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Urteil Obergericht des Kantons Zürich (ZH)

Kopfdaten
Kanton:ZH
Fallnummer:SB180235
Instanz:Obergericht des Kantons Zürich
Abteilung:II. Strafkammer
Obergericht des Kantons Zürich Entscheid SB180235 vom 05.10.2018 (ZH)
Datum:05.10.2018
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Verbrechen gegen das Betäubungsmittelgesetz etc.
Schlagwörter : Schuldig; Beschuldigte; Lande; Landes; Schweiz; Recht; Landesverweisung; Beschuldigten; Schen; Recht; Interesse; Kinder; Härte; Tefall; Gericht; Härtefall; Sicherheit; Rechtliche; Kokain; Gericht; Republik; Dominikanische; Ausländer; Interessen; Schwere; Dominikanischen; Berufung; Setze; Italien
Rechtsnorm: Art. 121a BV ; Art. 135 StPO ; Art. 189 BV ; Art. 190 BV ; Art. 2 StGB ; Art. 437 StPO ; Art. 5 BV ; Art. 66a StGB ;
Referenz BGE:136 II 5; 139 II 393; 142 II 35; 142 II 38; 99 Ib 39;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:
Entscheid

Obergericht des Kantons Zürich

II. Strafkammer

Geschäfts-Nr.: SB180235-O/U/ad

Mitwirkend: Oberrichter lic. iur. Spiess, Präsident, Ersatzoberrichter lic. iur.

Gmünder und Ersatzoberrichterin lic. iur. Laufer sowie Gerichtsschreiberin lic. iur. Leuthard

Urteil vom 5. Oktober 2018

in Sachen

Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat,

vertreten durch Leitende Staatsanwältin lic. iur. Leu Anklägerin und Berufungsklägerin

gegen

A. ,

Beschuldigter und Berufungsbeklagter

amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt lic. iur. X.

betreffend Verbrechen gegen das Betäubungsmittelgesetz etc.

Berufung gegen ein Urteil des Bezirksgerichtes Zürich, 3. Abteilung, vom 1. März 2018 (DG170290)

Anklage:

Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat vom 25. Oktober 2017 (Urk. 30) ist diesem Urteil beigeheftet.

Urteil der Vorinstanz:

  1. Der Beschuldigte A. ist schuldig

    • des Verbrechens gegen das Betäubungsmittelgesetz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 lit. c, lit. d und lit. g in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 lit. a BetmG sowie

    • der Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes im Sinne von Art. 19a BetmG.

  2. Der Beschuldigte wird bestraft mit 20 Monaten Freiheitsstrafe (wovon bis und mit heute 35 Tage durch Haft erstanden sind) sowie mit einer Busse von Fr. 500.-.

  3. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wird aufgeschoben und die Probezeit auf 2 Jahre festgesetzt. Die Busse ist zu bezahlen.

  4. Bezahlt der Beschuldigte die Busse schuldhaft nicht, so tritt an deren Stelle eine Ersatzfreiheitsstrafe von 5 Tagen.

  5. Von der Anordnung einer Landesverweisung wird abgesehen.

  6. Die mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat vom 20. Juni 2017 beschlagnahmte Barschaft von Fr. 200.- (Barkaution Nr. ) werden eingezogen und zur teilweisen Deckung der Busse verwendet.

  7. Die folgenden, mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat vom

    20. Juni 2017 beschlagnahmten und bei der Kantonspolizei Zürich lagernden Gegenstände werden eingezogen und der Lagerbehörde zur Vernichtung überlassen:

    1. 2 Betäubungsmittel-Waagen (BM-Lagernummer )

    2. 101 Gramm Kokain im Knistersack (BM-Lagernummer )

    3. 2 Gramm Kokain (BM-Lagernummer )

    4. 10 Gramm Kokain (BM-Lagernummer )

    5. 0.4 Gramm Kokain (BM-Lagernummer )

    6. 0.4 Gramm Kokain bzw. Amphetamin (BM-Lagernummer )

    7. 0.2 Gramm Kokain (BM-Lagernummer )

    8. Mobiltelefon der Marke Samsung, schwarz (Asservat Nr. A010'492'872)

    9. Diverse Notizen aus Portemonnaie (Asservat Nr. A010'492'918)

    10. SIM-Karte Swisscom (Asservat Nr. A010'492'941)

    11. Diverse Notizen / Listen (Asservat Nr. A010'493'488)

  8. Die folgenden, polizeilich sichergestellten Gegenstände werden eingezogen und der Lagerbehörde (Kantonspolizei Zürich) zur Vernichtung überlassen:

    1. SIM-Kartenhalter Yallo (Asservat Nr. A010'492'930)

    2. SIM-Kartenhalter Yallo (Asservat Nr. A010'492'952)

    3. SIM-Kartenhalter Yallo (Asservat Nr. A010'492'963)

  9. Die folgenden, mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat vom

    20. Juni 2017 beschlagnahmten Gegenstände werden dem Beschuldigten nach Eintritt der Rechtskraft innert einer Frist von zwei Monaten auf erstes Verlangen hin herausgegeben, ansonsten sie der Lagerbehörde zur gutscheinenden Verwendung überlassen werden:

    1. iPad mit Abdeckung (Asservat Nr. A010'492'883; lagernd bei der Kantonspolizei Zürich)

    2. Western Union Beleg (Überweisung; Asservat Nr. A010'492'907; lagernd bei der Kantonspolizei Zürich)

    3. Steuergerät Modellhelikopter 14 SG Futaba (Asservat Nr.

      A010'494'583; lagernd bei der Bezirksgerichtskasse)

    4. Werkzeugset SAB (Asservat Nr. A010'494'594; lagernd bei der Bezirksgerichtskasse)

    5. Modellhelikopter Helidivision (Asservat Nr. A010'494'607; lagernd bei der Bezirksgerichtskasse)

  10. Die Gerichtsgebühr wird festgesetzt auf:

    Fr. 4'500.- die weiteren Kosten betragen: Fr. 2'100.- Gebühr für das Vorverfahren Fr. 1'650.- Kosten Kantonspolizei Zürich Fr. 1'300.- Gutachten / Expertisen etc. Fr. 11'906.75 amtliche Verteidigung

    Allfällige weitere Auslagen bleiben vorbehalten.

  11. Die Kosten der Untersuchung und des gerichtlichen Verfahrens, ausgenommen diejenigen der amtlichen Verteidigung, werden dem Beschuldigten auferlegt.

  12. Die amtliche Verteidigung wird mit Fr. 11'906.75 (inkl. MwSt.) entschädigt.

Diese Kosten werden auf die Gerichtskasse genommen; vorbehalten bleibt eine Nachforderung gemäss Art. 135 Abs. 4 StPO.

Berufungsanträge:

  1. Der Vertreterin der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat: (Urk. 60 S. 1)

    1. Es sei für den Beschuldigten eine Landesverweisung von 5 Jahren anzuordnen.

  2. Der Verteidigung des Beschuldigten: (Urk. 61 S. 1)

    1. Von der Anordnung einer Landesverweisung sei abzusehen.

    2. Die Kosten für das vorliegende Verfahren und die Kosten für die amtliche Verteidigung seien auf die Staatskasse zu nehmen.

      Erwägungen:

      1. Verfahrensgang
        1. Dem Beschuldigten wird vorgeworfen zwischen Mitte Februar und seiner Verhaftung am 14. Juni 2017 320 Gramm Kokaingemisch mit einem durchschnittlichen Reinheitsgrad von 72%, mithin ca. 230.4 Gramm reines Kokain, erworben zu haben. Von diesem Kokain soll der Beschuldigte ca. 130 Gramm Kokaingemisch an diverse Abnehmer in Zürich-B. verkauft haben. Sodann habe der Beschuldigte 20 Gramm Kokaingemisch C. dafür überlassen, dass er das Kokain bei diesem lagern konnte. Von den restlichen 170 Gramm Kokaingemisch, die anlässlich der Hausdurchsuchung sichergestellt werden konnten, sollen 120 Gramm Kokaingemisch für den Weiterverkauf und 50 Gramm für den Eigenkonsum bestimmt gewesen sein.

