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Urteil Versicherungsgericht (SG)

Zusammenfassung des Urteils AVI 2009/74: Versicherungsgericht

Die Beschwerdeführerin, eine alleinerziehende Mutter, hatte nach der Geburt ihrer Tochter ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben und sich um deren Betreuung gekümmert. Nach der Trennung vom Lebenspartner beantragte sie Arbeitslosenentschädigung, was jedoch abgelehnt wurde, da sie die Mindestbeitragszeit nicht erfüllt hatte. Sie argumentierte, dass die Trennung ein ähnlicher Grund wie bei Eheleuten sei, um von der Beitragszeit befreit zu werden. Das Gericht entschied, dass die Beschwerdeführerin aufgrund der Auflösung des stabilen Konkubinats und der finanziellen Abhängigkeit von ihrem Lebenspartner wie eine getrennte oder geschiedene Ehefrau behandelt werden sollte. Die Beschwerde wurde gutgeheissen, und die Angelegenheit wurde zur weiteren Prüfung an die Beschwerdegegnerin zurückverwiesen.

Urteilsdetails des Kantongerichts AVI 2009/74

Kanton:SG
Fallnummer:AVI 2009/74
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:AVI - Arbeitslosenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid AVI 2009/74 vom 28.05.2010 (SG)
Datum:28.05.2010
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 14 Abs. 2 AVIG. Die Beschwerdeführerin hat aufgrund der Auflösung eines gefestigten Konkubinats, bei dem sie die gemeinsame Tochter betreute und den Haushalt besorgte, ihre langjährige Versorgungsquelle verloren. Sie befindet sich somit in der ähnlichen Lage einer getrennten oder geschiedenen Ehefrau und ist gemäss Art. 14 Abs. 2 AVIG von der Erfüllung der Beitragszeit zu befreien. Unter dem Gesichtspunkt einer teleologischen und historischen Auslegung von Art. 14 Abs. 2 AVIG sind als "ähnliche Gründe" auch nicht ehebezogene Tatbestände zu verstehen. Auf die Rechtsprechung, welche die Trennung einer eheähnlichen Gemeinschaft als einen solchen "ähnlichen Grund" für die Beitragszeitbefreiung nicht anerkennt, ist zurückzukommen. Denn die Anerkennung dieser Lebensform in diesem Zusammenhang entspricht einer besseren Erkenntnis der ratio legis, den gewandelten Rechtsanschauungen, der gesetzlichen Entwicklung in der Arbeitslosenversicherung und dem verfassungsmässigen Diskriminierungsverbot (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 28. Mai 2010, AVI 2009/74). Aufgehoben durch Urteil des Bundesgerichts 8C_564/2010.
Schlagwörter : Konkubinat; Recht; Beitragszeit; Person; Konkubinats; Befreiung; Trennung; Familie; Tochter; Erwerbstätigkeit; Gemeinschaft; Kinder; Auflösung; Lebensgemeinschaft; Arbeitslosenentschädigung; Rahmenfrist; Erziehung; Unterhalt; Konkubinatspartner; Rechtsprechung; Bundes; Familien; Lebenspartner; Anspruch; Scheidung; Quot;ähnliche; Unterhalts; Sozialversicherungsrecht; Befreiungsgr
Rechtsnorm:Art. 116 BV ;Art. 24 BV ;Art. 276 ZGB ;Art. 8 BV ;
Referenz BGE:106 V 58; 106 V 60; 119 V 260; 119 V 54; 119 V 55; 121 V 343; 121 V 344; 123 V 219; 125 V 124; 125 V 125; 129 V 373; 131 V 284;
Kommentar:
-

Entscheid des Kantongerichts AVI 2009/74

Präsidentin Lisbeth Mattle Frei, Versicherungsrichterinnen Marie Löhrer und MarieTheres Rüegg Haltinner; a.o. Gerichtsschreiber Jorge Lopez

Entscheid vom 28. Mai 2010

in Sachen

K. ,

Beschwerdeführerin,

gegen

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UNIA Arbeitslosenkasse, Sektion St. Gallen, Teufenerstrasse 8, Postfach 2163, 9001 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin,

betreffend

Arbeitslosenentschädigung (Beitragszeitbefreiung) Sachverhalt:

A.

K. , ledig, gelernte kaufmännische Angestellte und, seit der Geburt ihrer Tochter Hausfrau, meldete sich am 5. März 2009 beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zur Arbeitsvermittlung im Hinblick auf eine Teilzeitbeschäftigung an und stellte Antrag auf Arbeitslosenentschädigung infolge Trennung vom Lebenspartner. Die Versicherte war von Februar 1999 bis November 2000 angestellt gewesen und hatte wegen Mutterschaft das Arbeitsverhältnis gekündigt (act. G 3.1/1). Seit 1. März 2009 bezieht sie Sozialhilfeleistungen (act. G 3.1/4).

