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Urteil Obergericht des Kantons Zürich (ZH)

Kopfdaten
Kanton:ZH
Fallnummer:SB180318
Instanz:Obergericht des Kantons Zürich
Abteilung:I. Strafkammer
Obergericht des Kantons Zürich Entscheid SB180318 vom 23.09.2019 (ZH)
Datum:23.09.2019
Rechtskraft:Weiterzug ans Bundesgericht, 1B_518/2019
Leitsatz/Stichwort:Mehrfache, teilweise versuchte sexuelle Handlungen mit Kindern etc.
Zusammenfassung : In dem vorliegenden Fall ging es um eine Berufungsklage gegen ein Urteil des Bezirksgerichts Winterthur, in dem der Beschuldigte der mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind schuldig gesprochen wurde. Es wurde diskutiert, ob die schriftliche Niederschrift der Videoaufnahmen von Befragungen von kindlichen Opfern erforderlich ist. Das Obergericht des Kantons Zürich entschied, dass eine schriftliche Protokollierung auch bei Videoaufnahmen notwendig ist, um dem Anspruch auf rechtliches Gehör gerecht zu werden. Das Gericht wies den Fall an die Vorinstanz zurück und entschied über die Kosten des Berufungsverfahrens.
Schlagwörter : Video; Protokoll; Niederschrift; Staatsanwalt; Staatsanwaltschaft; Einvernahme; Gericht; Aussage; Berufung; Protokollierung; Privatklägerin; Verfahren; Aussagen; Verfahren; Aufzeichnung; Beschuldigte; Einvernahmen; Videoaufnahme; Videoaufzeichnung; Befragung; Vorschriften; Beschuldigten; Bundesgericht; Vorinstanz; Verteidigung; Entscheid; Akten; Auffassung; ätzlich
Rechtsnorm:Art. 144 StPO ; Art. 154 StPO ; Art. 329 StPO ; Art. 343 StPO ; Art. 379 StPO ; Art. 76 StPO ; Art. 78 StPO ;
Referenz BGE:130 II 473; 143 IV 408; 143 IV 415; 143 IV 422;
Kommentar:
Donatsch, Hans, Hansjakob, Lieber, 2. Aufl., Zürich, Art. 154 StPO, 2014
-, Kommentar StPO, Art. 76 StPO, 2014
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Entscheid

Obergericht des Kantons Zürich

I. Strafkammer

Geschäfts-Nr.: SB180318-O/U/cwo

Mitwirkend: die Oberrichter lic. iur. R. Naef, Präsident, lic. iur. B. Gut und Oberrichterin lic. iur. R. Affolter sowie der Gerichtsschreiber lic. iur. M. Keller

Beschluss vom 23. September 2019

in Sachen

  1. ,

    Beschuldigter und Berufungskläger

    amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt lic. iur. X. ,

    gegen

    Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, vertreten durch Staatsanwalt lic. iur. A. Knauss,

    Anklägerin und Berufungsbeklagte

    sowie

  2. ,

Privatklägerin und Anschlussberufungsklägerin (Rückzug) unentgeltlich vertreten durch Rechtsanwältin lic. iur. Y.

betreffend mehrfache, teilweise versuchte sexuelle Handlungen mit Kindern etc.

Berufung gegen ein Urteil des Bezirksgerichtes Winterthur, Einzelgericht, vom 15. Mai 2018 (GG180013)

Erwägungen:

  1. Prozessgeschichte

    1. Am 3. Juli 2017 erstattete die damals 13-jährige Privatklägerin B. Anzeige gegen den Beschuldigten wegen sexueller Handlungen (Urk. 1). Nach durchgeführter Untersuchung erhob die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich am 20. Februar 2018 beim Bezirksgericht Winterthur Anklage gegen den Beschuldigten wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kind und Nötigung (Urk. 16). Mit Urteil vom 15. Mai 2018 sprach die Einzelrichterin des Bezirksgerichts Winterthur den Beschuldigten der mehrfachen, teilweise versuchten sexuellen Handlungen mit einem Kind im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 StGB schuldig. Vom Vorwurf der Nötigung wurde der Beschuldigte freigesprochen (Urk. 41 S. 30).

