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Urteil Versicherungsgericht (SG - KV 2016/4)

Zusammenfassung des Urteils KV 2016/4: Versicherungsgericht

Der Fall dreht sich um die Restfinanzierung von Pflegeleistungen für einen minderjährigen Versicherten, der an verschiedenen Gesundheitsproblemen leidet. Die politische Gemeinde B. übernahm die Kosten, jedoch entstand ein Streit über die Berücksichtigung einer Hilflosenentschädigung und eines Intensivpflegezuschlags der Invalidenversicherung bei der Berechnung. Nach einer detaillierten Analyse der Gesetze und der Natur der Leistungen entschied das Gericht, dass diese nicht berücksichtigt werden dürfen. Der Einspracheentscheid wurde aufgehoben, die politische Gemeinde angewiesen, die Restfinanzierung neu zu berechnen. Es wurden keine Gerichtskosten erhoben, und dem Beschwerdeführer wurde eine Parteientschädigung von 3'000 Franken zugesprochen.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts KV 2016/4

Kanton:SG
Fallnummer:KV 2016/4
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:KV - Krankenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid KV 2016/4 vom 07.06.2017 (SG)
Datum:07.06.2017
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 25a Abs. 5 KVG. Art. 16 PFG. Art. 69 Abs. 1 Satz 2 ATSG.Restfinanzierung von Kosten der ambulanten medizinischen Pflege. Berücksichtigung des Kongruenzgrundsatzes. Keine Anrechnung von Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom7. Juni 2017, KV 2016/4).
Schlagwörter: Restfinanzierung; Pflege; Hilflosenentschädigung; Leistungen; Intensivpflegezuschlag; Sozialversicherung; Gemeinde; Berechnung; Kinder; Invalidenversicherung; Sozialversicherungsleistung; Einsprache; Gemeinderat; Anrechnung; Recht; Sozialversicherungsleistungen; Pflegeleistungen; Krankenpflegeversicherung; Kinderspitex; Eltern; Sozialversicherungen; Intensivpflegezuschlages; Einspracheentscheid
Rechtsnorm: Art. 102 AHVG ;Art. 25a KVG ;Art. 38 ATSG ;Art. 39 ATSG ;Art. 56 ATSG ;Art. 58 ATSG ;Art. 59 ATSG ;Art. 60 ATSG ;Art. 63 ATSG ;Art. 64 KVG ;Art. 65 KVG ;Art. 69 ATSG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts KV 2016/4

Entscheid vom 7. Juni 2017

Besetzung

Präsident Joachim Huber, Versicherungsrichter Ralph Jöhl, Versicherungsrichterin

Miriam Lendfers; Gerichtsschreiber Tobias Bolt Geschäftsnr.

KV 2016/4

Parteien

  1. ,

    Beschwerdeführer,

    vertreten durch Advokatin lic. iur. Andrea Mengis, c/o Procap Schweiz, Frohburgstrasse 4, Postfach, 4601 Olten,

    gegen

    Politische Gemeinde B. , Beschwerdegegnerin,

    handelnd durch Gemeinderat B. ,

    Gegenstand

    Restfinanzierung Pflegeleistungen Kinderspitex Sachverhalt

    A.

    1. A. (Jahrgang 2013; nachfolgend: der Versicherte) litt gemäss einem Bericht des Luzerner Kinderspitals vom 28. November 2013 (IV-act. 11) unmittelbar nach seiner vorzeitigen Geburt in der 31. Schwangerschaftswoche an einer mittelschweren pulmonalarteriellen Hypertonie bei multiplen Links-Rechts-Verbindungen, an einem primären Atemnotsyndrom im Rahmen einer hyalinen Membrankrankheit, an einer intrauterinen Wachstumsretardierung, an einer Hyponatriämie, an einer Hypokaliämie, an einer indirekten Hyperbilirubinämie und an einem Apnoe-Bradykardie-Syndrom. Zudem bestand der Verdacht auf einen neonatalen Infekt. Der Versicherte wurde nach einer rund zweimonatigen Behandlung im Luzerner Kinderspital direkt an das Kinderspital der Universitätsklinik Zürich überwiesen. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen stellte mit mehreren Mitteilungen vom 31. März 2014 und vom 6. August 2015 fest (IV-act. 20, 21, 22, 23, 24, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53), dass der Versicherte an den