        2. Das Bezirksgericht Zürich, 3. Abteilung, sprach den geständigen Beschuldigten am 1. März 2018 des Verbrechens gegen das Betäubungsmittelgesetz im Sinne von dessen Art. 19 Abs. 1 lit. c, lit. d und lit. g in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 schuldig und bestrafte ihn mit einer bedingten Freiheitsstrafe von 20 Monaten, wovon 35 Tage durch Haft erstanden waren, unter Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren. Weiter sprach das Gericht den Beschuldigten der Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes im Sinne von Art. 19a BetmG schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 500.-. Von der Anordnung einer Landesverweisung sah das Gericht ab (Urk. 49 S. 31 ff.). Gegen dieses Urteil meldete die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat am 2. März 2018 fristgerecht Berufung an

          (Urk. 44). In ihrer Berufungserklärung vom 7. Juni 2018 beantragte die Leitende

          Staatsanwältin, dass der Beschuldigte für die Dauer von 5 Jahren des Landes verwiesen werde (Urk. 51 S. 7). Von Amtes wegen wurden am 9. August 2018 die Akten des Beschuldigen vom Migrationsamt des Kantons Zürich beigezogen

          (Urk. 55 und 57/1-33).

        3. Mit Präsidialverfügung vom 12. Juni 2018 wurde dem Beschuldigten Frist zur Anschlussberufung angesetzt (Urk. 52). Innert Frist wurde keine Anschlussberufung erhoben.

        4. Gemäss Art. 402 in Verbindung mit Art. 437 StPO hat die Berufung im Umfang der Anfechtung aufschiebende Wirkung und wird die Rechtskraft des angefochtenen Urteils dementsprechend gehemmt. Nachdem die Dispositivziffern 1 (Schuldspruch), 2 (Strafe), 3 (Vollzug), 4 (Ersatzfreiheitsstrafe), 6 (Einziehung

          Barschaft), 7 und 8 (Einziehung beschlagnahmter Gegenstände), 9 (Herausgabe

          beschlagnahmter Gegenstände), 10 und 11 (Kostendispositiv) sowie 12 (Entschädigung amtliche Verteidigung) nicht angefochten worden sind (Urk. 49 und 51), ist mittels Beschlusses festzustellen, dass das vorinstanzliche Urteil in diesem Umfang in Rechtskraft erwachsen ist.

        5. In der heutigen Berufungsverhandlung stellten die Parteien die eingangs aufgeführten Anträge. Das Verfahren ist spruchreif.

      2. Landesverweisung
  1. Im Rahmen der Umsetzung der am 28. November 2010 angenommenen sogenannten Ausschaffungsinitiative sind im schweizerischen Strafgesetzbuch die Art. 66a bis 66d eingefügt worden. Diese Gesetzesänderung ist am 1. Oktober 2016 in Kraft getreten (AS 2016 2329). Die neu im Strafgesetzbuch aufgenommene Landesverweisung stellt gemäss ihrer gesetzlichen Einordnung eine Massnahme dar, die neben der eigentlichen Strafe ausgefällt werden kann. Die Landesverweisung ist nicht nur strafrechtlicher Natur, sondern übernimmt auch ausländerrechtliche Funktionen. Sie ist eine strafrechtliche sichernde Massnahme mit migrationsrechtlicher Wirkung (Marc Busslinger/Peter Uebersax, Härtefallklausel und migrationsrechtliche Auswirkungen der Landesverweisung, plädoyer 5/16,

    S. 96 ff., S. 96). Aufgrund des Rückwirkungsverbots (Art. 2 Abs. 1 StGB) kann eine Landesverweisung nur für Taten verhängt werden, die seit dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes begangen wurden.

  2. Im Falle einer Verurteilung eines Ausländers für ein Delikt, welches nach Inkrafttreten der Gesetze zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative am 1. Oktober 2016 begangen wurde, hat das Strafgericht die Anordnung einer obligatorischen Landesverweisung nach Art. 66a StGB oder einer fakultativen Landesverweisung nach Art. 66abis StGB zu prüfen. Art. 66a Abs. 1 StGB enthält dabei einen Katalog von Straftaten, für die das Gericht bei einer Verurteilung unabhängig von der Höhe der Strafe eine Landesverweisung von 5 bis 15 Jahren auszusprechen hat. Nach dem Willen des Gesetzgebers wird bei dieser sogenannten obligatorischen Landesverweisung die Möglichkeit des Gerichts, die Verhältnismäs- sigkeit der Anordnung dieser Massnahme zu prüfen, bewusst eingeschränkt. Gemäss der in Art. 66a Abs. 2 StGB verankerten sogenannten Härtefallklausel kann das Gericht nur ausnahmsweise von einer obligatorischen Landesverweisung absehen, wenn diese für die betroffene ausländische Person einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen der betroffenen Person am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei soll namentlich der besonderen Situation von Ausländerinnen und Ausländern Rechnung getragen werden, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind oder sich seit Jahrzehnten im Lande aufhalten, kaum noch Beziehungen zu ihrer Heimat haben und sich dort nicht mehr zurechtfinden würden. Als konkrete Härtefallgründe fallen dabei insbeson-

    dere die Anwesenheitsdauer, die familiären Verhältnisse, die Arbeitsund Ausbildungssituation, die Persönlichkeitsentwicklung, der Grad der Integration sowie die Resozialisierungschancen des Beschuldigten in Betracht. Ist bei einer Gesamtbetrachtung dieser Kriterien von einem Härtefall auszugehen, so ist in einem zweiten Schritt das private Interesse des Beschuldigten am weiteren Verbleib in der Schweiz dem konkreten öffentlichen (Sicherheits-)Interesse an seiner Landesverweisung gegenüberzustellen. Nur wenn dabei das private das öffentliche Interesse überwiegt, ist ausnahmsweise von der Anordnung einer obligatorischen Landesverweisung abzusehen (Marc Busslinger/Peter Uebersax, a.a.O., S. 97 f.).

  3. Der Beschuldigte wurde wegen Betäubungsmitteldelikten, welche er von Februar bis Juni 2017 und somit nach Inkrafttreten der Gesetzesnovelle begangen hat, zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt. Die Verurteilung erfolgte wegen einer qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Abs. 2 BetmG), weshalb der Beschuldigte grundsätzlich für 5 bis 15 Jahre aus der Schweiz zu verweisen ist (Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB).

  4. Die Vorinstanz hat erwogen, dass die Voraussetzungen von Art. 5 Anhang I FZA für eine Landesverweisung nicht erfüllt seien, da es an einer gegenwärtigen und hinreichend schweren, das Grundinteresse der Gesellschaft berüh- renden Gefahr für die öffentliche Ordnung fehle (Urk. 49 S. 27). Aus diesem Grunde sah sie von der Anordnung einer obligatorischen Landesverweisung ab. Die Vorinstanz prüfte ergänzend, ob auch in Anwendung der Härtefallklausel im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB von einer Landesverweisung abgesehen werden müsste, und bejahte auch dies (Urk. 49 S. 27-29).

  5. Die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat beantragt in ihrer Berufungserklä- rung, dass der Beschuldigte für die Dauer von fünf Jahren des Landes verwiesen werde (Urk. 51 S. 7). Sie macht geltend, dass das private Interesse des Beschuldigten am weiteren Verbleib in der Schweiz gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung zurückzutreten habe. Die Ausweisung des Beschuldigten wegen der vorliegenden strafrechtlichen Verurteilung halte vor Art. 5 Anhang I FZA stand (Urk. 51 S. 6). Es liege auch kein Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB vor (Urk. 51 S. 6). Zur Begründung führte die Staatsanwaltschaft aus, dass in Anwendung von Art. 5 Anhang I FZA eine Niederlassungsbewilligung nur widerrufen werden dürfe, wenn eine hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit vorliege. Eine strafrechtliche Verurteilung könne diese Anforderungen erfüllen, wenn die betreffende Person mit der begangenen Tat ein persönliches Verhalten zeige, dass eine künftige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit als wahrscheinlich erscheinen lasse. Die Behörde, die über eine Beendigung des Aufenthaltes entscheide, habe eine umfassende Interessenabwägung und Verhältnismässigkeitsprüfung vorzunehmen. Dabei seien eine allenfalls bestehende

    Rückfallgefahr und die Möglichkeit der Resozialisierung mit zu berücksichtigen. Die Bejahung einer Rückfallgefahr setze nicht voraus, dass ein Straftäter mit Sicherheit weiter delinquieren werde. Ebenso wenig könne für die Verneinung der Rückfallgefahr verlangt werden, dass überhaupt keine Rückfallgefahr bestehe. Die Ausweisung wegen einer einzigen strafrechtlichen Verurteilung könne vor Art. 5 Anhang I FZA standhalten, wenn aus dem während der Straftat gezeigten Verhalten des Beschuldigten hervorgehe, dass weitere schwere Straftaten zu er-

    warten seien. Je schwerer die befürchtete Rechtsgutverletzung wiege, umso niedriger seien die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer Rückfallgefahr anzusetzen (Urk. 51 S. 3 f. ).