    2. Gegen diesen Entscheid erhob der Beschuldigte fristgerecht Berufung (Urk. 36, 40/1-3 und 44) und die Rechtsbeiständin der Privatklägerin in der Folge Anschlussberufung, welche jedoch am 14. April 2019 wieder zurückgezogen wurde (Urk. 46, 48 und 63). Davon ist Vormerk zu nehmen.

    3. Mit Verfügung vom 5. April 2019 wurde der Staatsanwaltschaft aufgegeben, eine schriftliche Niederschrift der bis dahin lediglich als Videoaufzeichnung bei den Akten befindlichen Aussagen der Privatklägerin einzureichen (Urk. 60). Dem leistete die Staatsanwaltschaft keine Folge, unter anderem unter Berufung auf die Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft, welche eine Niederschrift nicht vorsehen.

    4. Mit Präsidialverfügung vom 12. Juli 2019 wurde den Parteien Gelegenheit gegeben, zu einer allfälligen Rückweisung Stellung zu nehmen (Urk. 77). Diese Stellungnahmen gingen am 25. Juli 2019 und am 27. August 2019 hierorts ein

      (Urk. 79 und 83).

  2. Niederschrift der Videoaufnahmen

    Die Privatklägerin wurde am 3. Juli 2017 und am 1. Dezember 2017 polizeilich als Auskunftsperson befragt (Urk. 3/5 und Urk. 3/8). Die Videoaufnahmen der Befragungen wurden zwar auf einem Speichermedium zu den Akten genommen, jedoch erfolgte keine Niederschrift dieser Befragungen in Form eines schriftlichen Protokolls. Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft ist unerheblich, dass von den Videobefragungen Zusammenfassungen von den wesentlichen Aussagen vorliegen (Urk. 79 S. 3; Urk. 3/1). Solche Zusammenfassungen sind in der Strafprozessordung nicht vorgesehen und beweisrechtlich nicht verwertbar. Sie enthalten Interpretationen und ersetzen keine Einvernahmeprotokolle Niederschriften von Aussagen.

  3. Standpunkt der Anklagebehörde

    In ihrer Stellungnahme machte die Staatsanwaltschaft zusammengefasst geltend, eine Abschrift der Videoaufzeichnung von Befragungen sei bei kindlichen Opfern nicht erforderlich (Urk. 62). Die Staatsanwaltschaft beruft sich einerseits auf die Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft Zürich (WOSTA), nach deren Wortlaut im Falle der Einvernahme von Kindern keine Pflicht zur Übertragung der Einvernahme in Schriftform bestehe (WOSTA, Fassung 1. April 2018, Ziff. 10.4.2.2.,

    S. 108). Andererseits stützt sich die Staatsanwaltschaft auf Literaturstellen.

  4. Gesetzliche Regelung und Rechtsprechung

    1. Gemäss Art. 76 Abs. 1 StPO werden die Aussagen der Parteien, die mündlichen Entscheide der Behörden sowie alle anderen Verfahrenshandlungen, die nicht schriftlich durchgeführt werden, protokolliert. Art. 76 Abs. 4 StPO bestimmt, dass die Verfahrensleitung anordnen kann, dass Verfahrenshandlungen zusätzlich zur schriftlichen Protokollierung ganz teilweise in Ton und Bild festgehalten werden können. Da der Wortlaut von Art. 76 Abs. 4 StPO von zusätzlicher audiovisueller Aufzeichnung spricht und nicht von an Stelle der schriftlichen Protokollierung, kann geschlossen werden, dass auf eine schriftliche Protokollierung Niederschrift auch im Falle audiovisueller Aufzeichnung nicht verzichtet werden kann. Dies bestätigte das Bundesgericht in einem neueren Entscheid vom

