Zusammenfassung des Urteils ST.2014.116, ST.2014.117: Kantonsgericht
X. und Y. betrieben eine Indoor-Hanfproduktion im Keller ihres Wohnhauses und wurden deshalb verurteilt. X. verlangte eine Entschädigung für die Überhaft und eine angemessene Behandlung während der Untersuchungshaft. Das Gericht entschied, dass X. für 12 2/9 Tage Überhaft eine Genugtuung von insgesamt CHF 3'666.65 erhalten soll. Y. forderte ebenfalls eine Entschädigung für die Überhaft und eine angemessene Behandlung. Sie erhielt eine Genugtuung von CHF 3'000.00 für 10 Tage Überhaft. Beide wurden in der Haft in ihren Rechten verletzt, da ihnen unter anderem der tägliche Spaziergang verwehrt wurde und sie nicht angemessen mit Kleidung und Hygieneartikeln versorgt wurden. (Kantonsgericht, Strafkammer, 11. August 2015, ST.2014.116/117)
Kanton: | SG |
Fallnummer: | ST.2014.116, ST.2014.117 |
Instanz: | Kantonsgericht |
Abteilung: | Strafkammer und Anklagekammer |
Datum: | 11.08.2015 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Art. 3 EMRK (SR 0.101); Art. 7 BV, Art. 10 Abs. 3 BV, Art. 13 Abs. 1 BV (SR |
Schlagwörter : | Beschuldigte; Beschuldigten; Quot; Gefangene; Untersuchung; Gefängnis; Spaziergang; Gefangenen; Recht; Person; Untersuchungshaft; Genugtuung; Empfehlungen; Kleider; Über; Gefängnisse; Behandlung; Kanton; Hygiene; Bundes; Körper; Leibesvisitation; Arrestzelle |
Rechtsnorm: | Art. 10 BV ;Art. 13 BV ;Art. 235 StPO ;Art. 3 EMRK ;Art. 3 StPO ;Art. 431 StPO ;Art. 5 EMRK ;Art. 7 BV ;Art. 85 StGB ; |
Referenz BGE: | 102 Ia 279; 109 Ia 146; 113 Ib 155; 118 Ia 64; 122 I 49; 123 I 221; 140 I 125; |
Kommentar: | - |
Art. 431 StPO (SR 312); Art. 15 GefV, Art. 19 GefV, Art. 21 GefV, Art. 29 GefV, Art. 30 GefV, Art. 32 GefV, Art. 48bis GefV (sGS 962.14). Haftentschädigung wegen rechtswidriger sowie ungerechtfertigter Untersuchungshaft. Die Gefängnisinsassen sind angemessen mit Kleidung und Hygieneartikeln zu versorgen (E. III.5.b.aa). Ein Spaziergang von mindestens einer Stunde ist von Beginn der Haft an geboten. Art. 29 GefV bzw. die offenbar vorherrschende Praxis einiger kantonaler Gefängnisse ist nicht mit der EMRK und der BV vereinbar (E. III.5.b.bb und E. 6.b.aa). Bei der Leibesvisitation drängt sich der Beizug eines Arztes grundsätzlich nur bei Untersuchungen im Körperinnern auf (E. III.5.b.cc und E. III.6.b.cc). Die Unterbringung in der Arrestzelle mit reduziertem Sichtschutz wegen voller Belegung der übrigen Zellen ist verfassungsund konventionswidrig (E. III. 6.b.bb). (Kantonsgericht, Strafkammer, 11. August 2015, ST.2014.116/117).
Sachverhalt:
X. und Y. wird vorgeworfen, im Kellergeschoss ihres damals gemieteten Wohnhauses seit mindestens November 2008 bis zur Hausdurchsuchung vom 25. November 2011 eine Indooranlage zur Produktion von Hanf betrieben bzw. Betäubungsmittel angebaut zu haben. Daneben hätten sie mehrfach Haschisch und/oder Marihuana konsumiert. Das Kantonsgericht erklärt die Beschuldigten im Rückweisungsverfahren (vgl. BGer 6B_523/2014 bzw. 6B_524/2014) der mehrfachen Übertretung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel schuldig und verurteilt sie zu je einer Busse von Fr. 500.00. Beide Beschuldigten befanden sich während 15 Tagen in Untersuchungshaft.
Aus den Erwägungen: III.
Genugtuungsanspruch X.