      Geburtsgebrechen Ziff. 495, 313, 247, 395, 494, 251, 280, 303, 387, 462, 463, 390

      Anh. GgV litt. Das Kinderspital der Universitätsklinik Zürich hatte bereits am 8. Juni 2015 berichtet (IV-act. 36), der Versicherte befinde sich seit der Geburt und bis auf weiteres in einer Langzeithospitalisation. Er leide an einer chronischen multifaktoriellen Lungenerkrankung mit einer kompletten Beatmungsabhängigkeit, an einer pulmonalen Hypertonie, an einem kongenitalen Herzfehler, an einem schweren gastro- oesophagealen Reflux, an einem hypertrophen Pylorus, an einer Ess- und Trinkstörung, an einer endokrinologischen Störung, an einer deutlichen Reduktion der weissen Hirnsubstanz, an einer Schädelkalotte, an Röhrenknochen mit metaphysärer

      Auftreibung, an einer schweren Gedeihstörung, an epileptischen Anfällen, an einer Myopie, an Leistenhernien, an einer schwergradigen globalen Entwicklungsverzögerung sowie an den Folgen multipler interkurrenter und persistierender Komplikationen und Erkrankungen.

    2. Am 11. September 2015 verordnete die zuständige Ärztin für die Zeit ab dem damals geplanten Austritt aus dem Kinderspital der Universitätsklinik Zürich am 1. November 2015 eine Pflege durch die Kinderspitex im Umfang von 72 Stunden pro Woche (IV-act. 65). In einem Begleitschreiben zu dieser ärztlichen Verordnung erklärte sie, weshalb der Versicherte eine derart umfangreiche medizinische Pflege benötigen werde (IV-act. 68). Am 14. Oktober 2015 erteilte die IV-Stelle eine Kostengutsprache für eine Kinderspitex im Umfang von (einmalig) maximal acht Stunden für die aufwendige Abklärung und Dokumentation, von maximal 45 Stunden in den ersten drei Monaten für die Beratung und die Instruktion der Eltern, von maximal zehn Stunden pro Monat für die koordinativen Massnahmen und von maximal zwölf Stunden pro Tag für die Untersuchung und die Behandlung (IV-act. 86).

    3. Bereits am 8. September 2015 hatte der Gemeinderat der Wohngemeinde des Versicherten dessen Eltern mitgeteilt, dass er zurzeit Abklärungen betreffend die Restfinanzierung der Pflegeleistungen vornehme (act. G 5.1). Am 30. September 2015 hatte ein Mitarbeiter des Rechtsdienstes des kantonalen Gesundheitsdepartementes ausgeführt (act. G 5.5), gemäss dem Art. 16 des Gesetzes über die Pflegefinanzierung (PFG; sGS 331.2) trage die zuständige politische Gemeinde die Kosten für die Pflegeleistungen, soweit diese nicht von Sozialversicherungen gedeckt würden. Bei minderjährigen Versicherten bestehe keine Kostenbeteiligungspflicht (Art. 15 Abs. 2 PFG). Die Restfinanzierungspflicht bestehe unabhängig davon, welcher Sozialversicherungszweig die Leistungen grundsätzlich finanziere. Der Art. 16 PFG könne analog auf Fälle angewendet werden, in denen die Leistungen der Invalidenversicherung die Kosten nicht vollständig deckten. Der Leiter der Gemeindeaufsicht des kantonalen Departementes des Innern hatte am 1. Oktober 2015 festgehalten (act. G 5.6), es handle sich um einen „ausserordentlichen Spezialfall“, der auch ausserordentlich behandelt werden müsse. Die zu erwartenden Kosten von gegen 200’000 Franken pro Jahr könnten über den individuellen Sonderlastenausgleich abgerechnet werden. In einer Sitzung vom 21. Oktober 2015 beschloss der

      Gemeinderat (act. G 5.7), die Restfinanzierung der Pflegeleistungskosten zu übernehmen. Er hielt fest, die Beiträge der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, die von der zuständigen Kinderspitexstelle für den Versicherten aufgewendeten Spendengelder von 25 Franken pro Pflegestunde, die Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung (zu deren Bezug der Versicherte erst angemeldet worden sei) und der Intensivpflegezuschlag der Invalidenversicherung gingen seiner Leistungspflicht gemäss dem Art. 16 PFG vor. Da angesichts der hohen fachlichen Anforderungen zunächst ein ausserkantonaler Kinderspitexdienst die Pflegeleistungen erbringen müsse und da aber davon ausgegangen werden könne, dass ein kantonaler Kinderspitexdienst die Pflege nach und nach übernehmen werde, sei diese grundsätzliche Kostengutsprache einstweilen auf sechs Monate beschränkt. Nötigenfalls werde die Kostengutsprache auf ein entsprechendes Gesuch hin verlängert.

