten. Ferner sei sicherzustellen, dass der Genugtuungsanspruch nach Aufhebung bzw. Beendigung der ambulanten Massnahme erstinstanzlich behandelt werde (Urk. 80 S. 1; Urk 85 S. 1).

        3. Das Bundesgericht bejahte einen Genugtuungsanspruch des Beschuldigten zufolge Überhaft gestützt auf Art. 431 Abs. 2 StPO, sofern sich nach Abbruch bzw. Beendigung der mit erstinstanzlichem Urteil vom 10. Februar 2017 angeordneten ambulanten Massnahme ergibt, dass das Gesamtmass des mit der ambulanten Behandlung gegebenenfalls einhergehenden Freiheitsentzugs in Bezug auf die Dauer kürzer ist, als die erstandene Untersuchungshaft. Ferner legte das Bundesgericht dar, dass ein Genugtuungsanspruch in einem selbstständigen

        nachträglichen Verfahren im Sinne von Art. 363 StPO zu beurteilen ist (Urk. 75 S. 10 E. 2.9.). Bereits vor diesem Hintergrund fällt ausser Betracht, wie dies von der Staatsanwaltschaft beantragt wird (Urk. 78 S. 2), in vorliegendem Berufungsverfahren über die Anrechnung der erstandenen Hafttage des Beschuldigten (292 Tage) an die mit Urteil vom 7. November 2018 in anderer Sache angeordnete stationäre Massnahme zu entscheiden. Entsprechend muss auch nicht näher auf den Einwand der amtlichen Verteidigung eingegangen werden, wonach entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft die in einem rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren erstandene Untersuchungsund Sicherheitshaft nicht an eine stationäre Massnahme angerechnet werden könne, welche in einem späteren Verfahren angeordnet werde (Urk. 85 S. 2).

        Aufgrund der staatsanwaltlichen Ausführungen wurde die ambulante Massnahme zwar noch nicht in Vollzug gesetzt (Urk. 78 S. 2). Den Akten ist jedoch nicht zu entnehmen, dass die erstinstanzlich mit Urteil des Bezirksgerichtes Winterthur vom 10. Februar 2017 angeordnete und unangefochten gebliebene ambulante Massnahme (zufolge Anordnung einer stationären Massnahme) aufgehoben worden ist. Damit kann ein Entscheid über den Genugtuungsanspruch bzw. eine Anrechnung der Hafttage in vorliegendem Berufungsverfahren nicht ergehen, weil die dafür notwendigen Tatsachenfeststellungen zur Zeit noch nicht getroffen werden können. Mithin mangelt es zur Zeit an einer Prozessvoraussetzung für die Beurteilung des Genugtuungsanspruchs, weshalb darauf nicht einzutreten ist. Es ist jedoch festzuhalten, dass der Umfang des Genugtuungsanspruchs des Beschuldigten von Fr. 14'600.zuzüglich 5% Zins ab 20. September 2016 für 292 Tage erstandene Haft unangefochten blieb (s. Urk. 76 S. 3 f.) und nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens war, weshalb einzig die Frage nach dem Ausmass der Anrechenbarkeit der ambulanten Massnahme offen bleibt. Diesbezüglich gilt es darauf hinzuweisen, dass die ambulante Massnahme von Seiten der Justizvollzugsbehörden in Anwendung von Art. 63a und 63b StGB den aktuellen Verhältnissen angepasst werden kann, was jedoch ebenfalls nicht in diesem Verfahren, sondern gegebenenfalls auch im selbständigen nachträglichen Verfahren zu berücksichtigen wäre. Im Sinne der bundesgerichtlichen Erwägungen und in Abänderung der Dispositivziffer 8 des vorinstanzlichen Urteils vom 10. Februar

        2017 ist festzuhalten, dass dem Beschuldigten zufolge Überhaft ein Genugtuungsanspruch zusteht, sofern nach Aufhebung bzw. Beendigung der ambulanten Massnahme feststeht, dass der mit dieser gegebenenfalls einhergehende Freiheitsentzug kürzer war, als die 292 Tage dauernde Untersuchungshaft. Zur abschliessenden Beurteilung eines allfälligen Genugtuungsanspruchs zufolge Überhaft gestützt auf Art. 431 Abs. 2 StPO ist der Beschuldigte auf das selbstständige nachträgliche Verfahren im Sinne von Art. 363 StPO zu verweisen. Gemäss

        Art. 363 Abs. 1 StPO ist dafür das erstinstanzliche Gericht zuständig. Dies ermöglicht dem Gesuchsteller für die neue Entscheidung ebenfalls die Überprüfung durch eine zweite Instanz. Insofern handelt es sich wohl im bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid um ein Versehen, wenn in Erwägung 2.9. der Entscheid über die Anrechenbarkeit der Vorinstanz vorbehalten wird (Urk. 75 S. 10).