      29. September 2017 (BGE 143 IV 408). Es hielt fest, dass im Strafverfahren die Dokumentationspflicht gelte und sich die Pflicht zur schriftlichen Protokollführung aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör ableite (BGE 130 II 473 E. 4.2). Es verwies auf die Bestimmungen von Art. 76 StPO und Art. 78 StPO und wies die Sache an die Vorinstanz zurück mit der Anweisung, von einer bloss mit technischen Hilfsmitteln aufgezeichneten erstinstanzlichen Hauptverhandlung im Nachgang eine schriftliche Protokollniederschrift anzufertigen. Auch die Botschaft zur Strafprozessordnung hält wörtlich fest: [Art. 76] Absatz 4 lässt allgemein zu, dass Verfahrenshandlungen (und damit auch die in Artikel 76 geregelten Einvernahmen) mit technischen Hilfsmitteln aufgezeichnet werden. Diese sollen die schriftlichen Protokollierungen aber nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Am Grundsatz, dass die Verfahrensakten im Prinzip schriftlich sind, soll also festgehalten werden (BBl 2006 S. 1156). Dass dieser Grundsatz für Einvernahmen von kindlichen Opfern gemäss Art. 154 StPO nicht gelten soll, ist sachlich nicht begründbar, zumal kindliche Opfer in keiner Weise davon tangiert werden, ob eine schriftliche Niederschrift der Befragung erstellt wird nicht.

    2. Nebst den allgemeinem Vorschriften über das Protokoll beinhalten die Art. 144 und 154 der Strafprozessordnung gewisse Vorschriften über audiovisuelle Aufzeichnungen.

    3. Art. 144 StPO sieht vor, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte eine Einvernahme mittels Videokonferenz durchführen können, wenn das persönliche Erscheinen der einzuvernehmenden Person nicht nur mit grossem Aufwand möglich ist. Die Einvernahme werde in diesen Fällen in Ton und Bild festgehalten. Hinsichtlich der schriftlichen Protokollierung einer solchen Videokonferenz ist dem betreffenden Abschnitt im Gesetz über die Einvernahmen nichts zu entnehmen, insbesondere nicht, dass die schriftliche Protokollierung durch die Videoaufnahme ersetzt werde. Es kann deshalb nicht leichthin angenommen werden, dass die allgemeinen Vorschriften über die Protokollierung von Art. 76 - 78 StPO bei Art. 144 StPO nicht zur Anwendung kämen. Dies, zumal die Überschrift von Art. 78 StPO ausdrücklich Protokollierung von Einvernahmen lautet.

    4. Gemäss Art. 154 Abs. 4 lit. d StPO werden Einvernahmen von Kindern, bei denen keine Gegenüberstellung stattfindet, in Bild und Ton aufgezeichnet. Über die schriftliche Niederschrift solcher Einvernahmen finden sich in diesem Ab-

      schnitt des Gesetzes ebenfalls keine von Art. 76 und 78 StPO abweichenden Vorschriften.

    5. Die Literaturmeinungen zur Frage der schriftlichen Niederschrift der Videooder Tonaufnahme sind geteilt. Gemeinsam ist allerdings allen vertretenen Auffassungen, dass sie vor dem erwähnten BGE 143 IV 408 geäussert wurden.

    6. Die Staatsanwaltschaft weist zutreffend darauf hin, dass Schmid/Jositsch im Praxiskommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung die Auffassung vertreten, sowohl im Falle von Art. 144 StPO als auch im Falle von Art. 154 StPO sei eine Übertragung der audiovisuellen Einvernahme in Schriftform nicht zwingend (a.a.O., N 6 zu Art. 144 und N 11 zu Art. 154). Allerdings begründen diese Autoren ihre Auffassung mit keinem Wort. Gleich äussert sich auch Wohlers im Schulthess-Kommentar zur StPO. Die Videoaufnahme müsse nicht in Schriftform übertragen werden (W OLFGANG WOHLERS, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber, StPO Kommentar, 2. Aufl., Zürich 2014, N 14 zu Art. 154). Auch hier findet sich allerdings keine nähere Begründung für eine Abweichung von den allgemeinen Protokollierungsvorschriften. Immerhin äussert sich Brüschweiler im selben Kommentar im Rahmen von Art. 76 StPO, dass eine technische Aufzeichnung das schriftliche Protokoll nicht ersetzen könne (DANIELA BRÜSCHWEILER, a.a.O., N 8 zu Art. 76).

    7. Soweit sich die Staatsanwaltschaft auf den Basler Kommentar beruft (vgl. Urk. 62 S. 2), erscheint dies fraglich. Die entsprechende Stelle von Wehrenberg (N 24 zu Art. 154 StPO) ist nicht restlos klar; scheint sich aber eher auf den separaten Bericht über besondere Beobachtungen gemäss Art. 154 Abs. 4 lit. f StPO zu beziehen als auf eine Niederschrift der Befragung des Kindes selbst (vgl. W EHRENBERG in: BSK StPO, 2. Auflage, Basel 2014, Art. 154 N 24).