B.

Mit Verfügung vom 1. April 2009 wies die Arbeitslosenkasse Unia den Antrag auf Arbeitslosenentschädigung ab dem 5. März 2009 ab, weil die Versicherte innerhalb der gesetzlichen Rahmenfrist keine beitragspflichtige Beschäftigungen nachweisen könne und auch keine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit geltend mache (act. G 3.1/2). Dagegen erhob die Versicherte am 28. April 2009 Einsprache unter Hinweis auf die Trennung als Befreiungsgrund (act. G 3.1/3). Die Versicherte gab zu den Akten die Abmeldungsanzeige vom 6. März 2009 betreffend Herrn B. , den Mietvertrag vom 1. April 2003 auf dessen Name und den Unterhaltsvertrag vom 21. November 2000 in Bezug auf die gemeinsame Tochter (act. G 3.1/4).

C.

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Mit Einspracheentscheid vom 21. August 2009 hielt die Arbeitslosenkasse Unia an ihrer leistungsverweigernden Verfügung fest (act. G 3.1/5). Dagegen erhebt die Versicherte mit Eingabe vom 3. September 2009 Beschwerde und beantragt sinngemäss die Aufhebung des Einspracheentscheides unter Anerkennung der Trennung von ihrem Lebenspartner als ähnlichen Grund für die Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit. Zur Begründung führt die Beschwerdeführerin aus, nach der Geburt ihrer Tochter habe sie ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben und sich um die Erziehung des Kindes gekümmert. Ihr Lebenspartner sei vollumfänglich für den finanziellen Unterhalt der Familie aufgekommen. Sie habe sich allerdings nach über zehn Jahren von ihrem Lebenspartner getrennt. Bei unverheirateten Paaren bestehe kein rechtlicher Anspruch auf Unterhaltszahlungen für die Mutter. Aufgrund des fehlenden Einkommens sei sie nun gezwungen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Es könne nicht im Sinne des Gesetzes sein, dass ein unverheiratetes Paar mit einem Kind schlechter gestellt werde als verheiratete Paare (act. G 1). Mit der Beschwerdeantwort vom 12. Oktober 2009 beantragt die Beschwerdegegnerin gestützt auf das Kreisschreiben über die Arbeitslosenentschädigung (B 196) die Abweisung der Beschwerde (act. G 3).

Erwägungen:

1.

    1. Nach Art. 8 Abs. 1 lit. e des Bundesgesetzes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (AVIG; SR 837.0) setzt der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung unter anderem voraus, dass die versicherte Person die Beitragszeit erfüllt hat von der Erfüllung der Beitragszeit befreit ist. Unter der Erfüllung der Beitragszeit versteht Art. 13 Abs. 1 AVIG, dass die versicherte Person innerhalb der dafür vorgesehenen Rahmenfrist während mindestens zwölf Monaten eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat. Die Rahmenfrist für die Beitragszeit beginnt zwei Jahre vor dem Tag, an welchem die versicherte Person erstmals sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt (Art. 9 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 AVIG). Eine Verlängerung dieser Rahmenfrist bis zu vier Jahren kommt nach Art. 9b Abs. 2 AVIG denjenigen Versicherten zugute, die sich der Erziehung ihrer Kinder unter 10 Jahren gewidmet haben, sofern zu Beginn dieser Tätigkeit keine Rahmenfrist für den Leistungsbezug lief.

      image

    2. Vorliegend steht fest und ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin sich seit der Geburt ihrer Tochter deren Betreuung und Erziehung gewidmet hat (act. G 3.1/1). Da sie sich am 5. März 2009 zur Arbeitsvermittlung anmeldete, lief die Rahmenfrist für die Beitragszeit vom 5. März 2005 bis zum 4. März 2009. Dadurch, dass die Betreuungstätigkeit nicht auf die Erzielung eines Einkommens, sondern auf die Erfüllung der Unterhaltspflicht nach Art. 276 ZGB gerichtet ist, stellt sie keine beitragspflichtige Beschäftigung nach Art. 13 Abs. 1 AVIG dar (ARV 1996/97 Nr. 32 S. 180 E. 5). Mithin hat die Beschwerdeführerin die erforderliche Mindestbeitragszeit nicht erfüllt.

2.