    4. Am 4. November 2015 erhoben die Eltern des Versicherten – der Rechtsmittelbelehrung des Beschlusses vom 21. Oktober 2015 folgend – einen Rekurs beim kantonalen Departement des Innern (act. G 5.8). Sie beantragten eine Restfinanzierung der Pflegekosten ohne die Berücksichtigung einer allfälligen Hilflosenentschädigung und eines allfälligen Intensivpflegezuschlages. Zur Begründung führten sie aus, die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegezuschlag deckten die Hilfe bei den alltäglichen Lebensverrichtungen und bei der Pflege sozialer Kontakte ab und stünden deshalb den Eltern zu. Diese Leistungen dürften bei der Berechnung der Restfinanzierung nicht berücksichtigt werden, denn sie stünden nicht im Zusammenhang mit der medizinischen Pflege und Betreuung, die durch die Restfinanzierung abgedeckt werden sollte. Die Mutter des Versicherten habe sogar von der Aufnahme einer Teilzeiterwerbstätigkeit absehen müssen, um die nicht- medizinische Pflege und Betreuung gewährleisten zu können. Am 5. November 2015 wandte sich der Geschäftsführer des Ostschweizer Kinderspitex Vereins an den Gemeinderat (act. G 5.9). Er wies darauf hin, dass die Pflegeleistungen nicht mit der Hilflosenentschädigung und mit dem Intensivpflegezuschlag kongruent seien. Folglich dürfe die Restfinanzierung nicht um den Betrag einer allfälligen Hilflosenentschädigung und eines allfälligen Intensivpflegezuschlages gekürzt werden. Die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegezuschlag stünden den Eltern des Versicherten zu und dürften nicht indirekt auf Null gekürzt werden. Im Auftrag des

      Gemeinderates antwortete ein Rechtsagent am 9. November 2015 auf diese Eingabe (act. G 5.10). Er führte aus, die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegezuschlag stünden dem Versicherten selbst und nicht dessen Eltern zu. Diese seien ohnehin zivilrechtlich verpflichtet, den Versicherten zu pflegen und zu betreuen. Auch wenn der Versicherten gesund wäre, müsste er noch gepflegt und betreut werden. Der Art. 69 ATSG, der die Grundsätze der Überentschädigungsberechnung betreffend die Leistungen mehrerer Sozialversicherungszweige regle, sei für den Gemeinderat nicht massgebend, denn bei der Restfinanzierung der Pflegeleistungen handle es sich nicht um eine Sozialversicherungsleistung. Da die gesamten Vergütungen vorliegend nicht zur Finanzierung der Pflegeleistungen ausreichten, werde die Sozialhilfe die Restkosten subsidiär zu übernehmen haben. Diese werde die Hilflosenentschädigung und den Intensivpflegezuschlag aber für die Berechnung ihrer Leistungen berücksichtigen. Am

      30. November 2015 überwies das Departement des Innern den Rekurs vom 4. November 2015 zur Behandlung als Einsprache an den Gemeinderat (act. G 5.12). Am

      7. Dezember 2015 ersuchte der Gemeinderat den Rechtsdienst der Sozialversicherungsanstalt um eine Stellungnahme zur Einsprache (act. G 5.13). Dieser antwortete am 15. Januar 2016 (act. G 5.14), grundsätzlich dürften die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegezuschlag bei der Berechnung der Leistungen für die medizinische Pflege nicht berücksichtigt werden, da es sich nicht um kongruente Leistungen handle. In den Erläuterungen des Eidgenössischen Departementes des Innern vom 10. Juni 2009 zur neuen Pflegefinanzierung sei festgehalten worden, dass mit dem Begriff „Sozialversicherungen“ im Wesentlichen die Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, nicht aber die Ergänzungsleistungen und die Hilflosenentschädigung gemeint seien. Weiter sei darauf hingewiesen worden, dass bezüglich der Hilflosenentschädigung, die „potentiell darunter subsumiert werden könnte“, im Rahmen der parlamentarischen Diskussion kein Konsens gefunden worden sei. Angesichts des Umstandes, dass die Hilflosenentschädigung eine nicht zweckgebundene Geldleistung sei, müsse davon ausgegangen werden, dass auch diese nicht angerechnet werden dürfe. Das Bundesgericht habe eine teilweise Anrechnung der Hilflosenentschädigung bei der Berechnung der Kosten für die medizinische Pflege unter bestimmten Voraussetzungen teilweise als rechtmässig bezeichnet; praxisgemäss werde die Hilflosenentschädigung aber nicht angerechnet.