Der Beschuldigte verlangt für die Überhaft eine angemessene Entschädigung. Er macht zudem eine grundrechtsverletzende Behandlung in der Untersuchungshaft geltend. Die Staatsanwaltschaft hat sich dazu nicht vernehmen lassen.
a/aa) Beim Anspruch auf Haftentschädigung ist zu unterscheiden zwischen rechtswidriger (d.h. ungesetzlicher) und ungerechtfertigter Haft. Rechtswidrig ist die Haft nur dann, wenn sie auf einer Verletzung von Rechtsnormen (z.B. Art. 5 EMRK) beruht. Als ungerechtfertigt wird die Haft bezeichnet, wenn sie rechtmässig angeordnet wurde, sich aber hinterher wegen Einstellung des Verfahrens Freispruchs bei Überhaft als strafprozessual unbegründet erweist (zum Ganzen Griesser, in: Donatsch/ Hansjakob/Lieber, StPO Komm., Art. 431 N 2 mit Hinweisen). Sogenannte Überhaft liegt vor, wenn die Untersuchungsund/oder Sicherheitshaft unter Einhaltung der formellen und materiellen Voraussetzungen rechtmässig angeordnet wurde, diese Haft den im Entscheid ausgesprochenen Freiheitsentzug aber nicht erreicht, sondern länger dauert als die tatsächlich ausgefällte Sanktion. Bei Überhaft nach Art. 431 Abs. 2 StPO ist also nicht die Haft per se, sondern nur die Haftlänge ungerechtfertigt. Sie wird erst im Nachhinein, d.h. nach Fällung des Urteils, übermässig (BGE 6B_385/2014 E. 3.2; BGer 6B_365/2011 E. 3.2).
bb) Die erstandene Untersuchungshaft ist an die Busse anzurechnen (BGE 6B_385/2014 E. 3.3; 135 IV 126 E. 1.3.9). Dabei kann von einem der Darstellung des Beschuldigten entsprechenden Umrechnungssatz von Fr. 180.00/Tag ausgegangen werden, der angemessen erscheint. Dem Beschuldigten sind folglich 2 7/9 Tage Untersuchungshaft anzurechnen. Es besteht damit eine Überhaft von 12 2/9 Tagen, die zu entschädigen ist.
cc) Das Bundesrecht setzt keinen bestimmten Mindestbetrag für die Genugtuung fest
(Art. 429
Abs. 1 lit. c bzw. Art. 431 StPO). Bei der Ausübung des Ermessens kommt den Besonderheiten des Einzelfalles entscheidendes Gewicht zu. Nach der Rechtsprechung ist zunächst die Grössenordnung der in Frage kommenden Genugtuung zu ermitteln, wobei Art und Schwere der Verletzung massgebend sind. In einem zweiten Schritt sind die Besonderheiten des Einzelfalles zu würdigen, die eine Verminderung Erhöhung der zuzusprechenden Summe nahelegen. Das Bundesgericht erachtet gemäss ständiger Praxis bei kürzeren Freiheitsentzügen
Fr. 200.00 pro Tag als angemessene Genugtuung, sofern nicht aussergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine höhere eine geringere Entschädigung rechtfertigen. Bei längerer Untersuchungshaft (von mehreren Monaten Dauer) ist der Tagessatz in der Regel zu senken, da die erste Haftzeit besonders erschwerend ins Gewicht fällt (BGE 113 Ib 155 E. 3b; BGer 6B_745/2009 E. 7.1; 6C_2/2008 E. 2.3; je mit Hinweisen; zuletzt BGer 6B_758/2013 E. 1.2.1). Zur Bestimmung der Höhe der Genugtuung sind die
Dauer und Umstände der Persönlichkeitsverletzung massgebend, ebenso die Schwere des vorgeworfenen Delikts und die Auswirkungen auf die persönliche Situation des Beschuldigten, wie etwa die psychische Belastung allfällige Probleme im Familienund Beziehungsleben durch die erfolgte Strafuntersuchung (BSK StPO IIWehrenberg/Bernhard, Art. 429 N 27 f.; Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Aufl., Bern 2012, Rz. 1754).
dd) Der Beschuldigte äusserte in der Haft zwar Suizidabsichten, wurde allerdings nach ärztlicher Intervention als hafterstehungsfähig betrachtet. Anhaltspunkte für eine Suizidgefahr vermochte Amtsarzt Dr. med. A. am 3. Dezember 2011 nicht auszumachen. Zu Gunsten des Beschuldigten ist dennoch von einer leicht überdurchschnittlichen Beeinträchtigung seiner psychischen Befindlichkeit durch die Haft auszugehen. Er musste aufgrund seines Zustands diverse Medikamente einnehmen und wurde von seinem Arbeitgeber ermahnt. Zudem wurde in den Lokalmedien über ihn berichtet. Angesichts der verhältnismässig eher kurzen Haftdauer sowie des psychischen Zustands erscheint es deshalb angezeigt, den Genugtuungstagessatz von Fr. 200.00 leicht, d.h. um Fr. 50.00, zu erhöhen. Auf die Befragung der behandelnden Ärzte bzw. die Einholung der Arztberichte kann unter diesen Umständen verzichtet werden, zumal die verschriebenen Medikamente bzw. deren Dosierung aus den Vollzugsakten hervorgehen.
