Zusammenfassung des Urteils HG210007: Handelsgericht des Kantons Zürich
Die Berufungsklägerin, X._____, wurde vom Vorwurf des rechtswidrigen Aufenthalts gemäss Art. 115 Abs. 1 lit. b AuG freigesprochen. Das Gericht stellte fest, dass ihr Aufenthalt in der Schweiz während des fraglichen Zeitraums nicht als illegal angesehen werden kann, da sie ihr Gesuch um Familiennachzug stellte, bevor ihr bewilligungsfreier Aufenthalt endete. Die Kosten des Verfahrens sowie die Entschädigung für die Berufungsklägerin werden dem Kanton Graubünden auferlegt. Die Gerichtskosten und die Entschädigung werden aus den entsprechenden Gerichtskassen bezahlt. Die Berufungsklägerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung für ihre Aufwendungen im Verfahren. Die Entscheidung kann beim Bundesgericht angefochten werden.
Kanton: | ZH |
Fallnummer: | HG210007 |
Instanz: | Handelsgericht des Kantons Zürich |
Abteilung: | - |
Datum: | 03.08.2021 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Forderung |
Schlagwörter : | LugÜ; Recht; Lieferung; Handel; Urteil; Vertrag; Beklagten; Lieferort; Transport; Über; Gericht; Versendung; Klage; Rechnung; Handelsgericht; Gedankenstrich; Versendungskauf; Abholung; Zuständigkeit; Trim/KeySafety; Systems; Lieferorts; Rechtsprechung; Verfügung; Parteien; Gerichtsstand; Kommentar |
Rechtsnorm: | Art. 104 ZPO ;Art. 52 BGG ;Art. 74 OR ; |
Referenz BGE: | 131 III 76; 134 III 475; 135 III 185; 136 III 486; 140 III 115; 140 III 418; 141 III 294; 142 III 466; 48 II 412; 63 II 34; |
Kommentar: | - |
Handelsgericht des Kantons Zürich
Geschäfts-Nr.: HG210007-O Z05/mk
Mitwirkend: Oberrichterin Dr. Claudia Bühler, Vizepräsidentin, Oberrichterin
Dr. Helen Kneubühler, Handelsrichterin Dr. Myriam Gehri, Handelsrichter Vinicio Cassani und Handelsrichter Beat Suter sowie Gerichtsschreiber Jan Busslinger
in Sachen
Klägerin
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. X1. vertreten durch Rechtsanwältin MLaw X2.
gegen
,
Beklagte
vertreten durch Rechtsanwalt MLaw Y.
betreffend Forderung
1. Prozessverlauf
Mit Eingabe vom 11. Januar 2021 machte die Klägerin die vorliegende Forderungsklage beim Handelsgericht Zürich anhängig (act. 1; act. 2; act. 3/1-37). Den ihr mit Verfügung vom 13. Januar 2021 (act. 4) auferlegten Kostenvorschuss von CHF 7'300.00 bezahlte die Klägerin am 1. Februar 2021 innerhalb der angesetzten Frist (act. 6). Mit Eingabe vom 9. Februar 2021 reichte die Klägerin ebenfalls fristgemäss eine Übersetzung des holländischen Handelsregisterauszuges über die Beklagte ein (act. 7; act. 8/1-3). Mit Verfügung vom 19. Februar 2021 wurde der im Ausland domizilierten Beklagten Frist zur Einreichung einer Klageantwort und Bezeichnung eines Zustellungsdomizils angesetzt (act. 9). Die Rechtsvertretung der Beklagten reichte ihre Vollmacht mit Eingabe vom 21. April 2021 ein und stellte ein Fristerstreckungsgesuch (act. 11; act. 12; act. 13/1-2). Mit Eingabe vom
8. Juni 2021 reichte die Beklagte die Klageantwort innerhalb der mit Verfügung vom 22. April 2021 (act. 14) angesetzten Nachfrist ein und beantragte im Hauptstandpunkt, auf die Klage sei nicht einzutreten (act. 16; act. 17/1-8). Mit Verfügung vom 11. Juni 2021 wurde der Klägerin Frist angesetzt, um sich zum Antrag der Beklagten auf Nichteintreten, insbesondere zur Unzuständigkeitseinrede, zu äussern (act. 18). Die Klägerin nahm mit Eingabe vom 1. Juli 2021 Stellung (act. 20). Die Stellungnahme der Klägerin wurde der Beklagten am 9. Juli 2021 zugestellt (act. 21). Die Beklagte hat sich nicht mehr vernehmen lassen.