    5. Mit einem Entscheid vom 16. Februar 2016 wies der Gemeinderat die Einsprache ab (act. G 5.17). Zur Begründung führte er aus, bei der von der Sozialversicherungsanstalt eingeforderten Stellungnahme handle es sich lediglich um eine unverbindliche Meinungsäusserung, an die er nicht gebunden sei. Das Bundesgericht habe sich in den von der Sozialversicherungsanstalt erwähnten Entscheiden nur zum Verhältnis zwischen den Leistungen der Krankenpflegeversicherung und jenen der Invalidenversicherung, nicht aber zur Restfinanzierung, die sich nach kantonalem Recht richte, geäussert. Jene Entscheide seien also nicht massgebend. Ausserdem habe das Bundesgericht die teilweise Anrechnung der Hilflosenentschädigung unter bestimmten Voraussetzungen als zulässig erachtet. Der im Art. 16 PFG statuierte Subsidiaritätsgrundsatz habe zur Folge, dass bei der Berechnung der Restfinanzierung sämtliche Sozialversicherungsleistungen zu berücksichtigen seien. Bei der Hilflosenentschädigung und beim Intensivpflegezuschlag handle es sich eindeutig um Sozialversicherungsleistungen. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der einheitlichen Begriffsverwendung sei ein Ausschluss der Hilflosenentschädigung und des Intensivpflegezuschlages bei der Berechnung der Restfinanzierung ausgeschlossen.

B.

    1. Am 11. April 2016 liess der nun anwaltlich vertretene Versicherte (nachfolgend: der Beschwerdeführer) eine Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 16. Februar 2016 erheben (act. G 1). Seine Rechtsvertreterin beantragte die Aufhebung des Einspracheentscheides und die Berechnung der Restfinanzierung ohne die Berücksichtigung der Hilflosenentschädigung und des Intensivpflegezuschlages sowie eventualiter die Rückweisung der Sache zur weiteren Abklärung. Zur Begründung führte sie aus, die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegezuschlag seien nicht kongruent zu den Leistungen für die medizinische Pflege. Es gehe deshalb nicht an, dass die politische Gemeinde (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) diese Entschädigung über die subsidiäre Restfinanzierung doch wieder für die medizinische Behandlungspflege beanspruche. Wenn dies schon für das Verhältnis zwischen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung und der Invalidenversicherung gelte, dann müsse es auch für die Restfinanzierung so sein. Daran ändere der Umstand nichts, dass das Bundesgericht die teilweise Anrechnung der Hilflosenentschädigung für nicht

      nachgewiesene Drittkosten als zulässig erachtet habe. Das könne nämlich nur bedeuten, dass die Krankenpflegeversicherung die teilweise Anrechnung prüfen dürfe. Würde die zuständige Wohngemeinde bei der Berechnung der Restfinanzierung die teilweise Anrechnung der Hilflosenentschädigung und des Intensivpflegezuschlages nochmals prüfen, liefe dies auf eine doppelte Anrechnung hinaus.