b) Auf Konventionsstufe sieht Art. 3 EMRK vor, dass niemand der Folter unmenschlicher erniedrigender Strafe Behandlung unterworfen werden darf. Art. 7 BV schreibt vor, dass die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist. Folter und jede andere Art grausamer, unmenschlicher erniedrigender Behandlung Bestrafung sind verboten (Art. 10 Abs. 3 BV). Jede Person hat ausserdem Anspruch auf Achtung ihres Privatlebens (Art. 13 Abs. 1 BV; vgl. auch Art. 2 Abs. 1
lit. a, d und g KV SG [sGS 111.1]). Die Schweiz hat sodann am 7. Oktober 1988 das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher erniedrigender Behandlung Strafe (SR 0.106) ratifiziert. Gemäss dessen Art. 1 wird ein Europäischer Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher erniedrigender Behandlung Strafe (nachfolgend "Ausschuss gegen Folter") errichtet, der durch Besuche die Behandlung von Personen prüft, denen die Freiheit entzogen ist, um erforderlichenfalls den Schutz dieser Personen vor Folter und unmenschlicher erniedrigender Behandlung Strafe zu verstärken (zum Ganzen BGE 140 I 125 E. 3.1; bestätigt in BGer 6B_14/2014 E. 6.3.1). Das Ministerkomitee des Europarats hat in Anwendung von Art. 15 (b) der Satzung des Europarates (SR 0.192.030) am 11. Januar 2006 die Empfehlungen Rec(2006)2 zu den europäischen Strafvollzugsgrundsätzen verabschiedet (nachfolgend "Empfehlungen"). Diese Empfehlungen berücksichtigen insbesondere die Arbeit des Ausschusses gegen Folter, wie auch die Regeln, welche dieser in seinen Berichten entwickelt hat. Bezweckt werden soll, dass die Bedingungen des Vollzugs die Menschenwürde nicht beeinträchtigen (BGE 140 I 125 E. 3.2). Die Empfehlungen sind bei der Auslegung der massgebenden Grundsätze zu berücksichtigen (BGer 1B_170/2014 E. 2.2; 1C_229/2008 E. 2.3 mit Hinweisen).
Auf Gesetzesstufe sieht Art. 3 Abs. 1 StPO vor, dass die Strafbehörden in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen achten. Schliesslich darf die inhaftierte Person in ihrer persönlichen Freiheit nicht stärker eingeschränkt werden, als es der Haftzweck sowie die Ordnung und Sicherheit in der Haftanstalt erfordern (Art. 235 Abs. 1 StPO), wobei die Kantone die Rechte und Pflichten der inhaftierten Personen, ihre Beschwerdemöglichkeiten, die Disziplinarmassnahmen sowie die Aufsicht über die Haftanstalten regeln (Art. 235
Abs. 5 StPO). Im Kanton St. Gallen sind diese Rechte und Pflichten in der Verordnung
über die Gefängnisse und Vollzugsanstalten vom 13. Juni 2000 (sGS 962.14;
nachfolgend "GefV") festgehalten.
aa/aaa) Der Beschuldigte brachte erstmals im vorinstanzlichen Verfahren und später auch im Berufungsverfahren vor, dass er in der Untersuchungshaft nicht über genügend Kleider, Wäsche und Hygieneartikel verfügt habe. Er habe insbesondere während 13 Tagen die gleiche Unterhose tragen müssen. Im Rückweisungsverfahren fügte er dem im Wesentlichen an, dass er während des Waschens seiner Unterhose nackt in seiner Zelle habe verweilen müssen, was eine schwere Verletzung der Persönlichkeit darstelle.
bbb) Gemäss Art. 21 Abs. 1 GefV trägt der Gefangene seine eigenen Kleider. Er kann einmal wöchentlich beim Gefangenenbetreuer auf eigene Kosten in beschränktem Umfang Toilettenartikel beziehen (Art. 32 Abs. 1 GefV). Über die abgenommenen Gegenstände wird ein Verzeichnis aufgenommen, wobei Bestandesänderungen laufend nachzutragen sind (Art. 17 Abs. 1 GefV). Gemäss Ziff. 19.6 der Empfehlungen haben
die Vollzugsbehörden den Gefangenen Toilettenartikel und allgemeine Reinigungsgeräte und Reinigungsmittel zur Verfügung zu stellen. Gefangene, die nicht über angemessene eigene Kleidung verfügen, sind mit Kleidung auszustatten, die dem Klima angepasst sind (Ziff. 20.1). Der Entzug von Kleidung kann bei einem Häftling Gefühle der Angst und Minderwertigkeit auslösen und ist daher geeignet, ihn zu erniedrigen (EGMR Nr. 20999/05, Urteil vom 7. Juli 2011 in Sachen Hellig v. Deutschland).