Damit kann der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung nur entstehen, wenn Ereignisse für die Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit vorliegen. Gemäss Art. 14 Abs. 2 AVIG sind Personen davon befreit, wenn sie wegen Trennung Scheidung der Ehe, wegen Invalidität Todes des Ehegatten aus ähnlichen Gründen wegen Wegfalls einer Invalidenrente gezwungen sind, eine unselbständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen zu erweitern. Das betreffende Ereignis darf nicht mehr als ein Jahr zurückliegen.

Streitgegenstand in diesem Beschwerdeverfahren ist die Frage, ob sich die Beschwerdeführerin aufgrund der Trennung von ihrem Konkubinatspartner auf einen ähnlichen Grund für die Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG berufen kann. Die Beschwerdegegnerin verweist in der Beschwerdeantwort auf das KS ALE 2007, Randziffer B 196, wonach kein Befreiungsgrund vorliegt, wenn ein Konkubinat aufgelöst wird.

    1. Die Gerichte berücksichtigen bei ihren Entscheidungen solche Verwaltungsweisungen, soweit sie eine dem Einzelfall gerecht werdende Auslegung der massgebenden Bestimmung zulassen (Ulrich Häfelin/ Georg Müller/Felix Ulmman, Allgemeines Verwaltungsrecht, Zürich/St. Gallen 2006, § 3 IV 2bb/cc; Pierre Tschannen/Ulrich Zimmerli, Allgemeines Verwaltungsrecht, Bern 2005, § 41 Rz 12 f). Die Materialien der gesetzgeberischen Vorarbeiten sahen vor, durch laufende Information der Arbeitslosenkassen und der Verwaltung bezüglich ähnlicher Gründe

      eine möglichst einheitliche Praxis in den Kantonen aufzubauen (BBl 1980 III 565). Aufgrund ihrer grösseren Nähe zu den faktischen Verhältnissen sind die zuständigen Versicherungsträger tatsächlich geeignet, den unbestimmten Rechtsbegriff der "ähnlichen Gründen" zu konkretisieren. Allerdings dürfte sich die zitierte Weisung B 196 ihrerseits direkt auf höchstrichterliche Rechtsprechung stützen.

    2. In BGE 123 V 219 entschied das Eidgenössische Versicherungsgericht im Anschluss an die Praxis zum früheren Recht, dass die Auflösung einer dreizehnjährigen eheähnlichen Gemeinschaft, aus der ein Kind hervorgegangen war, zu keiner Annahme eines "ähnlichen Grundes" im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG führe. Die Rechtsprechung zum alten Art. 17 Abs. 4 der Verordnung vom 14. März 1977 über die Arbeitslosenversicherung (AlVV; 1983 aufgehoben) verlange unter dem gleichbedeutenden Begriff "ähnliche Vorkommnisse" das Bestehen einer ehelichen Verbindung. Massgebend seien die rechtlichen Unterhaltsund Beistandspflichten, die eine eheähnliche Gemeinschaft nicht auszulösen vermöge. Sinn und Zweck von Art. 17 Abs. 4 AlVV seien durch Art. 14 Abs. 2 AVIG nicht geändert worden. Letzterer habe nur die Trennung von Ehegatten als Befreiungsgrund eingeführt, was ebenfalls der früheren Rechtsprechung entspreche, und die Aufhebung der Invalidenrente hinzugefügt. Zudem knüpfe das Sozialversicherungsrecht des Bundes an die Begriffe des Zivilrechts, nämlich des Familienrechts an, gemäss welchem die rechtlichen Auswirkungen einer Trennung von Konkubinatspartnern denjenigen einer Trennung Scheidung der Ehe nicht anzugleichen seien. Die Ausdehnung des Begriffes der "ähnlichen Gründe" auf die Lage der Konkubinatspartner würde nicht nur einer Änderung der Verwaltungspraxis, sondern einer Abkehr der bisherigen Rechtsprechung gleichkommen. Die Voraussetzungen für eine solche Praxisänderung seien nicht erfüllt.