    2. Die Beschwerdegegnerin beantragte am 25. Mai 2016 die Abweisung der Beschwerde (act. G 5). Zur Begründung führte sie aus, bei der Restfinanzierung handle es sich nicht um Bundessozialversicherungsleistungen, weshalb der für das Bundessozialversicherungsrecht massgebende Kongruenzgrundsatz keine Anwendung finden könne. Der Art. 69 ATSG könne nicht analog angewendet werden, denn dies würde eine Gesetzeslücke voraussetzen. Eine solche liege aber nicht vor, denn der Art. 16 PFG sehe eindeutig die Anrechnung sämtlicher Sozialversicherungsleistungen für die Berechnung der Restfinanzierung vor. Die Eltern des Beschwerdeführers seien ohnehin zivilrechtlich verpflichtet, diesen zu pflegen und zu betreuen. Diese elterliche Fürsorgepflicht gehe der Restfinanzierung vor, weshalb auch die diese Pflege und Betreuung abgeltende Hilflosenentschädigung (inkl. Intensivpflegezuschlag) der Restfinanzierung vorgehen müsse. Bei der Angabe der Mutter, sie habe auf die Aufnahme einer Teilzeiterwerbstätigkeit verzichten müssen, handle es sich nur um eine unbewiesene Schutzbehauptung. Kürzlich habe das Bundesgericht entschieden, dass die Hilflosenentschädigung bei der Berechnung von Sozialhilfeleistungen als Einnahme zu berücksichtigen sei, weil die Sozialhilfeleistungen subsidiär seien. Da es sich auch bei der Restfinanzierung um eine Art öffentlich-rechtliche Sozialleistung handle, sei diese Rechtsprechung für den vorliegenden Fall massgebend.

    3. Der Beschwerdeführer liess am 30. Juni 2016 an seinen Anträgen festhalten (act. G 8). Die Beschwerdegegnerin hielt am 30. August 2016 ebenfalls an ihrem Antrag fest (act. G 10).

Erwägungen

1.

Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen einen Einspracheentscheid betreffend die kantonalrechtliche Restfinanzierung von medizinischen Leistungen bei einer ambulanten Pflege, für die gemäss dem Art. 12 Abs. 1 PFG die politische Gemeinde zuständig ist. Laut dem Art. 4a Abs. 1 PFG richtet sich das Verfahren betreffend Leistungen im Sinne des PFG nach dem ATSG, was bedeutet, dass die zuständige politische Gemeinde auf ein Begehren um die Restfinanzierung bei einer ambulanten Pflege eine Verfügung zu erlassen und im Falle einer Anfechtung ein Einspracheverfahren durchzuführen hat, und dass eine Beschwerde gegen einen Einspracheentscheid an das kantonale Versicherungsgericht (Art. 56 Abs. 1 ATSG) zu erheben ist (kantonalrechtlich: Rekurs; vgl. Art. 42 Abs. 1 lit. a VRP). Das Versicherungsgericht ist folglich sachlich und funktionell zuständig zur Behandlung der Beschwerde vom 11. April 2016. Da der Beschwerdeführer seinen Wohnsitz im Kanton St. Gallen hat, ist das Versicherungsgericht auch örtlich zuständig (vgl. Art. 58 Abs. 1 ATSG). Die Beschwerdeschrift erfüllt die formellen Voraussetzungen des Art. 61 lit. b ATSG; die Beschwerdelegitimation im Sinne des Art. 59 ATSG ist zweifellos gegeben. Der angefochtene Einspracheentscheid ist am 24. Februar 2016 versandt und laut Angaben des Beschwerdeführers am Folgetag, dem 25. Februar 2016 zugestellt worden. Die 30 Tage dauernde Beschwerdefrist des Art. 60 Abs. 1 ATSG hat laut dem Art. 60 Abs. 2 ATSG i.V.m. dem Art. 38 Abs. 1 ATSG am 26. Februar 2016 zu laufen begonnen und hätte unter Berücksichtigung des Fristenstillstandes über Ostern (Art. 60 Abs. 2 ATSG i.V.m. Art. 38 Abs. 4 lit. a ATSG) an sich am 10. April 2016 geendet. Da der 10. April 2016 aber ein Sonntag gewesen ist, hat die Beschwerdefrist gemäss dem Art. 60 Abs. 2 ATSG i.V.m. dem Art. 38 Abs. 3 ATSG erst am Montag, dem 11. April 2016 geendet. Da die Beschwerde an diesem Tag zuhanden des Versicherungsgerichtes der Schweizer Post übergeben worden ist, ist die Beschwerdefrist gewahrt worden (Art. 60 Abs. 2 ATSG i.V.m. Art. 39 Abs. 1 ATSG). Sämtliche Eintretensvoraussetzungen sind folglich erfüllt, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist.

2.

Zwischen den Parteien ist umstritten, ob eine allfällige Hilflosenentschädigung und ein allfälliger Intensivpflegezuschlag der Invalidenversicherung bei der Berechnung der Restfinanzierung zu berücksichtigen sind.