    Bei den durch den Beschuldigten begangenen Straftaten handle es sich nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung um schwerwiegende Rechtsgutverletzungen. Auch könne grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschuldigte, dessen deliktisches Wirken überwiegend finanziell motiviert gewesen und aus rein egoistischen Motiven erfolgt sei, sich inskünftig wohl verhalten werde. Mit der Betätigung im Kokainhandel, welche mit einer gewissen Professionalität erfolgt sei, habe der Beschuldigte eine erhebliche kriminelle Energie unter Beweis gestellt. Der Beschuldigte und seine Freundin würden in der Schweiz mit ihren drei Kindern von der Sozialhilfe leben. Obwohl der Beschuldigte seit nunmehr 20 Jahren in der Schweiz lebe und auch hier zur Schule gegangen sei, habe er es nicht geschafft, sich beruflich zu etablieren. Er habe keine Ausbildung abgeschlossen und habe lediglich verschiedene temporäre Arbeitsstellen innegehabt, wobei er dazwischen - wie auch aktuell wieder - arbeitslos gewesen sei. Die fehlende gefestigte berufliche Integration sei in Bezug auf die Rückfallgefahr sehr negativ zu werten. Gerade der Umstand, dass der Beschuldigte beruflich nicht integriert sei und über kein Erwerbseinkommen verfüge, dürfe ihn zu den beurteilten Straftaten angetrieben haben. Sodann sei zu erwähnen, dass der Beschuldigte zwar auf Stufe Verbrechen und Vergehen keine Vorstrafen aufweise, aber in den Jahren 2012 und 2016 dreimal wegen unbefugten Besitzes von Marihuana, Ecstasy und Kokain bestraft wurde. Damit sei erwiesen, dass der Beschuldigte bereits über einen längeren Zeitraum infolge seines eigenen Konsums einschlägige Kontakte zur Drogenszene gehabt habe, bevor er selber als Kokainhändler in

    Erscheinung getreten sei. Aus diesen Gründen könne ihm gestützt auf die Gesamtumstände für die Zukunft keine gute Prognose gestellt werden und es könne insbesondere nicht ausgeschlossen werden, dass weitere schwere Rechtsgutverletzungen durch den Beschuldigten begangen würden (Urk. 51 S. 5).

    Wäge man die öffentlichen Interessen des Staates an der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung gegenüber dem privaten Interesse des Beschuldigten an seinem Verbleib in der Schweiz ab, so falle dazu in Betracht, dass der Beschuldigte seit zwanzig Jahren in der Schweiz lebe. Sein Vater sei gestorben und seine Mutter und Schwester würden ebenfalls in der Schweiz leben. Sein Bruder lebe in der Dominikanischen Republik, dem Heimatland des Beschuldigten. Mit diesem Bruder und einem oder zwei Freunden in der Dominikanischen Republik habe der Beschuldigte noch Kontakt. Seine Freundin und Mutter seiner drei Kinder sei ebenfalls Dominikanerin. Sie habe drei weitere (nicht gemeinsame) Kinder, die in der Dominikanischen Republik leben würden. Damit sei erstellt, dass der Beschuldigte noch über Kontakte zu seiner Heimat verfüge. Er, seine Freundin und seine Kinder würden Deutsch und Spanisch sprechen. Zudem sei auch seine Freundin beruflich nicht integriert. Die ganze Familie lebe von der Sozialhilfe. Unter diesen Umständen sei es dem Beschuldigten keineswegs unzumutbar mit seiner Familie in seinem Herkunftsland, der Dominikanischen Republik, zu leben und Tritt zu fassen. Auch in Italien, wo er schon auf dem Bauernhof, den sein Cousin geerbt habe, gearbeitet habe, habe der Beschuldigte Verwandte. Er könne mit seiner Familie auch dort leben. Schliesslich sei darauf hinzuweisen, dass der Beschuldigte mit seiner Freundin, der Mutter seiner Kinder, nicht verheiratet sei. Erst 2011 habe der Beschuldigte mit ihr zusammengewohnt. Nach der Geburt des zweiten Kindes anfangs 2013 sei die Kindsmutter infolge Trennung vom Beschuldigten in eine Sozialwohnung in B. gezogen. Damit sei auch nicht von einer vollends gefestigten familiären Situation auszugehen. Als Fazit sei deshalb festzuhalten, dass das private Interesse des Beschuldigten am weiteren Verbleib in der Schweiz gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung zurückzutreten habe (Urk. 51 S. 6). Anlässlich der heutigen Berufungsverhandlung hielt die Staatsanwaltschaft im Kern an ihrer Argumentation fest (Urk. 60).

  6. Demgegenüber stellt sich die Verteidigung bereits vor Vorinstanz auf den Standpunkt, dass der Beschuldigte sich als italienischer Staatsbürger auf das Freizügigkeitsabkommen berufen könne und eine anhaltend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Beschuldigten zu verneinen sei. Es bestehe keine gegenwärtige und hinreichend schwere, das Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr für die öffentliche Ordnung. Demnach sei eine Landesverweisung nicht mit dem Freizügigkeitsabkommen vereinbar, weshalb von der Anordnung der obligatorischen Landesverweisung abzusehen sei. Sodann sei auch von einem persönlichen Härtefall des Beschuldigten auszugehen. Die privaten Interessen des Beschuldigten an einem Verbleib in der Schweiz würden deutlich höher wiegen, wie das öffentliche Interesse an einer Landesverweisung, so dass von Letzterer abzusehen sei (Urk. 42 S. 11 ff.). Anlässlich der heutigen Berufungsverhandlung führte der amtliche Verteidiger ergänzend aus, dass der Beschuldigte seine Verlobte und Mutter seiner drei Kinder zwischenzeitlich geheiratet habe, weiterhin aktiv auf Stellensuche sei und dabei sei, eine Ausbildung als Bademeister zu absolvieren. Zudem seien die zwei älteren Kinder schulisch integriert und sei in Abklärung, ob sie Sportvereinen beitreten könnten. Aus den persönlichen Verhältnissen des Beschuldigten könnten somit auch sieben Monate nach der Hauptverhandlung vor Vorinstanz keine Umstände abgeleitet werden, welche auf eine gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung schliessen lassen würden (Urk. 61 S. 3 ff.). Darüber hinaus sei bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen, dass der Beschuldigte seit elf Jahren nicht mehr in der Dominikanischen Republik gewesen sei und dort über keine nennenswerten persönlichen Kontakte verfüge. In Italien habe er gerade einmal eineinhalb Monate seines gesamten Lebens verbracht. Zudem sei der Bauernhof der Tante zwischenzeitlich verpachtet, ihr Sohn und ihr Ehemann würden in der Schweiz leben. Der Beschuldigte sei in der Schweiz aufgewachsen, verwurzelt und sozial integriert. Er spreche fliessend Schweizerdeutsch, habe hier eine Familie gegründet und wohne in der Nähe seiner Mutter und seiner Schwester. Die Kontakte seiner Ehefrau in der Dominikanische Republik könnten dem Beschuldigten nicht zugerechnet werden. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass diese Familie eine fremde Person bei sich aufnehmen würde. Ebensowenig

erscheine heute klar, dass die Familie des Beschuldigten ihm tatsächlich in die Dominikanische Republik folgen würde, wenn er des Landes verwiesen würde. Ein Umzug sei der Familie nicht zumutbar. Die privaten Interessen des Beschuldigten an einem Verbleib in der Schweiz seien damit als sehr hoch einzustufen. Das öffentliche Interesse würde diese nicht überwiegen. Der Beschuldigte sei nicht vorbestraft und sei zwischenzeitlich nicht wieder straffällig geworden. Die Rückfallgefahr sei daher äusserst gering. Es sei weiter augenscheinlich, dass die ausgefällte Strafe und insbesondere die Inhaftierung einen nachhaltigen Eindruck beim Beschuldigten hinterlassen hätten. Überdies sei er bei der Tatausführung nicht rücksichtslos vorgegangen, habe die Verantwortung für seine Tat übernommen und Reue gezeigt. Bei Berücksichtigung all dieser Umstände liege auch ein Härtefall vor (a.a.O. S. 7 ff.)