2. Prozessgegenstand
Die Klägerin fordert von der Beklagten den ausstehenden Kaufpreis für die Lieferung von -zubehör (act. 1 Rz. 14, 59, 60).
Die Klägerin ist eine Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts mit Sitz in
C.
ZH; sie bezweckt den Handel mit , -zubehör, -accessoires und
Sportbekleidung sowie die Durchführung von Schulungen im -bereich (act. 1 Rz. 2, 15; act. 3/1).
Die Beklagte ist eine Offene Handelsgesellschaft (Vennootschap Onder Firma) niederländischen Rechts mit Sitz in D. NL; sie bezweckt den Grosshandel mit und sowie -teilen (act. 1 Rz. 2, 17; act. 3/2 = act. 8/1).
Durch die Vermittlung des Agenten E. in F. IT deponierte die Beklagte am 12. September 2018, am 20. September 2018 und am 22. Oktober 2018 Produktbestellungen bei der Klägerin (act. 1 Rz. 20, 25; act. 3/4-6). Die Klägerin bestätigte die Bestellungen durch die Auftragsbestätigungen Nr. 401801559 und Nr. 401801561 vom 13. September 2018 sowie Nr. 401801616-401801623 vom
25. September 2018, durch die Auftragsbestätigungen Nr. 401801606-401801615 vom 25. September 2018 und durch die Auftragsbestätigungen Nr. 401802029 und Nr. 401802032 vom 24. Oktober 2018 (act. 1 Rz. 21, 26; act. 3/7-9). Die Parteien streiten über den Umfang der Lieferung vom 23. April 2019 (act. 1 Rz. 34, 35, 36, 38; act. 16 Rz. 37, 38, 39, 43). Unbestritten ist, dass die Lieferung die in
den Rechnungen Nr. 201901465 vom 31. Januar 2019 über JPY 4'203'068.20,
Nr. 201905628 vom 28. März 2019 über JPY 735'795.70, Nr. 201905629 vom
28. März 2019 über USD 2'440.70, Nr. 201905640 vom 29. März 2019 über
USD 4'381.00, Nr. 201905635 vom 28. März 2019 über USD 23'481.50 und
Nr. 201905938 vom 2. April 2019 über JPY 5'857'466.15 aufgeführten Artikel enthielt (act. 1 Rz. 30, 34; act. 3/14; act. 3/23). Diese Rechnungen hat die Beklagte beglichen (act. 1 Rz. 30, 33). Ausserdem lieferte die Klägerin auch einen bereits in der Rechnung Nr. 201901468 vom 31. Januar 2018 enthaltenen Artikel (20
missing rotors) erst mit der Lieferung vom 23. April 2019 (act. 16 Rz. 10, 15, 17,
18; act. 3/11; act. 3/22). Die Speditionsfirma G. 24. April 2019 in C. ab (act. 1 Rz. 35; act. 3/24).
holte die Lieferung am
Die Klägerin behauptet, in der Lieferung vom 23. April 2019 seien überdies die in den unbezahlt gebliebenen Rechnungen Nr. 201905596 vom 28. März 2019 über JPY 735'795.70, Nr. 201905611 vom 28. März 2019 über USD 2'440.70,
Nr. 201905636 vom 28. März 2019 über JPY 4'510'913.20, Nr. 201905647 vom
29. März 2019 über USD 13'084.80, Nr. 201905648 vom 29. März 2019 über
JPY 242'956.40 und Nr. 201905943 vom 2. April 2019 über USD 12'696.50 aufgeführten Artikel enthalten (act. 1 Rz. 31, 36; act. 3/15-20). Sie beantragt entsprechend, die Beklagte zur Bezahlung der offenen Beträge zu verpflichten (act. 1 Rz. 60).