    1. Laut dem Art. 25a Abs. 5 KVG dürfen der versicherten Person von den nicht von Sozialversicherungen gedeckten Pflegekosten höchstens 20 Prozent des höchsten vom Bundesrat festgesetzten Pflegebeitrages überwälzt werden; die Kantone haben die Restfinanzierung zu regeln. Der Kanton St. Gallen ist diesem Auftrag nachgekommen, indem er das PFG erlassen hat. Dieses sieht vor, dass die politischen Gemeinden das Angebot der Hilfe und Pflege zuhause sicherstellen (Art. 12 Abs. 1 PFG). Die zuständige politische Gemeinde hat die Pflegekosten zu tragen, soweit diese nicht von Sozialversicherungen vom Beitrag der versicherten Person gedeckt sind (Art. 16 PFG), wobei für Kinder und Jugendliche bis zum vollendeten 18. Altersjahr keine Kostenbeitragspflicht besteht (Art. 15 Abs. 3 PFG). Der im Art. 16 PFG verwendete Begriff „Sozialversicherungen“ legt den von der Beschwerdegegnerin vertretenen Schluss nahe, sämtliche Leistungen sämtlicher Bundessozialversicherungszweige gingen der kantonalrechtlichen Pflegerestfinanzierung vor, das heisst die politischen Gemeinden dürften unter anderem auch Hilflosenentschädigungen (inkl. allfälliger Intensivpflegezuschläge), Ergänzungsleistungen, Invalidenrenten, Integritätsentschädigungen der obligatorischen Unfallversicherung und Waisenrenten bei der Berechnung ihres Restfinanzierungsanteils berücksichtigen. Der Wortlaut des Art. 16 PFG ist allerdings nicht eindeutig, denn der Begriff „Sozialversicherungen“ könnte sich genauso gut auch nur auf kongruente, das heisst die Kosten einer medizinischen Pflege abdeckende Sozialversicherungsleistungen beziehen. Ein Blick in die Botschaft des Regierungsrates vom 29. Juni 2010 zum PFG zeigt, dass der erste Eindruck, der Art. 16 PFG habe sämtliche Sozialversicherungsleistungen im Blick, täuscht. In seinen Bemerkungen zu den einzelnen Gesetzesentwurfsbestimmungen (ABl 2010 2252 ff.) hat der Regierungsrat nämlich festgehalten, dass es sich bei der kantonalrechtlichen Pflegefinanzierung um ein „Teilelement dieses sozialversicherungsrechtlichen Finanzierungssystems“, das heisst um „sozialversicherungsrechtliche Beiträge nach KVG“ handle (ABl 2010 2252). Das bedeute unter anderem, dass das Verfahrensrecht des ATSG massgebend sei (vgl. Art. 4a PFG). Zudem gälten „Beiträge der Ergänzungsleistungen und Hilflosenentschädigungen nicht als Sozialversicherungen im Sinne der neuen Bestimmungen“, da sie „den Privatpersonen zur Deckung ihres Beitrages an die Pflege- und Betreuungskosten“ dienten; die neue Restfinanzierung

      von Pflegekosten durch die öffentliche Hand sei bedarfsunabhängig auszurichten und

      daher den Ergänzungsleistungen vorgelagert (ABl 2010 2234). Damit steht fest, dass die Hilflosenentschädigung (inkl. eines allfälligen Intensivpflegezuschlages) der Invalidenversicherung bei der Berechnung der Restfinanzierung der Kosten für die ambulante medizinische Pflege nach dem Willen des historischen Gesetzgebers nicht berücksichtigt werden darf. Auch wenn im Art. 16 PFG unspezifisch von Sozialversicherungsleistungen die Rede ist, besteht also kein Zweifel daran, dass der Gesetzgeber dabei nur an kongruente, das heisst die Kosten der medizinischen Pflege abdeckende Sozialversicherungsleistungen gedacht hat. Der Umstand, dass die Frage der Anrechnung einer allfälligen Hilflosenentschädigung gemäss der Mitteilung des EDI vom 10. Juni 2009 bei der Schaffung des Art. 25a KVG umstritten gewesen ist, ändert nichts daran, dass der historische Gesetzgeber sich eindeutig gegen eine Anrechnung der Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung ausgesprochen hat. Das Ergebnis der historischen Interpretation des Art. 16 PFG ist folglich eindeutig: Nur kongruente Sozialversicherungsleistungen dürfen bei der Berechnung der Restfinanzierung berücksichtigt werden.