    8. Weitere Autoren äussern sich gegenteilig zum Verzicht auf schriftliche Protokollierung. So hält Oberholzer fest, dass eine audiovisuelle Aufnahme das schriftliche Protokoll nicht zu ersetzen, sondern bloss zu ergänzen vermöge (N IKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Aufl., Bern 2012, N 1275). Ebenso vertritt Valérie Berset Hemmer im Commentaire Romand die Auffassung, die Kinderbefragung nach Art. 154 StPO sei schriftlich festzuhalten

      (VALÉRIE BERSET HEMMER, Commentaire Romand, Code de procedure pénal suisse, Basel 2011, N 11 zu Art. 154). Auch Riklin spricht sich klar für eine schriftliche Niederschrift der Videoaufnahme aus, ausdrücklich auch bei Einvernahmen von Kindern nach Art. 154 StPO. Er weist darauf hin, dass ein vollständiger Ersatz des Protokolls durch Aufzeichnungen auch verfahrensökonomisch problematisch wäre, weil sich die Prozessbeteiligten diese Aufnahme mit grossem zeitlichem Aufwand unter Umständen mehrmals zu Gemüte führen müssten (FRANZ RIKLIN, OFKommentar StPO, 2. Aufl., Zürich 2014, N 5 zu Art. 76). Schliesslich spricht auch Melunovic stets von einer zur schriftlichen Protokollierung zusätzlichen audiovisuellen Aufzeichnung von Einvernahmen (KENAD MELUNOVIC, Das Erfordernis von audiovisuellen Aufzeichnungen im Strafverfahren als Ausfluss des Gebots des bestmöglichen Beweismittels, AJP 2016 S. 596 ff., 605 f.).

  5. Schlussfolgerung

    1. Da es sich vorliegend nicht um einen Fall von Art. 144 StPO mit einer nicht nur schwer zu erreichenden Person handelt, braucht nicht weiter darauf eingegangen zu werden, welche Protokollierungsvorschriften bei Videokonferenzen nach Art. 144 StPO gelten, auch wenn es gewisse Parallelitäten gibt.

    2. Die Staatsanwaltschaft beruft sich denn auch richtigerweise einzig auf Art. 154 StPO, welche lex specialis zu den allgemeinen Protokollierungsvorschriften sei. Zuzustimmen ist den Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft dahingehend, dass es für den Beweiswert einer Aussage ohne Bedeutung ist, ob eine schriftliche Niederschrift der audiovisuellen Aufnahme erfolgt nicht. Vorliegend ist die Frage jedoch einzig im Lichte der Dokumentationsvorschriften im Strafverfahren zu beurteilen. Es mag sein, dass allein gestützt auf den Wortlaut von Art. 154 Abs. 4 lit. d StPO, wonach die Einvernahme mit Bild und Ton aufgezeichnet werde, der Standpunkt vertretbar wäre, dass keine zusätzliche schriftliche Niederschrift nötig sei. Umgekehrt spricht der Wortlaut aber auch nicht davon, dass auf eine schriftliche Protokollierung Niederschrift verzichtet werden könne bzw. die Videoaufnahme an deren Stelle trete. Im Kontext mit den allgemeinen Vorschriften über den zwingenden Charakter einer schriftlichen Niederschrift von Art. 76 bis Art. 78 StPO ist ein Verzicht darauf nicht zulässig.

    3. Art. 154 StPO trägt den Titel besondere Massnahmen zum Schutz von Kindern. Gemäss Wortlaut von Art. 154 Abs. 4 StPO geht es in dieser Bestimmung um eine Vermeidung schwerer psychischer Belastung, insbesondere durch eine Gegenüberstellung [i.d.R. mit dem Täter]. Es ist nicht nachvollziehbar, inwieweit sich ein Verzicht auf eine schriftliche Niederschrift der Videobefragung als Schutzmassnahme für das befragte Kind auswirken könnte und Art. 154 StPO somit als Sondervorschrift (lex specialis) den allgemeinen Protokollierungsregeln von Art. 76 - 78 StPO vorgehen müsste. Auch das Bundesgericht hat in BGE 143 IV 408 klar die Auffassung geäussert, dass im Falle audiovisueller Aufzeichnung auf die schriftliche Niederschrift der verfahrensmässig relevanten Vorgänge nicht verzichtet werden könne. Zwar handelte es sich in jenem Fall um eine mehrtägige Videoaufzeichnung einer Gerichtsverhandlung, jedoch im Rahmen jener Verhandlung ebenfalls um Beweiserhebungen, mithin eine persönliche Befragung des Beschuldigten (BGE 143 IV 415 E. 6.2.2). Es wäre nicht nachvollziehbar, weshalb das Bundesgericht für eine Beweisabnahme bzw. eine Einvernahme eines Beschuldigten vor Gericht eine schriftliche Niederschrift der Videoaufzeichnung verlangt, nicht jedoch für Einvernahmen im Rahmen der Untersuchung.