      4. Kostenund Entschädigungsfolgen

  1. Im Urteil vom 27. Februar 2018 des ersten Berufungsverfahrens SB170165 wurden die Kosten desselben vollumfänglich auf die Gerichtskasse genommen. Ferner wurde der amtliche Verteidiger des Beschuldigten aus der Gerichtskasse entschädigt (Urk. 66 S. 13). Diese Kostenund Entschädigungsregelung wurde dem Ausgang des ersten Berufungsverfahrens SB170165 entsprechend getroffen. Trotz Gutheissung der von der Staatsanwaltschaft erhobenen Beschwerde in Strafsachen rechtfertigt es sich dem Ausgang des vorliegenden zweiten Berufungsverfahrens entsprechend nicht, dem Beschuldigten Kosten für das erste Berufungsverfahren aufzuerlegen. Obwohl die Staatsanwaltschaft mit ihrer Berufung die Aufhebung der Dispositivziffer 8 des vorinstanzlichen Urteils erreicht, ist damit noch nicht abschliessend über die Zusprechung einer Genugtuung an den Beschuldigten entschieden worden. Darüber wird wie vorstehend ausgeführt in einem selbstständigen nachträglichen Verfahren zu entscheiden sein. Von einem Obsiegen der Staatsanwaltschaft, die im ersten Berufungsverfahren beantragte, es sei von einer Genugtuung abzusehen (Urk. 53 S. 2), kann nicht ausgegangen werden. In diesem Sinne erweist sich die Kostenund Entschädigungsregelung im Urteil vom 27. Februar 2018 nach wie vor als angemessen und ist zu bestätigen.

  2. Die Kosten des vorliegenden Berufungsverfahrens sind entstanden, weil das erste Urteil der erkennenden Kammer im bundesgerichtlichen Verfahren aufgehoben wurde. Sie sind demgemäss auf die Gerichtskasse zu nehmen (Art. 426

Abs. 3 lit. a StPO). Demzufolge gehen auch die Kosten der amtlichen Verteidigung auf die Gerichtskasse. Der amtliche Verteidiger des Beschuldigten reichte mit Eingabe vom 4. November 2019 eine Honorarnote betreffend die anwaltlichen Aufwendungen ein (Urk. 81). Die darin aufgeführten Aufwendungen von insgesamt Fr. 629.95 erweisen sich als angemessen. Hinzuzurechnen ist der nach dem

4. November 2019 angefallene und ausgewiesene Aufwand für das Einreichen der Stellungnahme vom 22. November 2019 (Urk. 85; Urk. 86). Das Honorar des amtlichen Verteidigers für das zweite Berufungsverfahren ist entsprechend auf Fr. 800.festzusetzen.

Es wird beschlossen:

  1. Es wird festgestellt, dass das Urteil des Bezirksgerichtes Winterthur vom

    10. Februar 2017 bezüglich der Dispositivziffern 1 (Feststellung der erfüllten Tatbestände sowie Freispruch), 2 (Absehen von Strafe aufgrund nicht selbst verschuldeter Schuldunfähigkeit), 3 (ambulante Behandlung), 4 (Bewährungshilfe), 5 (Zivilpunkt) sowie 6-7 (Kostenregelung) in Rechtskraft erwachsen ist.

  2. Schriftliche Mitteilung mit nachfolgendem Urteil.

Es wird erkannt:

  1. Auf den Genugtuungsanspruch des Beschuldigten in der Höhe von

    Fr. 14'600.zuzüglich 5% Zins ab 20. September 2016 für 292 Tage erstandene Haft wird derzeit nicht eingetreten. Darüber ist nach Ablauf der ambulanten Massnahme zu entscheiden.

  2. Der Beschuldigte hat seine Genugtuungsforderung gemäss Ziffer 1 im selbständigen nachträglichen Verfahren nach Art. 363 ff. StPO beim Bezirksgericht Winterthur geltend zu machen.

  3. Die Gerichtsgebühr für die Berufungsverfahren fällt ausser Ansatz. Das Honorar des amtlichen Verteidigers für beide Berufungsverfahren wird auf

    Fr. 1'160.70 festgesetzt und definitiv auf die Gerichtskasse genommen.

  4. Schriftliche Mitteilung in vollständiger Ausfertigung an

    • die amtliche Verteidigung im Doppel für sich und zuhanden des Beschuldigten

    • die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland

    • den Justizvollzug des Kantons Zürich, Abteilung Bewährungsund Vollzugsdienste

      und nach unbenütztem Alauf der Rechtsmittelfrist bzw. Erledigung allfälliger Rechtsmittel an

    • die Vorinstanz

    • den Justizvollzug des Kantons Zürich, Abteilung Bewährungsund Vollzugsdienste.

  5. Rechtsmittel:

Gegen diesen Entscheid kann bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen erhoben werden.

Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, von der Zustellung der vollständigen, begründeten Ausfertigung an gerechnet, bei der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen.

Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.

Obergericht des Kantons Zürich

II. Strafkammer Zürich, 2. Dezember 2019

Der Präsident:

Oberrichter lic. iur. Spiess

Der Gerichtsschreiber:

MLaw Orlando

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

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