ccc) Die Kantonspolizei, welcher die Gefängnisse Uznach und Flums sowie das kantonale Untersuchungsgefängnis unterstehen (Art. 5 Abs. 1 GefV), hält in ihrem Bericht vom 27. März 2015 fest, dass sich nicht mehr nachvollziehen lasse, ob der Beschuldigte über eine eigene Zahnbürste und Zahnpaste verfügt solche verlangt habe. In allen Gefängnissen würden zumindest auf Verlangen Hygieneartikel abgegeben. Ebenfalls nicht nachvollzogen werden könne, über welche Kleider der Beschuldigte in Flums verfügt habe. Die Gefängnisse würden aber über Ersatzund Notwäsche verfügen, welche dem Beschuldigten, hätte er sich bemerkbar gemacht, zur Verfügung gestellt worden wäre.
Die Ausführungen der Kantonspolizei sind vage und stehen den glaubhaften Schilderungen des Beschuldigten gegenüber (vgl. zur Glaubhaftmachung BGer 1B_87/2014 E. 5.2). Für dessen Vorbringen spricht zunächst, dass das Effektenverzeichnis des Beschuldigten keine entsprechenden - und sei es auch nur summarischen - Vermerke enthält. Bei der Beschuldigten wird etwa ausdrücklich aufgeführt: "Plastiksack mit Kleidern" "1 Zahnpaste + Z.bürste". Wie vom Beschuldigten vorgetragen, befand sich seine Kleidertasche bei der Beschuldigten, was aus deren Effektenverzeichnis hervorgeht ("Tasche braun 'Prada' mit Kleidern X."). Es muss aufgrund der Bestandesänderungen davon ausgegangen werden, dass diese
wie die Beschuldigten ausführen während der gesamten Haftzeit bzw. zumindest bis kurz vor der Entlassung bei der Beschuldigten deponiert war, zumal sich auch auf dem Kostenblatt des Beschuldigten keine entsprechenden Einträge finden. Dass der Beschuldigte wie er bildhaft darlegt - Kleidung und Hygieneartikel verlangt haben dürfte, liegt angesichts der vorliegenden Umstände auf der Hand. Zweifelhaft ist zudem, ob er bezüglich seiner Rechte hinreichend aufgeklärt wurde. Dem "Merkblatt für Inhaftierte" ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass Hygieneartikel sowie Ersatzwäsche bei Bedarf verlangt werden können.
Nach dem Gesagten ist davon auszugehen, dass der Beschuldigte nicht angemessen mit Kleidung und Hygieneartikeln versorgt wurde, was im klaren Gegensatz zu den erwähnten Mindeststandards steht. Bezeichnend dafür ist, dass die Staatsanwaltschaft aus der geführten Korrespondenz mit dem früheren Rechtsvertreter des Beschuldigten nur von den "wichtigen Aktenstücken" Kopien angefertigt haben will. Es ist aufgrund der dargelegten Umstände offensichtlich, dass sich dieser (und allenfalls auch Dritte) beim zuständigen Staatsanwalt für die Beschaffung der Kleider eingesetzt haben dürfte. Es erübrigt sich damit, den vormaligen Rechtsvertreter des Beschuldigten sowie weitere (nicht ausdrücklich genannte) Drittpersonen zu ihren Bemühungen bei der Kleiderbeschaffung zu befragen. Das gilt auch in Bezug auf die Einvernahme des damaligen Mithäftlings albanischer Nationalität, nachdem aufgrund der vorstehenden Erwägungen feststeht, dass der Beschuldigte nicht adäquat ausgerüstet war.
bb/aaa) Der Beschuldigte rügt sodann, dass ihm in der Untersuchungshaft der gesetzlich vorgeschriebene Hofgang von einer Stunde nicht gewährt worden sei. Er habe sich maximal eine halbe Stunde lang pro Tag im Hof des Gefängnisses bewegen
können. An Sonntagen sei gar kein Hofgang gewährt worden. Der Beschuldigte präzisierte im Rückweisungsverfahren, dass ihm im Gefängnis St. Gallen der Hofgang gewährt worden sei, nicht aber in Flums am Sonntag, 4. Dezember 2011.