Die Beklagte beantragt, auf die Klage sei zufolge fehlender internationaler und örtlicher Zuständigkeit nicht einzutreten, eventualiter sei die Klage vollumfänglich abzuweisen (act. 16 Rz. 12). Sie bestreitet, die von der Klägerin genannten unbezahlt gebliebenen Rechnungen erhalten zu haben (act. 16 Rz. 36, 40, 42). Die dort aufgeführte Ware habe die Beklagte nie erhalten (act. 16 Rz. 39). Die Lieferung vom 23. April 2019 habe kein unbezahltes Equipment enthalten (act. 16 Rz. 39).
3. Einrede der internationalen und örtlichen Unzuständigkeit
Die Beklagte erhebt die Einrede der internationalen und örtlichen Unzuständigkeit (act. 16 Rz. 12, 24).
Gemäss Art. 5 Ziff. 1 lit. b erster Gedankenstrich LugÜ besteht sofern nichts an- deres vereinbart worden ist ein Gerichtsstand am Erfüllungsort für den Verkauf beweglicher Sachen am Ort, an dem diese nach dem Vertrag geliefert worden sind hätten geliefert werden müssen.
Es liegt ein internationaler Sachverhalt vor, da beide Parteien ihren Sitz in unterschiedlichen Staaten haben (BGE 135 III 185 E. 3.1 S. 188; BGE 134 III 475 E. 4
S. 477; BGE 131 III 76 E. 2.3 S. 79-80). Die Beklagte hat ihren Sitz in einem an das LugÜ gebundenen Staat (Niederlande) und wird abweichend von Art. 2 LugÜ in einem anderem an das LugÜ gebundenen Staat (Schweiz) verklagt. Die Zuständigkeit muss sich deshalb aus einem der alternativen Gerichtsstände in Art. 5 LugÜ ergeben (BGE 131 III 76 E. 3.4 S. 82). Die Bestimmung regelt sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit (DIETER A. HOFMANN/OLIVER M. KUNZ, in: Lugano-Übereinkommen, Basler Kommentar, hrsg. von Christian Oetiker/Thomas Weibel, 2. Aufl. 2016, N. 237 zu Art. 5 LugÜ, N. 544 zu Art. 5 LugÜ).
Die Frage, ob und mit welchem Inhalt ein Vertrag über den Verkauf beweglicher Sachen i.S.v. Art. 5 Ziff. 1 lit. b erster Gedankenstrich LugÜ zustande gekommen ist, stellt eine doppelrelevante Tatsache dar (HGer ZH, Beschluss v.
14.07.1997, ZR 98 [1999] Nr. 34, E. 4.2.b S. 136; PAUL OBERHAMMER, in: LuganoÜbereinkommen [LugÜ], hrsg. von Felix Dasser/Paul Oberhammer, 2. Aufl. 2011,
N. 18 zu Art. 5 LugÜ; vgl. auch BGE 142 III 466 E. 4.1 S. 469). Im Rahmen der Prüfung der Zuständigkeit ist somit auf die klägerischen Behauptungen abzustellen, ohne den Einwendungen der Gegenpartei Rechnung zu tragen (BGE 142 III 466 E. 4.1 S. 469; BGE 141 III 294 E. 5.2 S. 298 = Pra 106 [2017] Nr. 5; BGE 137
III 32 E. 2.3 S. 34; BGE 136 III 486 E. 4 S. 488 = Pra 100 [2011] Nr. 32). Art. 5
Ziff. 1 lit. b LugÜ schafft einen einheitlichen Gerichtsstand nicht nur für Klagen aus der Lieferverpflichtung, sondern für sämtliche Klagen aus dem entsprechenden Vertrag (EuGH, Urteil v. 25.02.2010, C-381/08, Slg. 2010, I-1255, Car Trim/KeySafety Systems, Rn. 50; Urteil v. 03.05.2007, C-386/05, Slg. 2007, I- 3727, Urteil v. 03.05.2007, C-386/05, Slg. 2007, I-3727, Color Drack/Lexx International, Rn. 26). Auf die vorliegende Kaufpreisklage findet die Zuständigkeitsnorm demzufolge Anwendung. Zwischen den Parteien ist zu Recht unstreitig geblieben, dass die Zuständigkeitsprüfung unter Art. 5 Ziff. 1 lit. b erster Gedankenstrich LugÜ zu erfolgen hat.