    2. Der historische Gesetzgeber ist also davon ausgegangen, dass es sich bei den Leistungen des PFG um Leistungen nach dem KVG, das heisst um Bundessozialversicherungsleistungen handle, da das PFG nur ein Ausführungserlass zum Art. 25a KVG sei. Diese eher formale Argumentation kann für die systematische Interpretation des Art. 16 PFG nicht ausschlaggebend sein. Entscheidend ist vielmehr die Natur der Leistungen des PFG, das heisst die Antwort auf die Frage, ob es sich dabei um typische Sozialversicherungsleistungen aber um sozialhilfeähnliche Leistungen handelt. Auf den ersten Blick scheint letzteres der Fall zu sein, denn die Restfinanzierung der Kosten einer medizinischen Pflege wird augenscheinlich nicht von den Beiträgen der Versicherten an die obligatorische Krankenpflegeversicherung finanziert. Eine genaue Betrachtung zeigt aber, dass die Kantone die Restfinanzierung bedarfsunabhängig sicherzustellen haben. Auch vermögenden Personen darf nicht mehr als ein Fünftel des maximalen Pflegebeitrages überwälzt werden. Der Art. 25a Abs. 5 KVG – und damit auch das PFG – sieht also keine sozialhilfeähnlichen Leistungen vor, sondern zielt vielmehr auf eine Begrenzung der im Art. 64 KVG vorgesehenen Kostenbeteiligung ab. Die Restfinanzierung erfolgt zwar nicht durch die Beiträge der Versicherten, sondern durch die Kantone, weshalb der Restfinanzierung also nicht, wie dies für eine Versicherungsleistung typisch wäre, entsprechende

      Beitragszahlungen gegenüber stehen. Anders als in der Privatversicherung ist es bei einer Sozialversicherung aber nicht unüblich, dass deren Leistungen teilweise durch die öffentliche Hand finanziert werden. So werden die Hilflosenentschädigungen und die ausserordentlichen Renten der Invalidenversicherung ausschliesslich (Art. 77 Abs. 2 IVG) und alle anderen Leistungen der Invalidenversicherung teilweise (Art. 77 Abs. 1 lit. b und bbis IVG) vom Bund finanziert. Bei der Alters- und Hinterlassenenversicherung verhält es sich ähnlich (Art. 102 Abs. 2 AHVG und Art. 102 Abs. 1 lit. b AHVG). Auch die obligatorische Krankenpflegeversicherung wird teilweise durch Bundesbeiträge finanziert, wobei die damit einhergehende individuelle Prämienverbilligung für finanziell schlechter gestellte Versicherte einen sozialhilfeähnlichen Charakter aufweist (vgl. Art. 65 ff. KVG). Jedenfalls verliert eine Sozialversicherungsleistung ihre Versicherungsnatur nicht bereits dann, wenn sie nicht vollumfänglich durch Versichertenbeiträge finanziert worden ist. Aus dem Umstand allein, dass die Kantone für die Restfinanzierung aufzukommen haben, kann also nicht abgeleitet werden, es könne sich dabei nicht um eine Versicherungsleistung handeln. Anders als bei der individuellen Prämienverbilligung können sämtliche Versicherte unabhängig ihrer finanziellen Verhältnisse von der Restfinanzierung profitieren, da diese nicht bedarfsabhängig ausgerichtet wird, sondern wie dargelegt auf eine Begrenzung der Kostenbeteiligung abzielt respektive bei Kindern und Jugendlichen eine solche bewusst ausschliesst. Die Restfinanzierung wirkt sich also ähnlich wie die Begrenzung der Franchise und des Gesamtbetrages des Selbstbehaltes pro Kalenderjahr aus (vgl. Art. 64 Abs. 3 KVG, Art. 103 Abs. 1 KVV, Art. 103 Abs. 2 KVV und Art. 93 Abs. 1 KVV). Es handelt sich dabei also um nichts anderes als um spezifische kantonale Beiträge an die Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, die sich in erster Linie zugunsten der Versicherten auswirken, die sich mit ausserordentlich kostspieligen Leistungen konfrontiert sehen, in zweiter Linie aber auch der gesamten Versichertengemeinschaft zugutekommen, die ansonsten mit entsprechend höheren Prämien für die Finanzierung solcher ausserordentlich teuren Pflegeleistungen aufkommen müsste. Ihrer Art nach handelt es sich bei der Restfinanzierung also um eine (fremdfinanzierte) Versicherungsleistung im Sinne des KVG und damit um eine Bundessozialversicherungsleistung. Die Frage nach der Koordination der Restfinanzierung mit der Hilflosenentschädigung (inkl. eines allfälligen Intensivpflegezuschlages) der Invalidenversicherung gehört folglich in den Bereich der