    3. Der Leitentscheid BGE 106 V 58, auf welchem die Rechtsprechung BGE 123 V 219 beruht, befasste sich mit dem Fall einer ledigen, alleinerziehenden Schweizerin, die im Juni 1977 eine kaufmännische Ausbildung abgeschlossen und im November desselben Jahres mit ihrer sechsjährigen Tochter die Schweiz verlassen hatte, um ihren Freund im Ausland wiederzutreffen und zu heiraten. Nachdem es nicht zur Heirat gekommen war, war sie im darauf folgenden Jahr in die Schweiz zurückgekehrt. Das Eidgenössische Versicherungsgericht erwog, dass nach dem Wortlaut des Art. 17 Abs. 4 AlVV andere Personen als Ehegatten unter den Rechtsbegriff "ähnliche Vorkommnisse" fallen

könnten. Es bezog sich hypothetisch auf den Fall einer Tochter, welche sich um ihre pflegebedürftigen Eltern gekümmert habe, von ihnen unterhalten worden sei und, nach ihrem Tod, zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gezwungen sei. Diese Tochter wäre aufgrund des Untergangs der gesetzlichen Unterstützungspflicht zwischen Verwandten in vergleichbarer Lage wie Ehegatten. Die Rechtslage sei hingegen ganz anders bei einer eheähnlichen Gemeinschaft, in der keine rechtlichen Unterhaltsoder Beistandspflichten bestünden. Selbst wenn eine solche Lebensform tatsächlich eine moralische Verantwortung mit sich bringe, habe sie rechtlich gesehen einen prekären Charakter, denn jeder Konkubinatspartner könne deren Beendigung herbeiführen, ohne zu irgendwelchen geldwerten Leistungen, sei es für die Vergangenheit für die Zukunft, verpflichtet zu sein. Jeder Konkubinatspartner müsse deshalb jederzeit auf die Einstellung der Leistungen gefasst sein, die der andere ihm rechtlich auf freiwilliger Basis erbringe. Unter diesem Gesichtspunkt würde durch die Anerkennung der Auflösung einer eheähnlichen Gemeinschaft als Befreiungsgrund diese Lebensform der Ehe in unzulässiger Weise gleichgesetzt. Ein solches Abweichen von den Begriffen des Zivilrechts in diesem Zusammenhang würde an Willkür grenzen und zu einer Rechtsunsicherheit führen.

3.

Der Leitentscheid, auf den sich die Betrachtungsweise der eheähnlichen Gemeinschaft im angefochtenen Einspracheentscheid stützt, liegt 30 Jahre zurück. Das Bundesgericht selbst kehrt von seiner Rechtsprechung ab, wenn eine neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, gewandelten Rechtsanschauungen veränderten äusseren Verhältnissen entspricht (BGE 119 V 260 E. 4a; BGE 129 V 373

E. 3.3). Von diesem Hintergrund ausgehend ist im Folgenden zu prüfen, ob der Umstand, dass die Beschwerdeführerin sich nach über zehn Jahren Lebensgemeinschaft vom Vater ihrer 2000 geborenen Tochter und Familienversorger getrennt hat, veranlassen darf, auf die alte Rechtsprechung zurückzukommen, indem dieses aufgehobene Konkubinat wie ein definitives Auseinandergehen von Eheleuten behandelt wird.

    1. Der Begriff "ähnlicher Grund" stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar. Der Gesetzgeber verwendete bewusst eine solche offene Formulierung, damit die

      Rechtsanwender mit der erforderlichen Flexibilität die Vielfalt der Lebenssituationen gebührend berücksichtigen können (Botschaft des Bundesrates zu AVIG vom 2. Juli 1980, BBl 1980 III 565). Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Der Wortlaut von Art. 14 Abs. 2 AVIG gibt über die Bedeutung des fraglichen, unbestimmten Rechtsbegriffes nur insofern Aufschluss, als das Gesetz einen Grund verlangt, welcher ähnlich ist, also sachlich auf der gleichen Ebene liegt wie die vorab einzeln umschriebenen, aber nicht abschliessend aufgezählten Motive für die Arbeitsaufnahme (BGE 119 V 54 E. 3a). Da diese Bestimmung die Tatbestände Trennung, Scheidung, Invalidität und Tod im Zusammenhang mit der Ehe erwähnt, könnte daraus der Schluss gezogen werden, dass Ähnliches sich ausschliesslich auf andere mit der Ehe verbundene Situationen bezieht. Von diesem Blickwinkel aus betrachtet würde die Norm einerseits ehebezogene Befreiungsgründe, die ähnliche Gründe einschliessen, und andererseits den davon unabhängigen Grund des Wegfalls einer Invalidenrente beinhalten.