Die tatsächlichen Grundlagen einer Erfüllungsortsvereinbarung i.S.v. Art. 5 Ziff. 1 lit. b LugÜ legen die Parteien nicht dar. Folglich ist darauf abzustellen, an welchen Ort die Ware nach dem Vertrag geliefert worden ist (Art. 5 Ziff. 1 lit. b erster Gedankenstrich LugÜ). Der Begriff des Lieferorts ist konventionsautonom ohne Rückgriff auf das internationale Privatrecht und das auf den Vertrag anwendbare materielle Recht zu bestimmen (EuGH, Urteil v. 25.02.2010, C-381/08, Slg. 2010, I-1255, Car Trim/KeySafety Systems, Rn. 53; Urteil v. 03.05.2007, C- 386/05, Slg. 2007, I-3727, Color Drack/Lexx International, Rn. 24, 26; BGE 140 III 115 E. 4 S. 119-121; W OLFGANG HAU, Die Kaufpreisklage des Verkäufers im reformierten europäischen Vertragsgerichtsstand ein Heimspiel, JZ 2008, 974, S. 977-978).
Zunächst ist zu prüfen, ob sich der Lieferort aus dem Vertrag ergibt (EuGH, Urteil v. 09.06.2011, C-87/10, Slg. 2011, I-5003, Electrosteel Europe/Edil Centro, Rn. 26; Urteil v. 25.02.2010, C-381/08, Slg. 2010, I-1255, Car Trim/KeySafety Systems, Rn. 54, 62). Dazu muss das angerufene nationale Gericht alle ein-
schlägigen Bestimmungen und Klauseln dieses Vertrags, einschliesslich der allgemein anerkannten und im internationalen Handelsverkehr üblichen Bestimmungen und Klauseln wie der von der Internationalen Handelskammer formulierten Incoterms in der im Jahr 2000 veröffentlichten Fassung berücksichtigen, die eine eindeutige Bestimmung dieses Ortes ermöglichen (EuGH, Urteil v. 09.06.2011, C-87/10, Slg. 2011, I-5003, Electrosteel Europe/Edil Centro, Rn. 26). Es ist zu differenzieren, ob sich der Verkäufer nach dem Vertrag zur blossen Bereitstellung (sog. Holschuld), dem Transport (sog. Bringschuld) der Versendung (sog. Schickschuld) der Ware verpflichtet hat (HAU, JZ 2008, 974, S. 975-976). Die Versendungsoder Schickschuld zeichnet sich dadurch aus, dass Leistungs- und Erfolgsort auseinander fallen (ULRICH G. SCHROETER, in: Obligationenrecht I, Basler Kommentar, hrsg. von Corinne Widmer Lüchinger/David Oser, 7. Aufl. 2019,
N. 17 zu Art. 74 OR; INGEBORG SCHWENZER/CHRISTIANA FOUNTOULAKIS, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2020, N 7.06). Die Verkäuferpflicht beschränkt sich auf die Übergabe an eine geeignete Transportperson (HAU, JZ 2008, 974, S. 976; SCHROETER, in: Basler Kommentar, N. 17 zu Art. 74 OR).
Nach Ansicht der Klägerin besteht eine vertragliche Vereinbarung im Sinne einer Holschuld, wonach die Klägerin die streitgegenständliche Lieferung an ihrem Sitz in C. ZH bereitstelle und sie die Beklagte dort abhole (act. 1 Rz. 6, 23, 25, 35; act. 20 Rz. 9). Nach Ansicht der Beklagten handelt es sich hingegen um einen Versendungskauf, bei welchem die Beklagte den Transport der bestellten Artikel organisieren müsse (act. 16 Rz. 33, 38).