bbb) Nach Art. 29 Abs. 1 GefV kann der Gefangene täglich wenigstens eine halbe Stunde, nach einem Monat wenigstens eine Stunde unter Aufsicht spazieren. Gemäss Ziff. 27.1 der Empfehlungen soll allen Gefangenen ermöglicht werden, sich mindestens eine Stunde im Freien zu bewegen, wenn es die Witterung zulässt. Das Bundesgericht hielt in diesem Zusammenhang bereits 1976 in BGE 102 Ia 279 fest, dass es Ziel der kantonalen Behörden und des Bundes sein müsse, künftig den Gefangenen einen einstündigen Aufenthalt im Freien zu gewähren (a.a.O. E. 7c). In BGE 118 Ia 64 führte das Bundesgericht im Jahre 1992 aus, dass ein täglicher Spaziergang von wenigstens einer halben Stunde mit Rücksicht auf die geistige und körperliche Gesundheit des Gefangenen das absolute Minimum darstelle. Dort, wo die tatsächlichen Verhältnisse dies zulassen würden, müsse ein täglicher Spaziergang von einer Stunde Dauer gewährleistet werden. Die baulichen, organisatorischen und personellen Voraussetzungen dafür seien zu schaffen (a.a.O. E. 3k). Im Bereich des Ausländerrechts entschied das Bundesgericht schliesslich mehrfach, dass dem Häftling täglich ein einstündiger Spaziergang im Freien gewährt werden müsse (BGE 122 I 49 E. 5a; 122 I 222 E. 4). Es übernahm diese Rechtsprechung vor einigen Jahren auch in Bezug auf Strafgefangene (BGer 6B_55/2008 E. 2).
ccc) Die Kantonspolizei führt im erwähnten Bericht aus, dass dem Beschuldigten der Spaziergang "grundsätzlich im Rahmen einer Stunde" ermöglicht worden sei. Die Ausnahme habe am Sonntag im Gefängnis Flums bestanden, wobei aus betrieblichen und Sicherheitsgründen der Spaziergang nicht habe gewährleistet werden können. Als Kompromiss werde in der Regel dafür unter der Woche ein längerer Spaziergang ermöglicht. Im Bericht vom 18. Mai 2015 wurde ausgeführt, dass den Häftlingen ein Merkblatt ausgeteilt worden sei. Weitergehende Informationen, etwa zu einem möglichen Versetzungsgesuch, seien nicht vermittelt worden.
Die Rüge des Beschuldigten, wonach das Recht auf tägliche Bewegung im Freien verletzt wurde, ist infolge des nicht gewährten Spaziergangs am 4. Dezember 2011 begründet. Er wurde auch nicht hinreichend über die Möglichkeit eines
Versetzungsgesuchs orientiert. Dem ausgehändigten "Merkblatt für Inhaftierte/ Festgenommene" ist darüber jedenfalls nichts zu entnehmen. Es ist insofern auch nachvollziehbar, dass die Verweigerung des sonntäglichen Spaziergangs zu einer ärztlichen Intervention geführt hat. Auf die Einholung des medizinischen Berichts bzw. die Befragung der Ärzte sowie Mithäftlinge kann deshalb verzichtet werden.
Die Unterlassung ist ferner auch nicht entschuldbar. Die Behörden hatten seit der ergangenen Rechtsprechung ausreichend Zeit, die baulichen, organisatorischen und personellen Voraussetzungen zu schaffen. Ein Spaziergang von mindestens einer Stunde von Beginn der Haft an ist heute geboten (BSK StPO II-Härri, Art. 235 N 28). Soweit zusätzliches Bewachungspersonal erforderlich ist, muss es künftig rekrutiert werden. Art. 29 GefV bzw. die offenbar vorherrschende Praxis einiger kantonaler Gefängnisse ist damit nicht mit EMRK und BV vereinbar. Anzufügen bleibt immerhin, dass seit dem 1. Juli 2015 der tägliche Spaziergang zumindest in den Gefängnissen, die der Kantonspolizei unterstehen, auch an Sonnund Feiertagen gewährleistet sein soll, was allerdings an den vorliegend zu beurteilenden Verhältnissen nichts zu ändern vermag.
cc/aaa) Der Beschuldigte macht geltend, dass seine Körperöffnungen durch einen Gefangenenbetreuer kontrolliert worden seien. Diese anale Kontrolle sei rechtswidrig.
bbb) Der Gefangene hat bei seinem Eintritt alle mitgeführten Gegenstände vorzulegen.