    1. Der Beschuldigte ist Bürger von Italien und kann sich, weil Italien ein Mitgliedstaat der EU ist, auf das FZA (SR 0.142.112.681) berufen. Dieses berechtigt ihn grundsätzlich, sich zum Zwecke einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz aufzuhalten (Art. 4 FZA). Ausserdem gibt das FZA den Bürgern der beteiligten Staaten das Recht, sich zur Stellensuche für höchstens sechs Monate in die Schweiz zu begeben (Art. 2 Abs. 1 des Anhangs I zum FZA). Mit der Anordnung einer strafrechtlichen Landesverweisung werden dem Beschuldigten die genannten Aufenthaltsrechte für die Dauer dieser Massnahme entzogen. Gemäss Art. 5

      Abs. 1 des Anhangs I zum FZA ist dies nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit zulässig. Soweit für die Anwendung des FZA Begriffe des EU-Gemeinschaftsrechts herangezogen werden, bestimmt Art. 16 Abs. 2 FZA weiter, dass dafür die einschlägige Rechtsprechung des Europäi- schen Gerichtshofs (EuGH) aus der Zeit vor der Ratifizierung des FZA berücksichtigt wird. Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I zum FZA nennt schliesslich verschiedene EU-Richtlinien als solche, auf die im Sinne von Art. 16 FZA Bezug genommen werde. Mit Blick auf die strafrechtliche Landesverweisung ist dabei die Richtlinie 64/221/EWG von Bedeutung. Diese statuiert in Art. 3 Abs. 1 und 2, dass bei Massnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausschliesslich das persönliche Verhalten der betreffenden Einzelpersonen ausschlaggebend sei. Strafrechtliche Verurteilungen allein könnten solche Massnahmen nicht ohne Weiteres

      begründen. Was dies genau bedeuten soll, ist indessen schwer zu ergründen, sind doch gerade Verhaltensweisen, die zu strafrechtlichen Sanktionen führen, in optima forma ein Teil des persönlichen Verhaltens, der die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden kann. Gemeint ist wohl, dass Straftaten von einer gewissen Schwere und/oder Häufigkeit sein müssen, um die Annahme einer Gefährdung von Sicherheit und Ordnung zu begründen, und dass zudem andere Umstände, die für einen Verbleib des Ausländers im Lande sprechen, nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Gefordert wird damit eine Prüfung der gesamten Umstände jedes Einzelfalls. Massgeblich für die Beurteilung, ob eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegt, ist naturgemäss zunächst die Art und Schwere der in Frage stehenden Delikte und sodann in erster Linie das Ausmass der beim Täter diesbezüglich bestehenden Rückfallgefahr (BGE 136 II 5

      E. 4.2 mit Hinweisen).

    2. Ein Konflikt zwischen dem Staatsvertragsrecht und dem Landesrecht kann sich dabei ergeben, wenn und soweit ersteres den Begriff der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung enger fasst als das Strafgesetzbuch. Das FZA ist als völkerrechtlicher Vertrag nicht nach den Regeln des innerstaatlichen Rechts, sondern aus sich heraus nach Treu und Glauben und im Lichte seines Ziels und Zwecks auszulegen. Dies kann allerdings nicht bedeuten, dass der Vertrag ohne Weiteres gleich auszulegen ist, wie dies der EuGH als Organ der EU tut, ansonsten das offensichtlich absurde Ergebnis resultierte, dass eine Vertragspartei einseitig festlegen kann, wie ein zweiseitiger Vertrag zwischen gleichberechtigten Parteien auszulegen ist. Richtigerweise kann und muss jede Vertragspartei das Abkommen nach Treu und Glauben, aber im Übrigen eigenständig anwenden. Von der Auslegung im FZA enthaltener, aus dem EU-Recht übernommener Bestimmungen seitens des EuGH ist immerhin nur aus triftigen Grün- den abzuweichen (Urteil des Bundesgerichts 2C_301/2016 vom 19. Juli 2017,

      E. 2.2 mit Hinweis auf BGE 139 II 393). Nach der Rechtsprechung des EuGH sind Fernhaltemassnahmen gegenüber Bürgern von EU-Mitgliedsstaaten nur zulässig, wenn ihre weitere Anwesenheit im Lande die öffentliche Ordnung im konkreten Einzelfall nicht nur stört, sondern tatsächlich und in einem so erheblichen Ausmasse gefährdet, dass grundlegende Interessen der Gesellschaft betroffen sind

      (une menace réelle et d'une certaine gravité affectant un intérêt fondamental de la société, Urteil des Bundesgerichts 2C_238/2012 vom 30. Juli 2012, E. 2.3).

    3. Das Schweizerische Strafgesetzbuch statuiert demgegenüber, dass die Begehung einer der in Art. 66a Abs. 1 aufgelisteten Straftaten in aller Regel zur Landesverweisung führt. Eine Einzelfallprüfung, wie sie insbesondere auch Art. 3 der gemäss FZA zu beachtenden Richtlinie 64/221/EWG verlangt, ist bei solchen Delikten nur im Rahmen der sogenannten Härtefallklausel möglich. Diese lässt indessen ein Absehen von der Landesverweisung nur ausnahmsweise zu, wenn sie für den betroffenen Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen (Art. 66a Abs. 2 StGB). Ausser Zweifel steht zwar, dass die Landesverweisung der Wahrung der öffentlichen Sicherheit dient. Der Katalog der zur obligatorischen Landesverweisung führenden Delikte umfasst indessen neben sehr schweren Delikten - wie namentlich qualifizierten Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz - auch leichtere Straftaten wie etwa den sogenannten Einschleichdiebstahl (Art. 66a Abs. 1 lit. d StGB), bei denen nach dem Massstab der EuGHRechtsprechung die Voraussetzungen für eine Wegweisung häufig nicht erfüllt sein dürften. Ein grundsätzlicher und unüberbrückbarer Normkonflikt zwischen Landesund Völkerrecht besteht damit zwar nicht ohne Weiteres, weil in solchen Fällen bei der Anwendung der Härtefallklausel gesagt werden könnte, das Interesse der Schweiz an der Fernhaltung des Täters sei vergleichsweise gering. Nicht zu übersehen ist aber, dass gleichzeitig auch das Interesse des Ausländers am Verbleib in der Schweiz schwach ausgeprägt sein kann, weil er sich beispielsweise erst seit kurzem im Lande befindet und auch sonst keine engen Verbindungen zur Schweiz hat. Zumindest in solchen Konstellationen ist eine Landesverweisung gemäss FZA unzulässig, kann aber zugleich nach Landesrecht kaum davon Umgang genommen werden. Es ist deshalb zu klären, ob im Falle eines solchen Konflikts zwischen FZA und Landesrecht dem Staatsvertrag oder den zwischenzeitlich erlassenen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs über die Landesverweisung der Vorrang zukommt.