Schriftliche Vertragsunterlagen, welche die Frage des Lieferorts regeln würden, bestehen nicht (act. 1 Rz. 14; act. 16 Rz. 6, 27).
Unbestritten geblieben ist der Ablauf einer Lieferung durch die Klägerin (act. 1 Rz. 20-23; act. 16 Rz. 6, 7, 32; act. 20 Rz. 8): Die Bestellung erfolgt über den Agenten, der sie an die Klägerin weiterleitet. Nach Eingang der Bestellung erstellt die Klägerin eine Auftragsbestätigung, welche sie dem Agenten zur Weiterleitung an die Kundin zustellt. Gestützt auf die Auftragsbestätigung hat die Kundin eine Anzahlung von 10 % des Gesamtbetrags der Bestellung zu leisten. Nach Eingang der Anzahlung löst die Klägerin die Bestellung beim Zulieferer Hersteller aus.
Sind die bestellten Artikel vom Zulieferer Hersteller bei der Klägerin eingetroffen, erstellt die Klägerin die Rechnung und stellt diese dem Agenten zur Weiterleitung an die Kundin zu. Die bestellten Artikel stellt die Klägerin an ihrem Sitz in C. ZH zur Abholung bereit. Die Freigabe zur Abholung erfolgt nach voll- umfänglicher Begleichung des Rechnungsbetrags durch die Kundin unter Angabe des Transportvolumens. Die Klägerin erstellt die für den internationalen Warentransport notwendigen Dokumente.
Die Beklagte wendet ein, sie habe die Ware nie selber abholen wollen (act. 16 Rz. 33). Sie legt jedoch nicht dar, inwiefern der Ablauf der streitgegenständlichen Lieferung abgesehen von der Unregelmässigkeit der Warendokumentation (act. 16 Rz. 15, 18; act. 3/22; act. 3/23) vom vorgesehenen Ablauf abweichen würden. Auf einen inneren, für die Klägerin nicht erkennbaren Willen der Beklagten kommt es nicht an.
Den geschilderten Ablauf belegt zudem der E-Mail-Verkehr zwischen dem Mitarbeiter der Klägerin und der Mitarbeiterin der Beklagten. Mit E-Mail vom 18. April 2019, 09:53 Uhr, schrieb die Beklagte an die Klägerin (act. 1 Rz. 33; act. 20 Rz. 9; act. 3/22):
We will pick up the goods at A. [Klägerin] tomorrow Please advise me how many pallets we can pick up. [ ] Let me know this morning the volumn and the weight
Der Mitarbeiter der Klägerin schrieb mit E-Mail vom 18. April 2019, 15:00 Uhr (act. 1 Rz. 33; act. 20 Rz. 9; act. 3/22):
Deine Paletten sind am Dienstag Nachmittag zur Abholung bereit. 1x Einweg 120x120
7x Einweg 120x80 2x Euro 120x80
Höhe:
2x160 1x170 7x150
Gewicht:
1x340kg 1x385kg 1x210kg 1x205kg 1x285kg 1x215kg 1x320kg 1x280kg 1x200kg 1x155kg
Die Mitarbeiterin der Beklagten teilte mit E-Mail vom 18. April 2019, 15:15 Uhr,
mit, die Transportunternehmung G.
werde die Lieferung am Dienstag
[23. April 2019] abholen (act. 1 Rz. 33; act. 20 Rz. 9; act. 3/22). Die Organisation des Transports erfolgte unbestritten durch die Beklagte (act. 16 Rz. 33, 38; act. 20 Rz. 8, 9, 15), welche auch die Transportkosten trug (act. 20 Rz. 10; act. 17/1).