      Schliesslich ist noch auf den Aspekt der Verfahrensökonomie einzugehen. Es trifft sicher zu, dass eine schriftliche Niederschrift der Videoaufzeichnung einen zusätzlichen Aufwand für die befragende Ermittlungsbehörde bedeutet. Allerdings können solche Aufgaben auch leicht an eine Schreibkraft delegiert werden. Diese Sichtweise übermässigen Aufwands lässt zudem den späteren Zusatzaufwand ausser Betracht. Für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage, die Entscheidfindung und die Begründung eines Entscheids genügt nämlich nie eine einmalige Visionierung der Videoaufzeichnung, denn bei der erstmaligen Visionierung steht erfahrungsgemäss nie fest, welche Passagen der Befragung rechtlich relevant sind und welche nicht, zumal bei der Visionierung die Ausführungen der Verteidigung noch gar nicht vorliegen. Dies mag auch beim schriftlichen Protokoll gelten, bei einer Videoaufnahme fällt jedoch ins Gewicht, dass das Auffinden von relevanten Protokollstellen mittels ständigem und oft iterativem Vorund Zurückspulen weitaus ineffizienter ist als die Durchsicht eines schriftlichen Protokolls. Dies gilt jedenfalls bei mehrfachen Befragungen kindlicher Opfer, die sich ge-

      samthaft über mehrere Stunden erstrecken können. Eine audiovisuelle Aufzeichnung kann vom Menschen immer nur eindimensional erfasst werden, d.h. auf einer Linie in zwei Richtungen, und technisch bedingt mit beschränkter Geschwindigkeit. Demgegenüber ermöglicht ein schriftliches Protokoll sozusagen eine Übersicht über die gesamte Einvernahme aus der Vogelperspektive, wo man punktgenau und direkt am gewünschten Ort landen kann. Dass dies in verfahrensökonomischer Hinsicht eine erhebliche Erleichterung darstellt, erkennt auch das Bundesgericht im bereits zitierten BGE 143 IV 408: Das Festhalten am Erfordernis des Schriftprotokolls bezweckt, die Strafbehörden und die Verfahrensbeteiligten davon zu entbinden, stundenlang Aufzeichnungen anzuhören. Das schriftliche Protokoll erlaubt ihnen, sich rasch einen Überblick über die durchgeführte Beweiserhebung zu verschaffen (BGE 143 IV 422 E. 8.3). Insofern dürfte es den Regelfall bilden, dass im Falle einer blossen Videoaufzeichnung die Ersparnis für den Verzicht auf eine schriftliche Niederschrift im Vergleich zum Mehraufwand für später damit befasste Personen in keinem vertretbaren Verhältnis steht.

    4. Im vorliegenden Fall wurde von der Verteidigung vor Vorinstanz beispielsweise gerügt, dass die Privatklägerin in den beiden mittels Video aufgezeichneten Einvernahmen unterschiedliche bzw. widersprüchliche Aussagen gemacht habe (Urk. 32 S. 5 - 7). Um überprüfen zu können, ob die von der Verteidigung zitierten Aussagen, so wie von ihr zitiert, stimmen und um eine Würdigung derselben vorzunehmen, insbesondere die entsprechenden Aussagen in den Gesamtkontext mit den weiteren Aussagen der Privatklägerin zu stellen, ist es erforderlich, beide Videoaufzeichnungen nochmals praktisch von A-Z zu visionieren, um die Vorbringen der Verteidigung zu verifizieren und eine eigene Würdigung vorzunehmen. Der Zeitaufwand hierzu ist um ein Vielfaches grösser, als wenn schriftliche Protokolle dafür benützt werden können. Die Verteidigung ist nicht verpflichtet, genaue Aktenbzw. Videobandstellen anzugeben, ansonsten ihre Einwände rechtlich unbeachtlich wären. Das Gericht hat die Einwände unabhängig von solchen Präzisierungen zu überprüfen.