    4. Die Bundesverfassung schreibt vor, dass Bund und Kantone das Völ- kerrecht beachten (Art. 5 Abs. 4 BV). Sie bestimmt ferner, dass Bundesgesetze und Völkerrecht für die rechtsanwendenden Behörden massgebend sind (Art. 190 BV), ohne sich aber darüber zu äussern, welche Rechtsquelle vorrangig ist, wenn sich ein Bundesgesetz und ein vom Bund abgeschlossener Staatsvertrag widersprechen. Bundesgesetze können indessen beim Bundesgericht nicht angefochten werden (Art. 189 Abs. 4 BV). Dies ist Ausfluss des grundlegenden Verfassungsprinzips der Gewaltenteilung. Auf diesem Prinzip beruht letztlich auch die 1973 begründete sog. Schubert-Praxis (BGE 99 Ib 39): Staatsverträge sind zwar einzuhalten und gehen deshalb grundsätzlich dem Landesrecht vor. Der Bundesgesetzgeber hat aber die Möglichkeit, bewusst gegen staatsvertragliche Verpflichtungen zu verstossen und die möglichen zwischenstaatlichen Folgen dieses Verhaltens wie z.B. die Kündigung des Vertrages oder Retorsionsmassnahmen seitens der anderen Vertragspartei in Kauf zu nehmen. Vorliegend wies der Bundesrat schon in seiner Botschaft zur Volksinitiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative) vom 24. Juni 2009 darauf hin, dass das Volksbegehren - welches allerdings noch keine Härtefallklausel enthielt - mit dem FZA nicht vereinbar sei (BBl 2009 5112). Nachdem Volk und Stände die Initiative angenommen hatten, monierte dies der Bundesrat in der Botschaft zur Umsetzung der Initiative erneut (BBl 2013 6059). In der Folge nahm der Nationalrat in der Sitzung vom 20. März 2014 zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative einen Gesetzesentwurf an, der keine Härtefallklausel enthielt (Amtl. Bull. 2014 N 523). Der Ständerat beschloss indessen in der Sitzung vom 10. Dezember 2014 eine Härtefallklausel einzufügen (Amtl. Bull. 2014 S 1247), welche nach einem Differenzbereinigungsverfahren schliesslich am 20. März 2015 von beiden Kammern angenommen wurde (Amtl. Bull. 2015 N 598; vgl. zum ganzen auch die Zusammenfassung des parlamentarischen Verfahrens auf www.parlament.ch

      Curia VistaSucheGeschäftsnummer: 13.056usammenfassung Botschaft/BerichtVerhandlungen). Das Parlament kannte somit die völkerrechtliche Problematik, als es die nun geltenden Bestimmungen über die Landesverweisung erliess. Dies zeigt sich umso mehr, als es den Konflikt durch die Einfügung der Härtefallklausel abschwächte. Damit ist aber davon auszugehen, dass das Parlament zumindest in den Fällen, in welchen kein Härtefall vorliegt, einen allfällig resultierenden Konflikt mit dem FZA bewusst in Kauf nahm.

    5. Die II. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts befasste sich in BGE 142 II 35 mit dem Verhältnis zwischen dem FZA und dem in der eidgenössischen Volksabstimmung vom 9. Februar 2014 gutgeheissenen Art. 121a BV. Sie erwog dazu vorab, dass das Ziel des FZA darin bestehe, die Freizügigkeit auf der Grundlage der in der EU geltenden Bestimmungen zu verwirklichen. Die Vertragsstaaten seien übereingekommen, alle erforderlichen Massnahmen zu treffen, damit diesbezüglich eine möglichst parallele Rechtslage bestehe. Das Bundesgericht weiche deshalb in mittlerweile ständiger Rechtsprechung von der Auslegung abkommensrelevanter unionsrechtlicher Bestimmungen nur bei Vorliegen triftiger Gründe von der Praxis des EuGH ab. Erwägen liesse sich allenfalls, im Lichte der neuen Verfassungsbestimmung das FZA restriktiv auszulegen oder triftige Grün- de zum Abweichen von der Rechtsprechung des EuGH anzunehmen

      (BGE 142 II 38). Diese Möglichkeit wurde aber vom Bundesgericht verworfen, weil sich die Schweiz gestützt auf das FZA und weitere Abkommen sektoriell am EU-Binnenmarkt beteilige, was nur möglich sei, wenn die einschlägigen Normen des FZA in der EU einerseits und in der Schweiz anderseits gleich verstanden würden. Völkerrechtliche Normen gingen widersprechendem Landesrecht vor. Dieser Grundsatz habe lediglich insofern eine Ausnahme erfahren, als im Rahmen der sog. Schubert-Praxis der Gesetzgeber bewusst eine völkerrechtliche Verpflichtung missachten könne. Diese Ausnahme gelte aber im Falle des FZA nicht, weil dieses durch die Annahme in einer Volksabstimmung demokratisch legitimiert sei, weil den unter das Abkommen fallenden Personen ansonsten der gerichtliche Rechtsschutz entzogen werde, und weil schliesslich auch die EUMitgliedstaaten verpflichtet seien, dem FZA den Vorrang gegenüber ihrem Landesrecht zu geben (a.a.O., S. 39 f.).

    6. Der vorstehend zitierte Bundesgerichtsentscheid bezieht sich auf

Art. 121a BV, wo in Abs. 1 statuiert wird, dass die Schweiz die Zuwanderung von Ausländern eigenständig regelt. Zwischen dieser am 9. Februar 2014 in die Bundesverfassung eingefügten Bestimmung und dem Grundgedanken des FZA besteht ein unauflöslicher Widerspruch. Ein solch offensichtlicher Normkonflikt lässt sich im Verhältnis zwischen den Bestimmungen des Strafgesetzbuchs über die Landesverweisung einerseits und dem FZA anderseits nach dem vorstehend Gesagten (Erw. IV/2d) nicht ausmachen. Das FZA lässt Einschränkungen der Personenfreizügigkeit, mit denen einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung begegnet werden soll, ausdrücklich zu, und das materielle Strafrecht dient insbesondere bei Straftaten von einer gewissen Schwere nicht zuletzt genau diesem Zweck.

Bei der öffentlichen Sicherheit und Ordnung handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, welcher der Konkretisierung und Auslegung bedarf. Weder das Landesrecht noch das gemäss Art. 5 Abs. 4 BV zu beachtende Staatsvertragsrecht definieren eine klare Grenzlinie, ab welcher eine Gefährdung von Sicherheit und Ordnung zu bejahen ist. Wie vorstehend erörtert wurde, tendiert allerdings der EuGH zu einer engen Auslegung (Erw. IV/2c), was insbesondere im Bereich der obligatorischen Landesverweisung zu einem Konflikt zwischen FZA und Strafgesetzbuch führen kann (Erw. IV/2d). Die Schweiz muss bei der Auslegung, was unter einer Gefährdung von Sicherheit und Ordnung zu verstehen ist, die Rechtsprechung des EuGH berücksichtigen, zumindest diejenige aus der Zeit vor dem Abschluss des FZA (Art. 16 Abs. 2 FZA). Letzteres bedeutet nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, dass sie diese Rechtsprechung als gewichtiges Auslegungselement mit in Betracht zieht und davon nicht ohne triftige Gründe abweicht. Eine Pflicht zur strikten Befolgung der EuGH-Praxis ergibt sich aus dem FZA nicht. Der schweizerische Gesetzgeber hat mit dem Erlass der Bestimmungen über die Landesverweisung zum Ausdruck gebracht, dass er bei Delikten gemäss Art. 66a Abs. 1 StGB in aller Regel von einer Gefährdung der öf- fentlichen Sicherheit ausgeht, der mit der Wegweisung des Täters aus der Schweiz zu begegnen ist. Damit liegt ein triftiger Grund vor, in solchen Fällen von einer allfälligen anderen Praxis des EuGH abzuweichen und das FZA landesrechtskonform anzuwenden.

Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass sich aus dem FZA die Verpflichtung ergebe, dieses Abkommen durchwegs gemäss der Rechtsprechung

des EuGH auszulegen, stellte sich noch immer die Frage, ob nicht im Falle eines Konflikts zwischen FZA und Strafgesetzbuch aufgrund der Schubert-Praxis gleichwohl letzteres den Vorrang habe. Die Schweiz hat unzählige Staatsverträge abgeschlossen, darunter auch zahlreiche Abkommen mit der EU. Weshalb von all diesen Verträgen gerade dem FZA eine mit den Abkommen über Menschenrechte vergleichbare erhöhte Bedeutung zukommen soll, welche sowohl eine eigenständige Auslegung des FZA als auch die Anwendung der Schubert-Praxis ausschliesst, ist nicht ersichtlich. Die diesbezügliche Argumentation in BGE 142 II 35 vermag nicht zu überzeugen. Die sektorielle Beteiligung der Schweiz am EUBinnenmarkt, die dabei an erster Stelle genannt wurde, mag handelspolitisch von Bedeutung sein, ist aber im Gegensatz zur Garantie der Menschenrechte kein tragender Pfeiler von Demokratie und Rechtsstaat. Bekannt ist, dass die EU ihrerseits dieser Freizügigkeit eine besondere Bedeutung zumisst und deshalb darauf drängt, dass Staaten, die Zugang zu ihrem Binnenmarkt wollen, auch dieses Prinzip anerkennen. Die Schweiz hat sich im Rahmen der Bilateralen Verträge I dazu verpflichtet. Die Wegweisung straffällig gewordener Ausländer aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung tangiert indessen den Kerngehalt der Freizügigkeit in keiner Weise und wird vom FZA sogar ausdrücklich zugelassen (Art. 5 Anhang I FZA). Sie betrifft zudem nur einen ganz geringen Teil der aus

EU-Staaten zugewanderten Personen und hat mit dem Handel zwischen den FZA-Vertragsstaaten sachlich nichts zu tun. Das Funktionieren des Binnenmarkts hängt offensichtlich nicht davon ab, dass der Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der EU und in der Schweiz genau gleich verstanden und die Wegweisung ausländischer Straftäter exakt übereinstimmend gehandhabt wird. Die sektorielle Beteiligung der Schweiz am EU-Binnenmarkt spricht deshalb nicht dagegen, im Falle eines Konflikts zwischen FZA und Strafgesetzbuch entsprechend der Schubert-Praxis letzteres anzuwenden.

Zutreffend ist, dass die Personenfreizügigkeit am 21. Mai 2000 in einer eidgenössischen Volksabstimmung von Volk und Ständen gutgeheissen wurde und insofern in einem besonderen Masse demokratisch legitimiert ist. Dies gilt aber auch für die zwischenzeitlich erlassenen Bestimmungen über die Landesverweisung straffällig gewordener Ausländer. Volk und Stände ergänzten in der Volksabstimmung vom 28. November 2010 die Bundesverfassung dahingehend, dass Ausländer, welche gewisse Delikte begehen, jegliches Aufenthaltsrecht in der Schweiz verlieren. Das Parlament beschloss in der Folge eine entsprechende Ergänzung des Strafgesetzbuchs, wobei einerseits der Katalog der Straftaten, die zur Landesverweisung führen, ergänzt und präzisiert, anderseits aber auch - entgegen dem erwähnten Volksentscheid - eine Ausnahmeklausel für Härtefälle eingefügt wurde. Letztere wurde vom Verfassungsgeber nachträglich sanktioniert, indem Volk und Stände am 28. Februar 2016 eine dagegen gerichtete Volksinitiative ablehnten. Volk und Parlament haben damit im Bereich der Landesverweisung ausländischer Straftäter einen klaren Entscheid gefällt, dem im Falle eines Konflikts mit älterem Staatsvertragsrecht im Sinne der Schubert-Praxis Nachachtung zu verschaffen ist.

Fehl geht sodann die Argumentation, dass damit den in der Schweiz lebenden Bürgern von EU-Mitgliedsstaaten der vom FZA garantierte gerichtliche Rechtsschutz entzogen werde. Wenn die schweizerische Gerichtspraxis bei der Auslegung des Begriffs der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf die entsprechenden Bestimmungen des Schweizerischen Strafgesetzbuchs abstellt, schmä- lert dies die Möglichkeiten der betroffenen Straftäter, sich vor Gericht gegen die Anordnung einer Landesverweisung zu wehren, in keiner Weise. Es stehen dazu weiterhin zwei kantonale Gerichtsinstanzen mit voller Kognition, die bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen und schliesslich auch noch die Überprüfung der letztinstanzlichen Entscheide auf EMRK-Konformität vor dem MenschenrechtsGerichtshof in Strassburg zur Verfügung. Einen weitergehenden Rechtsschutz - etwa in Form einer Weiterzugsmöglichkeit an den EuGH - gewährt auch das FZA nicht. Ebenso wenig bildet das Argument, dass die EU-Mitgliedstaaten ihrerseits bei der Auslegung des FZA der Rechtsprechung des EuGH unterworfen seien, einen Grund, dieser gegenüber den Bestimmungen der Bundesverfassung und des Strafgesetzbuchs über die Landesverweisung den Vorrang zu geben. Die Verpflichtung der EU-Staaten, EU-Vorschriften zu befolgen und den EuGH als Oberinstanz anzuerkennen, ergibt sich aus ihrer Mitgliedschaft bei der EU. Die Schweiz hingegen ist nicht Mitglied der EU und hat im Bereich der Personenfreizügigkeit gegenüber den EU-Staaten und deren Bürgern keine weitergehenden

Pflichten als diejenigen, die sich aus dem FZA ergeben. Dieses schreibt aber, wie bereits dargelegt wurde, nur die Berücksichtigung, nicht aber die strikte Befolgung der EuGH-Gerichtspraxis vor, und darf im Übrigen aufgrund der Schubert-Praxis nicht entgegen den Bestimmungen des Strafgesetzbuches über die Landesverweisung angewendet werden.

8. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Landesrecht zumindest in denjenigen Fällen, in welchen kein Härtefall vorliegt, dem FZA vorgeht. Demnach ist nachfolgend zu prüfen, ob sich der Beschuldigte auf die Härtefallklausel berufen kann.

    1. im konkreten Einzelfall ein schwerer persönlicher Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB vorliegt, erfolgt aufgrund einer Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände. Insbesondere zu berücksichtigen sind die Anwesenheitsdauer, die familiären Verhältnisse, die Arbeitsund Ausbildungssituation und der Arbeitsund Ausbildungswille, der Gesundheitszustand des Betroffenen und die Behandlungsmöglichkeit von allfälligen Krankheiten, die Persönlichkeitsentwicklung, der Grad der Integration und die Wiedereingliederungsaussichten im Heimatland sowie die Resozialisierungschancen. Härtefallbegründende Aspekte müssen grundsätzlich den Betroffenen selbst treffen. Treten sie bei Dritten auf, sind sie nur dann zu berücksichtigen, wenn sie sich zumindest indirekt auch auf den Betroffenen auswirken. Ein schwerer persönlicher Härtefall ist dann anzunehmen, wenn die Summe aller Schwierigkeiten den Betroffenen derart hart trifft, dass ein Verlassen der Schweiz bei objektiver Betrachtung zu einem nicht hinnehmbaren Eingriff in seine Lebensbedingungen führt (Marc Busslinger/Peter Uebersax, a.a.O., S. 101 f.). Bei der Härtefallprüfung im Sinne von Art. 66a

      Abs. 2 StGB ist das Ausmass der persönlichen Beziehung bzw. Bindung der betroffenen Person zur Schweiz bzw. zu hier lebenden Personen ein besonders gewichtiger Faktor, was sich u.a. aus der expliziten Erwähnung der speziellen Situation von in der Schweiz geborenen Ausländerinnen und Ausländern (sogenannte Secondos) im Gesetzestext ergibt. Der rigorose Automatismus der obligatorischen Landesverweisung soll also vor allem dann durchbrochen werden, wenn der betroffene Ausländer eine starke Bindung zur Schweiz hat, welche die Landesverweisung insgesamt als in hohem Masse unverhältnismässig erscheinen lässt.