Bei dieser Sachlage ergeben sich keine Indizien, aus welchen die Klägerin darauf hätte schliessen müssen, die Beklagte sei mit der gelebten Abwicklung der Warenlieferung nicht einverstanden. Der Erstellung der für den internationalen Warentransport notwendigen Dokumente kommt eine solche Indizwirkung nicht zu. Bei diesen handelte es sich um die Rechnungen und eine Auflistung des Inhalts der betreffenden Lieferung (act. 1 Rz. 34; act. 16 Rz. 37; act. 3/23). Die Beklagte vermag die Vereinbarung eines Versendungskaufs deshalb nicht nachzuweisen. Die Organisation des Transports besorgte die Beklagte. Die Pflicht der Klägerin beschränkte sich darauf, die Ware an ihrem Sitz zur Abholung bereit zu stellen. Es fehlt an der für den Versendungskauf typischen Pflicht zur Übergabe an den ersten Beförderer. Nach dem Vertrag bestand die Verpflichtung der Klägerin le- diglich darin, die Ware abholbereit bereitzustellen, womit eine sog. Holschuld vorliegt.
Unter den Begriff der Lieferung i.S.v. Art. 5 Ziff. 1 lit. b erster Gedankenstrich LugÜ fällt auch die Holschuld (H AU, JZ 2008, 974, S. 975 mit Hinweis auf Art. 31 lit. c CISG sowie w.Nw.; ALEXANDER R. MARKUS, Tendenzen beim materiellrechtlichen Vertragserfüllungsort im internationalen Zivilverfahrensrecht, Basel 2009, S. 195). Zwischen den Parteien ist streitig, ob die von ihnen angeführte Rechtsprechung des EuGH auf den vorliegenden Sachverhalt Anwendung findet (act. 16 Rz. 4; act. 20 Rz. 13).
In der Praxis steht bei der Diskussion des Lieferorts der Versendungskauf aufgrund seiner grossen praktischen Bedeutung im Vordergrund (vgl. HOFMANN/ KUNZ, in: Basler Kommentar, N. 237 zu Art. 5 LugÜ; JAN KROPHOLLER/JAN VON HEIN, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl. 2011, N. 49 zu Art. 5 aEuGVO; OBERHAMMER, a.a.O., N. 59 zu Art. 5 LugÜ). Die Vorlagefragen und -antworten der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH beziehen sich jeweils auf den Versendungskauf (EuGH, Urteil v. 09.06.2011, C-87/10, Slg. 2011, I-5003, Electrosteel Europe/Edil Centro, Rn. 15; Urteil v. 25.02.2010, C-381/08, Slg. 2010, I-1255, Car Trim/KeySafety Systems, Rn. 26). Aus den Bezugnahmen im Schrifttum ergibt sich dies nicht immer mit der wünschbaren Deutlichkeit (vgl. DOMENICO A- COCELLA, in: Lugano-Übereinkommen [LugÜ] zum internationalen Zivilverfahrensrecht, Kommentar, hrsg. von Anton K. Schnyder, 2011, N. 123, 125 zu Art. 5 LugÜ; RAINER HÜSSTEGE, in: Zivilprozessordnung, begr. von Heinz Thomas/Hans Putzo, 40. Aufl. 2019, N. 9 zu Art. 7 EuGVVO; CORINNE WIDMER LÜCHINGER, in:
Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht, hrsg. von Ingeborg Schwenzer,
6. Aufl. 2013, N. 90 zu Art. 31 CISG). Damit entsteht der Eindruck, die für den Versendungskauf ergangene Rechtsprechung beanspruche allgemeine Geltung für Kaufverträge i.S.v. Art. 5 Ziff. 1 lit. b erster Gedankenstrich LugÜ. Für den vorliegend interessierenden Fall der Holschuld ergibt sich dies jedoch weder aus der Rechtsprechung noch aus dem Schrifttum. Letzteres folgt vielmehr der Ansicht, der Lieferort befinde sich am Ort, an welchem die Ware bereit zu stellen ist (GÜN- TER HAGER/FLORIAN BENTELE, Der Lieferort als Gerichtsstand zu Auslegung des Art. 5 Nr. 1 lit. b EuGVO, IPRax 2004, 73, S. 73-74; HAU, JZ 2008, 974, S. 975; KROPHOLLER/VON HEIN, a.a.O., N. 45 a.E. zu Art. 5 aEuGVO; ALEXANDER R. MAR-
KUS, Vertragsgerichtsstände nach Art. 5 Ziff. 1 revLugÜ/EuGVVO ein EuGH zwischen Klarheit und grosser Komplexität, AJP 2010, 971, S. 981; WIDMER LÜ- CHINGER, a.a.O., N. 91 zu Art. 31 CISG). Es bezeichnet diese Fälle gar ausdrücklich als unproblematisch (HAGER/BENTELE, IPrax 2004, 73, S. 73-74; WIDMER LÜ- CHINGER, a.a.O., N. 91 zu Art. 31 CISG).