      Auch das Argument der Verfahrensökonomie spricht deshalb nicht für den Verzicht auf eine schriftliche Niederschrift einer audiovisuellen Aufnahme, sondern

      im Gegenteil für eine zusätzliche schriftliche Niederschrift. Ebenso ist an den Fall zu denken, in dem die Parteien in der Gerichtsverhandlung auf einzelne Aussagen der videobefragten Person eingehen. Hier ermöglicht ein schriftliches Protokoll eine schnelle und effiziente Überprüfung der Argumente. Es verzögert eine Verhandlung ungemein, wenn das Gericht zunächst durch Abspielen der Videobefragung feststellen muss, wo sich die gerügte Aussagestelle auf dem Videoband befindet und in welchem Kontext die entsprechende Aussage überhaupt erfolgte. Eine Gerichtsverhandlung sollte schliesslich nicht zur Multimediaveranstaltung eines Video Jockeys mutieren.

    5. Wenig zur Sache tut das Argument der Staatsanwaltschaft, im vorliegenden Fall sei es der Staatsanwaltschaft und der ersten Instanz möglich gewesen, ein Urteil bloss anhand der Videoaufnahmen bzw. ohne Niederschrift zu fällen. Die Staatsanwaltschaft wirft der Berufungsinstanz mangelnde Kompetenz vor, weil sie dazu nicht ebenfalls in der Lage sei (Urk. 79 S. 3). Es geht vorliegend um die Einhaltung von strafprozessualen Vorschriften in Bezug auf die Dokumentation und nicht darum, ob die Berufungsinstanz Unterlassungen der Staatsanwaltschaft nachholen kann und wenn ja, mit wieviel mit wie wenig Aufwand. Mit demselben Argument könnte die Staatsanwaltschaft auch auf jegliche Einvernahmen im Untersuchungsverfahren verzichten, mit dem Hinweis, dass solche Beweiserhebungen dann ja das Gericht gestützt auf Art. 343 StPO vornehmen könne.

    6. Ob es sich vorliegend um einen vertretbaren Aufwand für das Gericht handelt nicht, eine Niederschrift zumindest ein Storyboard mit wichtigen Aussagenstellen auf der Videoaufnahme selbst anzufertigen, ist vorliegend nicht die Thematik. Es geht um eine grundsätzliche Frage im Strafprozess mit Videobefragungen. Im Rahmen eines Gerichtsverfahrens genügt es nicht, die Videoaufzeichnung der Kinderbefragung einfach anzuschauen und dann das Urteil danach zu fällen, ob man den Eindruck erhält, das Kind habe glaubhaft unglaubhaft ausgesagt. Insbesondere bei älteren Kindern ist oft eine seriöse Aussagenanaly-

      se nötig, welche die Gegenüberstellung von Aussagen in verschiedenen Befragungen bedingt. Bei umfangreichen Videoaufnahmen ist ein sorgfältiger Vergleich von Aussagestellen allein aufgrund von Videoaufnahmen äusserst ineffizient. Schliesslich müssten sich alle an der Entscheidfindung Beteiligten schriftliche Aufzeichnungen über die wesentlichen Aussagen machen, um eine sinnvolle Urteilsberatung durchführen zu können, und dies über alle Instanzen hinweg. Letztlich müsste gar das Bundesgericht bei Willkürrügen sämtliche Aufzeichnungen visionieren.

      Ob es einfacher schwieriger ist für das Gericht, selbst eine Niederschrift anzufertigen, ist für die zu klärende Frage nicht ausschlaggebend, insbesondere nicht im Lichte des rechtlichen Gehörs der Parteien. In allen Fällen, ob einfach umfangreich, müssen dieselben Vorschriften hinsichtlich einer Niederschrift von Videobefragungen gelten.