Er wird von einer Person gleichen Geschlechts einer Leibesvisitation unterzogen (Art. 15 Abs. 1 GefV). Besteht der Verdacht, dass der Gefangene Gegenstände einschmuggeln will, können seine Leibesöffnungen kontrolliert werden. Die Kontrolle wird vom Gefängnisarzt durchgeführt (Art. 15 Abs. 2 GefV). Gemäss Ziff. 54.3 der Empfehlungen dürfen die durchsuchten Personen durch die Durchsuchung nicht erniedrigt werden. Die Durchsuchung darf nur von Bediensteten desselben
Geschlechts vorgenommen werden, wobei diese Körperhöhlen von Gefangenen nicht untersuchen dürfen (Ziff. 54.4 f. der Empfehlungen). Die intime Untersuchung im Zusammenhang mit einer Durchsuchung darf nur von einem Arzt vorgenommen werden (Ziff. 54.7 der Empfehlungen). Das Bundesgericht hat hierzu festgestellt, dass Leibesvisitationen von einer Person gleichen Geschlechts, sog. "intime", über eine blosse Kleiderkontrolle hinausgehende Leibesvisitationen von einer Person mit
medizinischer Ausbildung bzw. von "medizinisch geschultem Fachpersonal" vorgenommen werden müssten. Eigentliche medizinische Untersuchungen seien Ärztinnen und Ärzten vorbehalten (BGE 123 I 221 E. II.2b; vgl. auch BGE 109 Ia 146
E. 8b). Der Gesetzgeber hat diese Rechtsprechung in Art. 85 Abs. 2 StGB kodifiziert und präzisiert (vgl. Baechtold, Strafvollzug, 2. Aufl., Bern 2009, S. 187). Danach kann beim Gefangenen, der im Verdacht steht, auf sich in seinem Körper unerlaubte Gegenstände zu verbergen, eine Leibesvisitation durchgeführt werden. Diese ist von einer Person gleichen Geschlechts vorzunehmen. Ist sie mit einer Entkleidung verbunden, so ist sie in Abwesenheit der anderen Gefangenen durchzuführen. Untersuchungen im Körperinnern sind von einem Arzt von anderem medizinischem Personal vorzunehmen.
ccc) Der Beschuldigte bestreitet nicht, dass ein entsprechender Verdacht zur Durchsuchung bestand. Zur eigentlichen Leibesvisitation führt die Kantonspolizei in ihrem Bericht vom 18. Mai 2015 aus, dass sich nicht mehr nachvollziehen lasse, wer die Visitation vorgenommen habe. Die zu inhaftierende Person müsse sich jedoch in
der Regel entkleiden und es würden der Mund, die Achselhöhlen, die Fusssohlen sowie durch Spreizen der Beine und Bücken der Genitalbereich besehen. Ein Hineingreifen in Körperöffnungen geschehe nicht. Sei dies notwendig, so erfolge es durch einen Arzt. Der Beschuldigte bestätigte in seiner Stellungnahme vom 28. Mai 2015, dass er dergestalt untersucht worden sei. Zusätzlich seien seine Gesässbacken gespreizt worden. In die Körperöffnungen sei jedoch nicht gefasst worden. Darin kann kein Verstoss gegen die vorstehenden Vollzugsgrundsätze erblickt werden. Der Beschuldigte wurde wegen Betäubungsmitteldelikten festgenommen, weshalb eine eingehende Leibesvisitation angezeigt war. Sodann ist davon auszugehen, dass die Untersuchung durch einen männlichen Gefangenenbetreuer vorgenommen wurde, zumal der Beschuldigte auch nichts anderes behauptete. Dass der Gefangenenbetreuer dabei neben Mund und Achselhöhlen auch oberflächlich den Genitalbereich besah, ist nicht zu beanstanden. Es wurde im Genitalbereich nichts untersucht, was nicht ohne Weiteres einsehbar war. Der Beizug eines Arztes war folglich nicht notwendig. Die Rügen des Beschuldigten erweisen sich in diesem Punkt als unbegründet. Es erübrigt sich, den Gefangenenbetreuer zur Untersuchung zu befragen.
dd) Nicht gefolgt werden kann dem Beschuldigten sodann, wenn er beanstandet, dass er sowohl im Gefängnis Flums als auch in St. Gallen lediglich einmal habe duschen können. Gemäss Art. 30 GefV soll der Gefangene wöchentlich wenigstens einmal duschen können. Zwar sieht Ziff. 19.4 der Empfehlungen im Interesse der allgemeinen Hygiene ein mindestens zweimaliges wöchentliches Duschen bzw. Baden vor. Der vorliegend geltend gemachte Zustand verletzt die konventionsund verfassungsrechtlich geschützte Menschenwürde allerdings nicht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Beschuldigte in seiner Zelle über ein Waschbecken mit fliessend Kaltund Warmwasser verfügte, womit jederzeit die Möglichkeit bestand, sich zu waschen. Eine ausreichende Hygiene war damit gewährleistet, zumal die Haft auch nicht sehr lange dauerte.