    2. Zu den persönlichen Verhältnissen des Beschuldigten ist gestützt auf seine glaubhaften Aussagen und die im Recht liegenden Urkunden (vgl. hierzu Urk. 49 S. 20 ff., Prot. I S. 13, Prot. II S. 5 ff., Urk. 25/7/2 S. 4 f., Urk. 62/1-4) festzuhalten, dass er 1988 in der Dominikanischen Republik geboren wurde. Im Jahr 1997, mithin im Alter von neun Jahren, ist er mit seiner Mutter und seiner Schwester in die Schweiz gezogen. Sie haben sechs Jahre in B. gewohnt, wo er die Primarschule bis zur 6. Klasse besuchte. Danach ist die Familie nach ZürichD. gezogen, wo der Beschuldigte die Oberstufe absolvierte. Fünf Jahre später ist der Beschuldigte mit seiner Mutter nach E. gezogen und wiederum dreieinhalb Jahre danach nach B. . Dort lebte der Beschuldigte bis 2015 oder 2016. Im Alter von 14 bis 17 Jahren spielte der Beschuldigte Fussball beim FC G. und danach noch drei bis vier Jahre beim FC H. .

      Seine Mutter wohnt aktuell in I. und arbeitet in einer Reinigungsfirma. Seine vier Jahre ältere Schwester hat ihren Wohnsitz in Zürich-D. und lebt dort zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern. Der Vater des Beschuldigten ist im Jahr 2003 gestorben.

      Der Beschuldigte hat noch einen fünf Jahre älteren Bruder, der in der Dominikanischen Republik lebt. Dieser ist bei ihrem Wegzug in die Schweiz im Jahre 1997 mit seinem Vater bei seinen Grosseltern in der Dominikanischen Republik geblieben. Er hat eine leichte Behinderung und ist deswegen hilfsbedürftig. Auch die Grosseltern sind zwischenzeitlich verstorben. Zu seinem Bruder hat er wenig Kontakt. Ab und zu telefoniert er mit ihm. Er hat zudem sicher noch einige Tanten und Onkel, die in der Dominikanischen Republik leben. Zu ihnen hat er jedoch keinen Kontakt. Früher, als er noch klein war, ging er noch öfters in den Sommerferien in die Dominikanische Republik. Das letzte Mal ist er vor elf Jahren, mithin als 17-Jähriger in der Dominikanischen Republik gewesen. Damals besuchte er auch seine Verwandten. Zudem hat er noch mit ein oder zwei Freunden in der Dominikanischen Republik sporadischen Kontakt.

      In Italien hat der Beschuldigte gemäss seinen Angaben keine Blutsverwandten. Früher ist er mit seinem Stiefvater in Italien in den Ferien gewesen. Er hat damals auch öfters den Mann seiner Tante in Italien besucht. Dieser wohnt nun aber mit seiner Tante in der Schweiz. Der Beschuldigte spricht ein wenig Italienisch, wobei er es besser versteht. Insgesamt hat er mit Unterbrüchen etwa eineinhalb bis zwei Monate in Italien verbracht. Der Mann seiner Tante hat in Italien einen Bauernhof, wo er stellvertretend für den Mann seiner Tante arbeiten ging, als dieser wegen einer Krebserkrankung in die Schweiz kam, um sich hier behandeln zu lassen. In der Zeit hat er sich um den Bauernhof in Italien gekümmert, wobei er hauptsächlich die Kühe versorgte. Davon abgesehen hat der Beschuldigte nie in Italien gearbeitet. Der Bauernhof existiert noch. Sein kleiner Cousin hat diesen geerbt. Der Cousin lebt aber auch in der Schweiz.

      Der Beschuldigte hat eine Freundin, welche er am tt. April 2018 geheiratet hat. Zuvor war er mit ihr - abgesehen von ein paar Phasen des Getrenntlebens - rund acht Jahre zusammen. Die Frau des Beschuldigten ist ebenfalls Dominikanerin, lebt seit etwa 22 Jahren in der Schweiz und besitzt die Niederlassungsbewilligung C. Hier haben sie sich auch kennengelernt. Die Hälfte ihrer Familie, die Brüder und Schwestern, leben in der Schweiz. Von ihren Verwandten, die in der Dominikanischen Republik leben, kennt er niemanden. Ihr Vater ist bereits verstorben. Weiter hat sie drei Kinder in der Dominikanischen Republik, mit denen sie oft telefoniert. Diese sind neunzehn, sechzehn und vierzehn Jahre alt. Er ist noch nie zusammen mit seiner Frau in der Dominikanischen Republik gewesen. Das letzte Mal ist diese vor zwei Jahren dort gewesen.

      Im Jahr 2011 ist der Beschuldigte Vater geworden. Seine Frau, die Kindsmutter, zog damals zu ihm und seiner Mutter nach Zürich-E. . Nach der Geburt des zweiten Kindes - Anfangs 2013 - ist sie mit den beiden Kindern in eine Sozialwohnung in B. gezogen, da sie und der Beschuldigte sich für eine kurze Zeit trennten. Nach zwei bis drei Monaten sind sie wieder zusammen gekommen und er ist dann zu ihr gezogen. Gemäss Angaben des Beschuldigten habe seine Frau trotz Kindern immer gearbeitet, weshalb er meistens die Kinderbetreuung übernommen habe. Auch wenn sie zerstritten gewesen seien, habe er

      die Kinder immer treffen dürfen. Er habe sie eigentlich täglich gesehen. In dieser Hinsicht habe sich seine Frau immer korrekt verhalten. Wenn es irgendwelche Probleme gegeben habe, sei er immer für die Kinder und seine Frau da gewesen. Mit seiner Frau spricht der Beschuldigte gemäss seinen Angaben Deutsch und Spanisch, mit den Kindern mehrheitlich Deutsch. Seine Frau spricht Spanisch mit den Kindern. Mittlerweile ist er mit seiner Frau und seinen Kindern nach J. umgezogen. Die alte Wohnung war zu klein und seine Frau wollte weg von

      B. . Die jüngste Tochter des Beschuldigten und seiner Frau heisst K. und ist am tt.mm.2017 geboren, sein Sohn L. am tt.mm.2012 und die älteste Tochter, M. , am tt.mm.2011. L. besucht den Kindergarten und die älteste Tochter die zweite Klasse. Die älteren zwei Kinder schauen gerne Filme. Ansonsten geht er mit ihnen oft spazieren und schwimmen. Die Kinder gehen gerne in die Badi. Bei Schnee gehen sie schlitteln. Im neuen Haus haben sie einen eigenen Garten, wo sie viel spielen. Im Alltag hilft der Beschuldigte nach seinen Angaben seiner Frau. Er kocht zu Hause und geht mit den Kindern nach draussen. Seine Frau kann sich nicht mehr so gut bewegen, da sie Rückenprobleme hat. Deshalb übernimmt er die schwere Hausarbeit. Zudem schaut er zu den Kindern und macht mit diesen auch Hausaufgaben. Die beiden älteren Kinder werden nicht fremdbetreut. Seine Frau kann seit etwa drei Jahren nicht mehr arbeiten, da sie aufgrund einer Diskushernie in ihrer Bewegungsfreiheit etwas eingeschränkt ist. Zuvor hat sie bei der Firma N. AG in O. mit einem Pensum von 100% in der Logistik gearbeitet. Derzeit lebt sie vom Sozialamt, hat aber einen Antrag auf Zusprechung einer Invalidenrente gestellt, über welchen noch nicht entschieden wurde.

      Die berufliche Integration des Beschuldigten verlief wenig erfolgreich. Nach der Schule absolvierte er von 2004 bis 2005 ein einjähriges Praktikum beim Strassenbau P. der Stadt Zürich, danach ein solches von sechs Monaten im Bereich Strassenwesen bei der Gemeinde Q. . Hernach arbeitete er wäh- rend rund acht Monaten in einem Pensum von 80% für die Reinigungsfirma

      R. . Ab 2007 hat er während rund eineinhalb Jahren in einem 100% Pensum bei der Firma S. in T. als Doppelbodenmonteur gearbeitet. In der Folge war er arbeitslos, unterbrochen lediglich durch einige kleine Jobs im

      Stundenlohn. Etwa im Jahr 2010 hat er eine 50% Anstellung als Hauswart im U. erhalten. Als Hauswart hat er rund eineinhalb Jahre gearbeitet. Da er immer abends bis nachts um 01.00 Uhr arbeiten musste und er kein Auto hatte, musste er um diese Uhrzeit für die Fahrt nach Hause ein Taxi nehmen. Das hat

      sich nicht mehr gelohnt, weshalb er die Stelle aufgegeben hat. Danach - 2014 bis 2015 - ist er wieder arbeitslos gewesen. Dann arbeitete der Beschuldigte wäh- rend ca. eineinhalb Jahren in der Firma eines Kollegen als Gipser. Der Kollege hat die Firma dann aber wegen familiären Problemen aufgelöst. In der Folge hat er noch gelegentlich temporär im Stundenlohn gearbeitet, war aber mehrheitlich arbeitslos und musste sich beim Sozialamt anmelden. Aktuell ist der Beschuldigte auf Stellensuche, wobei er von der Organisation V. unterstützt wird. Zudem befindet er sich in einer Ausbildung zum Bademeister. Der letzte Teil der Ausbildung wird voraussichtlich im November 2018 stattfinden.