  6. Rückweisung an die Vorinstanz

    1. Laut Art. 379 StPO richtet sich das Rechtsmittelverfahren sinngemäss nach den allgemeinen Vorschriften der Strafprozessordnung, soweit keine anderslautende Bestimmung anwendbar ist. Die Verfahrensleitung prüft gemäss Art. 329 Abs. 1 StPO, ob die Anklageschrift und die Akten ordnungsgemäss erstellt sind. Ergibt sich aufgrund dieser Prüfung später im Verfahren, dass ein Urteil nicht ergehen kann, so sistiert das Gericht das Verfahren (Art. 329 Abs. 2 StPO). Falls erforderlich, weist es die Anklage zur Ergänzung Berichtigung an die Staatsanwaltschaft zurück. Die Prüfung umfasst insbesondere auch, ob die Akten im Einklang mit den gesetzlichen Vorschriften erstellt worden sind (Y VONA GRIESSER, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber, StPO Kommentar, a.a.O., N 7 zu Art. 329). Eine Rückweisung ist vom Kollegialgericht zu beschliessen (BSK StPO II-STEPHENSON/ ZALUNARDO-WALSER, N 8 zu Art. 329).

    2. Das Verfahren ist deshalb an die Vorinstanz zurückzuweisen, welche zu prüfen hat, ob sie es ihrerseits an die Untersuchungsbehörden zur Vervollständigung der Akten im Sinne der Erwägungen zurückweist. Zutreffend ist die Auffassung der Staatsanwaltschaft, dass die Berufungsinstanz nicht befugt ist, der

      Untersuchungsbehörde Anweisungen zu erteilen (Urk. 79 S. 3). Das erstinstanzliche Gericht kann jedoch auf die Anklagezulassung zurückkommen (Art. 329 Abs. 2 StPO). Deshalb ist dieses Berufungsverfahren an die Vorinstanz zurückzuweisen, an den Registern abzuschreiben und allenfalls, bei Wiedereingang, neu einzutragen.

  7. Kostenund Entschädigungsfolgen

    1. Gemäss ihren Honorarnoten sind die unentgeltliche Rechtsvertreterin der Privatklägerin mit Fr. 1'218.90 sowie der amtliche Verteidiger des Beschuldigten mit Fr. 2'519.95 für das Berufungsverfahren zu entschädigen (Urk. 65, 85 und 87). Die Kosten des Berufungsverfahrens sind auf die Gerichtskasse zu nehmen.

    2. Die Vorinstanz wird über die Kosten der amtlichen Verteidigung und der unentgeltliche Rechtsvertreterin der Privatklägerin für das erstinstanzliche Verfahren erneut zu entscheiden haben.

Es wird beschlossen:

  1. Vom Rückzug der Anschlussberufung der Privatklägerin wird Vormerk genommen.

  2. Das Verfahren wird im Übrigen im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

  3. Das Berufungsverfahren (Geschäfts-Nr. SB180318-O) wird an den Registern abgeschrieben.

  4. Die unentgeltliche Rechtsvertreterin der Privatklägerin, Rechtsanwältin lic. iur. Y. , wird für Ihre Aufwendungen im Berufungsverfahren mit Fr. 1'218.90 aus der Gerichtskasse entschädigt.

  5. Der amtliche Verteidiger des Beschuldigten, Rechtsanwalt lic. iur. X. , wird für seine Aufwendungen im Berufungsverfahren mit Fr. 2'519.95 aus der Gerichtskasse entschädigt.

  6. Die Kosten dieses Berufungsverfahrens, einschliesslich derjenigen der amtlichen Verteidigung und der unentgeltlichen Vertretung der Privatklägerin, werden auf die Gerichtskasse genommen.

  7. Schriftliche Mitteilung an

    • die amtliche Verteidigung im Doppel für sich und zuhanden des Beschuldigten

    • die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich

    • die Vertretung der Privatklägerin im Doppel für sich und die Privatklägerin

      sowie nach unbenütztem Ablauf der Rechtsmittelfrist resp. Erledigung allfälliger Rechtsmittel an

    • die Vorinstanz (unter Rücksendung der Akten).

  8. Gegen diesen Entscheid kann bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen erhoben werden.

Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, von der Zustellung der vollständigen, begründeten Ausfertigung an gerechnet, bei der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen.

Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.

Obergericht des Kantons Zürich

I. Strafkammer Zürich, 23. September 2019

Der Präsident:

lic. iur. R. Naef

Der Gerichtsschreiber:

lic. iur. M. Keller

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

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