Die Rechtsprechung zum Versendungskauf stützt sich bei der Bestimmung des Lieferorts auf die Sach- und Beweisnähe im Hinblick auf allfällige Gewährleistungsprozesse (EuGH, Urteil v. 25.02.2010, C-381/08, Slg. 2010, I-1255, Car Trim/KeySafety Systems, Rn. 61; Color Drack, Rn. 22; BGE 140 III 418 E. 4.1 S. 420; vgl. auch Urteil v. 11.03.2010, C-19/09, Slg. 2010, I-2163, Wood Floor Solutions/Silva Trade, Rn. 27; BGE 140 III 418 E. 6.2.1 S. 429-430; KROPHOL-
LER/VON HEIN, a.a.O., N. 49 zu Art. 5 EuGVO). Die Beklagte bringt vor, der Fahrer nehme bei der Abholung keine Kontrolle der Lieferung auf Vollständigkeit Mängel vor, weshalb auch lediglich die Übernahme der gerüsteten Paletten und
nicht der Artikel bestätige (act. 16 Rz. 8; act. 3/24). Der Fahrer wiege die Ware bei der Übernahme auch nicht nochmals, da ihm dies aus logistischen und zeitlichen Gründen gar nicht möglich wäre (act. 16 Rz. 9).
Für die Bestimmung des Lieferorts spielt es keine Rolle, ob die Abholung durch den Käufer durch einen von ihm beauftragten Dritten erfolgt (HAU, JZ 2008, 974, S. 975). Eine eingehende Prüfung der Ware könnte die Beklagte auch nicht vornehmen, wenn sie den Transport durch eigene Leute anstatt durch ein Drittunternehmen durchführen liesse. Deshalb kann es auch nicht darauf ankommen, ob die Transportunternehmung nun als Vertreter der Beklagten handelt nicht (act. 1 Rz. 6; act. 16 Rz. 7). Der materielle Erfüllungsort ist ebenfalls nicht entscheidend (THOMAS RAUSCHER, Internationaler Gerichtsstand des Erfüllungsorts - Abschied von Tessili und de Bloos, NJW 2010, 2251, S. 2252). Neben der Beweisnähe ist auch die Vorhersehbarkeit ein Kriterium bei der Bestimmung des Lieferorts (EuGH, Urteil v. 25.02.2010, C-381/08, Slg. 2010, I-1255, Car Trim/KeySafety Systems, Rn. 61; vgl. auch Urteil v. 11.03.2010, C-19/09, Slg. 2010, I-2163, Wood Floor Solutions/Silva Trade, Rn. 27; v. 09.07.2009, C-204/08, Slg. 2009, I-6076, Peter Rehder/Air Baltic, Rn. 33, 34, 37; BGE 140 III 418 E. 4.1
S. 420). Die Voraussehbarkeit wäre nicht gegeben, wenn die rechtliche Stellung des Transportunternehmens entscheidend wäre. Demzufolge sprechen auch die hinter dem Gerichtsstand des Lieferorts stehenden teleologischen Überlegungen für einen Gerichtsstand am Ort der Abholung.
Da der Lieferungsort i.S.v. Art. 5 Ziff. 1 lit. b erster Gedankenstrich LugÜ in C. ZH liegt, ist das Handelsgericht des Kantons Zürich gestützt auf diese Bestimmung international und örtlich zuständig.