      intersystemischen Koordination, die sich – vorbehältlich abweichender zweigspezifischer Regelungen – nach den Art. 63 ff. ATSG richtet. Das bedeutet, dass für die Berechnung einer allfälligen Überentschädigung der Kongruenzgrundsatz des Art. 69 Abs. 1 Satz 2 ATSG zu beachten ist. Folglich entspricht das Ergebnis der systematischen Interpretation jenem der historischen Auslegung: Nur kongruente Leistungen dürfen bei der Restfinanzierung berücksichtigt werden.

    3. Die Restfinanzierung bezweckt die Vergütung eines Teils der Kosten für eine medizinische – im Anwendungsbereich des Art. 16 PFG: ambulante – Pflege. Die Hilflosenentschädigung und ein allfälliger Intensivpflegezuschlag hingegen gelten pauschal die Kosten für die nicht-medizinische Pflege und Betreuung einer hilflosen Person ab, wobei es sich beim Intensivpflegezuschlag um einen Zuschlag zur Hilflosenentschädigung für Minderjährige handelt, die eine besonders intensive nicht- medizinische Pflege und Betreuung benötigen. Der Intensivpflegezuschlag bezieht sich ebenso wie die Hilflosenentschädigung ausschliesslich auf nicht-medizinischen Pflegeaufwand. Die Hilf¬losenentschädigung (und der Intensivpflegezuschlag) bezweckt die Finanzierung des Einkaufs von Dritthilfe bei der Bewältigung der alltäglichen Lebensverrichtungen. Bei minderjährigen Versicherten wird dabei nur der Mehraufwand gegenüber – naturgemäss ebenfalls teilweise hilflosen – gesunden Gleichaltrigen berücksichtigt (vgl. Art. 37 Abs. 4 IVV), was die Beschwerdegegnerin wohl übersehen hat. Bei der Restfinanzierung und bei der Hilflosenentschädigung handelt es sich also weder um Leistungen gleicher Art noch um Leistungen mit derselben Zweckbestimmung; die beiden Leistungsarten sind nicht im Sinne des Art. 69 Abs. 1 Satz 2 ATSG kongruent. Folglich darf bei der Berechnung der Restfinanzierung im Sinne des Art. 25a Abs. 5 KVG und des Art. 16 PFG keine Hilflosenentschädigung und kein allfälliger Intensivpflegezuschlag berücksichtigt werden. Damit erweist sich der angefochtene Einspracheentscheid als rechtswidrig, weshalb er in Gutheissung der Beschwerde aufzuheben ist. Er wird durch die Anweisung an die Beschwerdegegnerin ersetzt, ihren Restfinanzierungsbeitrag zu berechnen, ohne eine allfällige Hilflosenentschädigung einen allfälligen Intensivpflegezuschlag des Beschwerdeführers zu berücksichtigen.

3.

Gerichtskosten sind keine zu erheben (Art. 61 lit. a ATSG). Der obsiegende und anwaltlich vertretene Beschwerdeführer hat einen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 61 lit. g ATSG). Da nur relativ wenige Akten zu studieren gewesen sind und da sich das Verfahren auf eine spezifische Rechtsfrage beschränkt hat, ist insgesamt von einem leicht unterdurchschnittlichen Vertretungsaufwand auszugehen, weshalb die Parteientschädigung auf 3’000 Franken (inkl. Barauslagen und Mehrwertsteuer) festzusetzen ist.

Entscheid

1.

In Gutheissung der Beschwerde wird der angefochtene Einspracheentscheid vom 16. Februar 2016 aufgehoben und die Beschwerdegegnerin wird angewiesen, die Restfinanzierung zu berechnen, ohne eine allfällige Hilflosenentschädigung einen allfälligen Intensivpflegezuschlag des Beschwerdeführers zu berücksichtigen.

2.

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.

Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer mit 3’000 Franken zu

entschädigen.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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