ee) Schliesslich bringt der Beschuldigte vor, er sei am 9. Dezember 2011 erst um 15:00 Uhr und damit zu spät aus der Haft entlassen worden. Das Gegenteil trifft zu. Gemäss Art. 19 Abs. 1 GefV wird der Gefangene nach Anordnung der einweisenden Stelle entlassen. Ohne besondere Anordnung erfolgt die Entlassung am Vormittag des
Entlassungstags. Gemäss Haftentlassungsverfügung vom 9. Dezember 2011 wurde die Entlassung auf Freitag, 9. Dezember 2011, "um 17h" angeordnet. Der Beschuldigte wurde damit zu früh in die Freiheit entlassen. Seine Rüge erweist sich als unbegründet.
c) Zusammenfassend ergibt sich ein Zweifaches: Einerseits wurde dem Beschuldigten an einem Sonntag der Spaziergang nicht gewährt. Diese Unterlassung wiegt zwar eher leicht, führt aber dennoch zu einer leichten Erhöhung des Tagessatzes. Andererseits - und dies wiegt weitaus schwerer erhielt der Beschuldigte während mehreren Tagen keine Hygieneartikel sowie frischen Kleider und war damit zuweilen gar gezwungen, sich nackt in der Zelle aufzuhalten. Dies stellt eine erniedrigende bzw. menschenunwürdige Behandlung dar. Es ist deshalb gerechtfertigt, den Tagessatz auf Fr. 300.00 festzusetzen, was gesamthaft eine angemessen erscheinende Genugtuung von Fr. 3'666.65 (12 2/9 Tage zu je Fr. 300.00) ergibt. Hinzuzurechnen ist antragsgemäss ein Zins von 5 % seit dem 3. Dezember 2011 (mittleres Verfallsdatum; vgl. Schmid, Handbuch StPO, 2. Aufl., N 1816 mit Hinweis). In diesem Umfang hat der Staat den Beschuldigten zu entschädigen. Im Mehrbetrag ist die Genugtuungsforderung abzuweisen.
Genugtuungsanspruch Y.
Die Beschuldigte verlangt für die Überhaft eine angemessene Entschädigung. Sie macht zudem ebenfalls eine grundrechtsverletzende Behandlung in der Untersuchungshaft geltend. Die Staatsanwaltschaft sah sich auch in diesem Zusammenhang nicht veranlasst, Stellung zu nehmen.
a/aa) Die erstandene Untersuchungshaft ist wie oben erwähnt ebenfalls (tageweise) an die Busse anzurechnen. Angesichts der finanziellen Verhältnisse erscheint ein Umrechnungssatz von Fr. 100.00/Tag immer noch als angemessen, was von der Beschuldigten auch nicht beanstandet wird. Der Beschuldigten sind folglich 5 Tage anzurechnen. Damit besteht eine Überhaft von 10 Tagen, die zu entschädigen ist.
bb) Als aussergewöhnliche Umstände, die eine höhere Entschädigung zu rechtfertigen vermögen, sind bei der Beschuldigten die Berichterstattung in den Medien sowie die interne Versetzung der Beschuldigten durch ihre Arbeitgeberin zu nennen. Sie rechtfertigen eine leichte Erhöhung des Tagessatzes. Aufgrund der eher kurzen Haftdauer erscheint deshalb ein Ansatz von durchschnittlich Fr. 220.00 pro Hafttag als angemessen.
Hinsichtlich der allgemeinen rechtlichen Ausführungen zu den Haftbedingungen kann abgesehen von nachfolgenden Ergänzungen auf das bisher bereits Dargelegte verwiesen werden (vgl. E. III.5 oben).
aa) Die Beschuldigte brachte im Berufungsverfahren vor, ihr sei maximal eine halbe Stunde Hofgang gewährt worden. Sie präzisierte im Rückweisungsverfahren, dass ihr am Sonntag 27. November 2011 kein Hofgang gewährt worden sei. Dem Polizeibericht vom 24. März 2015 ist dazu zu entnehmen, dass der Beschuldigten grundsätzlich ein Spaziergang im Rahmen einer Stunde ermöglicht worden sei; im Gefängnis Uznach sei am Sonntag, 27. November 2011, der Spaziergang aus betrieblichen und Sicherheitsgründen nicht möglich gewesen. Es gilt daher, was bereits beim Beschuldigten erwähnt wurde (vgl. E. III.5.b.bb oben). Die Rüge der Beschuldigten, wonach das Recht auf tägliche Bewegung im Freien verletzt wurde, ist infolge des nicht gewährten Spaziergangs am 27. November 2011 begründet.