Im Sinne einer subsidiären Eventualbegründung ist festzuhalten, dass sich bei der Beurteilung der internationalen und örtlichen Zuständigkeit auch unter Zugrundelegung der - nach Ansicht des Handelsgerichts vorliegend nicht anwendbaren - Rechtsprechung zum Versendungskauf kein anderes Ergebnis ergibt. Gemäss dieser Rechtsprechung ist, wenn sich der Lieferort aus dem Vertrag oh- ne Bezugnahme auf das auf den Vertrag anwendbare materielle Recht nicht bestimmen lässt, Lieferort derjenige der körperlichen Übergabe der Waren, durch
die der Käufer am endgültigen Bestimmungsort des Verkaufsvorgangs die tatsächliche Verfügungsgewalt über diese Waren erlangt hat hätte erlangen müssen (EuGH, Urteil v. 09.06.2011, C-87/10, Slg. 2011, I-5003, Electrosteel Europe/Edil Centro, Rn. 16, 26; Urteil v. 25.02.2010, C-381/08, Slg. 2010, I-1255, Car Trim/KeySafety Systems, Rn. 62). Hätte die Beklagte die Lieferung vom
23. April 2019 an diesem Tag durch eine Mitarbeiterin einen Mitarbeiter am
Sitz der Klägerin in C.
ZH abholen lassen, lässt sich kaum begründen,
weshalb sie dort nicht die tatsächliche Verfügungsgewalt über diese Waren erlangt hätte. Der Umstand, dass sie die Abholung durch eine von ihr beauftragte Transportunternehmung hat abholen lassen, stellt für einen (nationalen internationalen) Distanzkauf einen üblichen Vorgang dar. Aus dieser aus objektiver Sicht mehr minder zufälligen Personenkonstellation kann sich keine Verlagerung des Lieferortes zum Sitz der Beklagten ergeben (vgl. für die umgekehrte Konstellation der Anlieferung durch den Verkäufer OLG Karlsruhe, Urt. v. 12.06.2008 - 19 U 5/08, abrufbar unter
Im Ergebnis ist das Handelsgericht des Kantons Zürich zur Beurteilung der vorliegenden Klage international und örtlich zuständig. Die von der Beklagten erhobene Einrede der internationalen und örtlichen Unzuständigkeit ist abzuweisen.
Prozesskosten
Über die Prozesskosten ist mit dem Endentscheid zu entscheiden (Art. 104 Abs. 1 ZPO).
Rechtsmittelstreitwert
Der Rechtsmittelstreitwert bestimmt sich nach den Begehren, die vor der mit der Hauptsache befassten Instanz streitig sind (Art. 51 Abs. 1 lit. c BGG). Bei auf eine
Fremdwährung lautenden Rechtsbegehren ist dieses nach dem Wechselkurs im Zeitpunkt der Klageerhebung umzurechnen (BGE 63 II 34 S. 35; BGE 48 II 412 S. 413-414; BGer 4A_555/2014 v. 12.03.2015 E. 1). Aus dem Rechtsbegehren über JPY 5'489'665.30 ergibt sich ein Streitwert von CHF 46'717.05 (CHF/JPY- Wechselkurs von 0,00851 am 11. Januar 2021), aus jenem über USD 28'222.00 ein Streitwert von CHF 24'978.16 (CHF/USD-Wechselkurs von 0,88506 am
11. Januar 2021). Der Rechtsmittelstreitwert beträgt insgesamt CHF 71'695.21
(Art. 52 BGG).
Die Unzuständigkeitseinrede der Beklagten wird abgewiesen.
Über die Prozesskosten wird mit dem Endentscheid entschieden.
Schriftliche Mitteilung an die Parteien.
Eine bundesrechtliche Beschwerde gegen diesen Entscheid ist innerhalb von 30 Tagen von der Zustellung an beim Schweizerischen Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, einzureichen. Zulässigkeit und Form einer solchen Beschwerde richten sich nach Art. 72 ff. (Beschwerde in Zivilsachen) Art. 113 ff. (subsidiäre Verfassungsbeschwerde) in Verbindung mit Art. 42 und 90 ff. des Bundesgesetzes über das Bundesgericht (BGG). Der Streitwert beträgt CHF 71'695.21.
Zürich, 3. August 2021
Handelsgericht des Kantons Zürich Gerichtsschreiber:
Jan Busslinger
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
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