      Die massgebenden Faktoren der persönlichen Lebensumstände des Beschuldigten zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Beschuldigte im Alter von neun Jahren aus der Dominikanischen Republik in die Schweiz gezogen ist. Er wurde hier beschult und lebt nun seit 21 Jahren in der Schweiz. Er ist verheiratet und hat drei Kinder, M. (geb. tt.mm.2011), L. (geb. tt.mm.2012) und K. (geb. tt.mm.2017), mit denen er zusammen lebt und zu denen er eine enge Beziehung hat, da er einen grossen Teil der Kinderbetreuung übernommen hat. Seine Mutter und seine Schwester leben ebenfalls in der Schweiz. Sein Vater ist verstorben. In seinem Heimatland lebt sein Bruder, mit dem er ca. einmal im Monat telefonischen Kontakt hat und einige entferntere Verwandte, mit denen er keinen Kontakt mehr unterhält. Das letzte Mal ist er vor 12 Jahren in seinem Heimatland gewesen. Zu Italien ist sein Kontakt noch loser. Die Staatsbürgerschaft erhielt er von seinem Stiefvater, der mittlerweile ebenfalls verstorben ist. Bei dieser Sachlage kann festgehalten werden, dass der Beschuldigte - trotz mangelnder beruflicher Integration - als in der Schweiz verwurzelt angesehen werden muss. Eine Landesverweisung würde für ihn eine besondere Härte darstellen. Es liegt ein Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB vor.

    3. Damit ist in einem zweiten Schritt eine Interessenabwägung zwischen den privaten Interessen des Beschuldigten am Verbleib in der Schweiz und den öffentlichen Interessen an dessen Wegweisung vorzunehmen. Die privaten Interessen des Beschuldigten wurden bereits vorstehend bei der Prüfung, ob ein Här- tefall vorliegt, dargelegt. Darauf ist zu verweisen. Die öffentlichen Interessen manifestieren sich am Interesse der Schweiz, die öffentliche Ordnung und Sicherheit möglichst zu bewahren. Straffällige Ausländer sollen deshalb das Land verlassen und für eine gewisse Zeit dem Land fernbleiben. Zu gewichten ist die deliktische Energie, welche der Täter mit seiner Tat offenbarte, die ausgefällte Strafe (und mit ihr das Verschulden), die Rückfallgefahr, die Vorstrafen, die Gefährlichkeit des Täters, eine allfällige Straffälligkeit nach verbüsster Freiheitsstrafe etc.

    4. Der Beschuldigte ist nicht vorbestraft. Im vorliegenden Verfahren wurde er wegen Drogendelikten in einem Zeitraum von vier Monaten (15. Februar 2017 bis 14. Juni 2017) verurteilt. Die Vorinstanz ging von einem noch leichten Verschulden aus und setzte die schuldangemessenen Strafe auf 20 Monate Freiheitsstrafe fest. Der Beschuldigte war 35 Tage in Haft, er ist geständig und zeigt Reue. Er versucht sein Leben in die richtigen Bahnen zu lenken. So hat er geheiratet, lebt mit seiner Frau und den drei gemeinsamen Kindern zusammen, hat sich - mit Ausnahme eines Kollegen - vom Umfeld in B. gelöst und wohnt nun in J. . Seit seiner Haftenlassung am 19. Juli 2017 hat er sich wohl verhalten. Trotzdem bestehen aufgrund dessen, dass der Beschuldigte finanziell noch immer nicht auf eigenen Beinen steht und offenbar nach der Haftentlassung noch einmal Kokain konsumiert hat, gewisse Bedenken in Hinblick auf die Legalprognose, waren es doch unter anderem diese Begleitumstände, die zur Straffäl- ligkeit des Beschuldigten führten.

10. Angesichts der festen Bindung des Beschuldigten zur Schweiz, seinen bloss losen Kontakten zu seinem Heimatland und zu Italien und angesichts des Umstandes, dass die Kinder des Beschuldigten, zu denen der Beschuldigte eine enge Beziehung hat, hier geboren sind und hier in den Kindergarten bzw. zur Schule gehen, erscheint eine Landesverweisung als gerade noch nicht verhältnismässig. In Berücksichtigung der in diesem Verfahren beurteilten Tat und der

konkreten persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten vermag das öffentliche Interesse an einer Landesverweisung des Beschuldigten dessen privates Interesse an einem Verbleib in der Schweiz knapp nicht zu überwiegen, wobei zu betonen ist, dass von einem Grenzfall auszugehen ist. Damit sind die Voraussetzungen für eine Landesverweisung nicht erfüllt und ist von der Anordnung einer solchen abzusehen. Der Beschuldigte ist jedoch eindringlich darauf hinzuweisen, dass jedes weitere kriminelle Verhalten - erst recht ein weiteres schweres Betäubungsmitteldelikt - die Waage auf die andere Seite kippen lassen würde.

IV. Kostenfolgen
  1. Die Kosten des Berufungsverfahrens sind ausgangsgemäss auf die Gerichtskasse zu nehmen.

  2. Der amtliche Verteidiger des Beschuldigten ist für das Berufungsverfahren mit pauschal Fr. 4'400.- inklusive Mehrwertsteuer zu entschädigen (Urk. 59 und 63).

Es wird beschlossen:

  1. Es wird festgestellt, dass das Urteil des Bezirksgerichts Zürich, 3. Abteilung, vom 1. März 2018 bezüglich Dispositivziffern 1 (Schuldspruch), 2 (Strafe),

    3 (Vollzug), 4 (Ersatzfreiheitsstrafe), 6 (Einziehung Barschaft), 7 und 8 (Einziehung beschlagnahmter Gegenstände), 9 (Herausgabe beschlagnahmter Gegenstände), 10 und 11 (Kostendispositiv) sowie 12 (Entschädigung amtliche Verteidigung) in Rechtskraft erwachsen ist.

  2. Mündliche Eröffnung und schriftliche Mitteilung mit nachfolgendem Urteil.

Es wird erkannt:

  1. Von der Anordnung einer Landesverweisung wird abgesehen.

  2. Die zweitinstanzliche Gerichtsgebühr fällt ausser Ansatz. Die weiteren Kosten betragen:

    Fr. 4'400.- amtliche Verteidigung

  3. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden auf die Gerichtskasse genommen.

  4. Mündliche Eröffnung und schriftliche Mitteilung im Dispositiv an

    • die amtliche Verteidigung im Doppel für sich und zuhanden des Beschuldigten

    • die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat sowie in vollständiger Ausfertigung an

    • die amtliche Verteidigung im Doppel für sich und zuhanden des Beschuldigten

    • die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat

      und nach unbenütztem Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. Erledigung allfälliger Rechtsmittel an

    • die Vorinstanz [mit dem Ersuchen um Vornahme der notwendigen Mitteilungen an die Parteien betr. Herausgabe sowie die

      (Lager-)Behörden, inkl. Formular A und DNA-Formular an die KOST Zürich]

    • das Migrationsamt des Kantons Zürich.

  5. Rechtsmittel:

Gegen diesen Entscheid kann bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen erhoben werden.

Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, von der Zustellung der vollständigen, begründeten Ausfertigung an gerechnet, bei der Strafrechtlichen Abteilung

des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen.

Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.

Obergericht des Kantons Zürich

II. Strafkammer Zürich, 5. Oktober 2018

Der Präsident:

Oberrichter lic. iur. Spiess

Die Gerichtsschreiberin:

lic. iur. Leuthard

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