bb/aaa) Die Beschuldigte bringt weiter sinngemäss vor, dass sie die ersten Tage ihrer Untersuchungshaft in Uznach in der Sicherheitszelle habe verbringen müssen, da das Gefängnis überbelegt gewesen sei. Die Sicherheitszelle in Uznach sei mit einem Fenster direkt zum Hof versehen, wodurch die Mithäftlinge während ihres Hofganges jederzeit Einblick gehabt hätten. Auch die Toilette sei nicht sichtgeschützt gewesen.
bbb) Die Unterbringung in der Arrestzelle ist nach der kantonalen Verordnung nur bei schweren wiederholten Disziplinarfehlern vorgesehen (Art. 48bis Abs. 1 GefV). Ziff. 19.3 der Empfehlungen sieht vor, dass Gefangene jederzeit Zugang zu sanitären Einrichtungen haben müssen, die hygienisch sind und die Intimsphäre schützen.
ccc) Im erwähnten Polizeibericht wird ausgeführt, dass das Gefängnis Uznach während der Inhaftierung der Beschuldigten voll belegt gewesen sei. Aus diesem Grund sei die Beschuldigte drei Tage lang in der Arrestzelle des Gefängnisses untergebracht worden. Die Arrestzelle verfüge nicht im eigentlichen Sinn über eine reduzierte Ausrüstung. Sie sei vielmehr vandalensicher ausgerüstet und erwecke damit einen eher spartanischen Eindruck. Sie verfüge über eine Stehtoilette sowie ein zum Innenhof gerichtetes Fenster. Ein Sichtschutz zwecks Wahrung der Intimsphäre bestehe nicht und müsse improvisiert werden. Es ist folglich erstellt, dass die Beschuldigte ohne sachlichen Grund drei Tage in der Arrestzelle verbringen musste. Besonders schwer wiegt dabei, dass sie sich als weibliche Insassin in einer Zelle befand, welche ihre Intimsphäre nicht ausreichend schützte. Gerade in der streng fremdbestimmten Welt des Strafvollzugs muss es gewährleistet sein, dass die Gefangenen in ihrem intimen Lebensbereich ungestört ihren Bedürfnissen nachgehen können. Die Unterbringung in der Arrestzelle verstösst damit gegen die genannten Vollzugsgrundsätze.
cc) Die Beschuldigte macht weiter geltend, dass ihre Körperöffnungen durch eine Gefangenenbetreuerin kontrolliert worden seien. Eine vaginale Kontrolle habe jedoch nicht stattgefunden. Diese anale Kontrolle sei rechtswidrig. Hierzu kann ebenfalls auf das bereits Dargelegte verwiesen werden (vgl. E. III.5.b.cc oben). Angesichts der vorgenommenen Untersuchungen drängte sich der Beizug eines Arztes nicht auf.
dd) Schliesslich rügt die Beschuldigte, dass sie nicht wie protokolliert um 14:00 Uhr, sondern erst am frühen Abend und damit zu spät aus der Haft entlassen worden sei.
Ihre Rüge ist unbegründet. Gemäss Haftentlassungsverfügung vom 9. Dezember 2011 wurde die Entlassung per 9. Dezember 2011, um "17h" angeordnet. Die Beschuldigte wurde anschliessend um 17:00 Uhr und damit rechtzeitig aus der Haft entlassen.
Zusammenfassend ergibt sich Folgendes: Der Beschuldigten wurde an einem Sonntag der Spaziergang nicht gewährt. Diese Unterlassung wiegt zwar eher leicht, führt aber dennoch zu einer leichten Erhöhung des Tagessatzes. Weitaus schwerer wiegt hingegen die dreitägige Unterbringung in der Arrestzelle ohne genügenden Sichtschutz bzw. Abtrennung der Toilette. Dadurch wurde in die Intimsphäre der Beschuldigten eingegriffen, was eine erhebliche Persönlichkeitsverletzung darstellt. Dies führt zu einer weiteren Erhöhung des Tagessatzes. Nach dem Dargelegten hat die Beschuldigte einen Genugtuungsanspruch von insgesamt Fr. 3'000.00 (10 Tage zu je Fr. 300.00). Hinzuzurechnen ist antragsgemäss ein Zins von 5 % seit dem 3. Dezember 2011 (mittleres Verfallsdatum). In diesem Umfang hat der Staat die Beschuldigte zu entschädigen. Im Mehrbetrag ist die Genugtuungsforderung abzuweisen.
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