      1. Erlaubt ein Gesetzestext verschiedene Interpretationen ist er unbestimmt formuliert, muss nach seinem wahren Sinn und Zweck gesucht werden. Art. 14 Abs. 2 AVIG ist für jene Fälle vorgesehen, in denen die Person, welche die Familie bislang finanziell versorgt hat, die Erwerbsquelle unerwartet aus weggefallen ist. Es handelt sich dabei um den Schutz der Versicherten, die nicht eigentlich auf die Aufnahme, Wiederaufnahme Ausdehnung der Erwerbstätigkeit vorbereitet sind und die aus wirtschaftlicher Notwendigkeit in verhältnismässig kurzer Zeit auf die veränderte Situation reagieren müssen (Gächter/Schwendener, "Nichteheliche Lebensgemeinschaften im Sozialversicherungsrecht: ein Beitrag zum Verhältnis vom Familienund Sozialversicherungsrecht", FamPra 2005, S. 851; Gehard Gehards,

        AVIG-Kommentar, Bd I, Rz 34 zu Art. 14; Thomas Nussbaumer, Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Band XIV-Meyer, Soziale Sicherheit, 2. Auflage, Basel 2007, O Rz 242f; BGE 125 V 124f. E. 2a; ARV 2006 Nr. 2 S. 59 E. 5.1). Allen

        Befreiungsereignissen ist gemeinsam, dass sie die betroffene Person in eine wirtschaftliche Zwangslage bringen und zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit veranlassen, um die finanzielle Bedrängnis zu überwinden wenigstens zu mildern (BGE 119 V 54 E. 3a; BGE 121 V 343 E. 5c/aa;). Der Schutzgedanke der Norm zielt damit nicht einseitig auf den Zivilstand einer versicherten Person. Vielmehr geht es um

        den Einstieg Wiedereinstieg ins Berufsleben die Erweiterung einer Erwerbstätigkeit infolge des unerwarteten Wegfalls der wirtschaftlichen Versorgung.

      2. Scheint der Wortlaut des ersten Teils von Art. 14 Abs. 2 Satz 1 AVIG sich auf ehebezogene Gründe zu beschränken und damit den wahren Sinn der Bestimmung zu unterlaufen, ist auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzestextes zurückzugreifen. Nach der bundesrätlichen Botschaft vom 2. Juli 1980 lassen sich darunter auch Fälle subsumieren, wie denjenigen einer ledigen Person, die ihre betagten Eltern betreut hat, von diesen unterhalten wurde und nach deren Ableben infolge ihrer wirtschaftlichen Lage zur Aufnahme eines Verdienstes gezwungen ist (BBl 1980 III 565). Mit diesem Beispiel schliesst sich die Botschaft, soweit die ähnlichen Gründe nicht nur Ehegatten betreffen, an die zitierte Rechtsprechung (BGE 106 V 58) an, ohne die eheähnliche Gemeinschaft ausdrücklich auszuschliessen. Gestützt darauf ist festzustellen, dass in einer historischen Auslegung auch nichtehebezogene Tatbestände als ähnliche Gründe gelten können, sofern es sich um Lebenssituationen handelt, die in Auswirkung und Tragweite den vorab ausdrücklich erwähnten Ereignissen entsprechen. Der Verordnungsgeber bekräftigt diese Auffassung, indem Art. 13 Abs. 1bis AVIV in Kraft seit 1. Juli 2003 - die Situation von Personen, die wegen Wegfalls der Betreuung von Pflegebedürftigen im gemeinsamen Haushalt zur Aufnahme Erweiterung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit gezwungen sind, als ähnlichen Grund im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG anerkennt (vgl. BBl 2001 2261 sowie BGE 131 V 284).

      3. Wenn die grammatikalische und die historische Auslegung sowie Sinn und Zweck der Befreiungstatbestände von Art. 14 Abs. 2 AVIG die eheähnliche Gemeinschaft als ähnlichen Grund einzuschliessen gestatten, bleibt dagegen nur das Argument, durch diese Anerkennung sei das Konkubinat der Ehe unzulässig gleichgesetzt. Die Frage betrifft aber nicht in erster Linie die familienrechtliche Gleichstellung zwischen dem Konkubinat und der Ehe. Es geht vor allem um die Orientierung des Sozialversicherungsrechts am Familienrecht. Im Schrifttum geht man zu Recht darauf differenziert ein. Es ist im Interesse der Einheit der Rechtsordnung zwar davon auszugehen, dass die familienbezogenen Begriffe des Sozialversicherungsrechts grundsätzlich familienrechtskonform auszulegen sind. Die Übereinstimmung kann allerdings nicht so weit gehen, dass sie die unterschiedlichen Zwecke der Rechtsgebiete verkennt. Das Familienrecht bezweckt einen rechtlich verbindlichen und

        klaren Rahmen von Rechten und Pflichten für nahe menschliche Beziehungen zu schaffen, um diesen hinreichenden Schutz zu gewährleisten. Demgegenüber verfolgt das Sozialversicherungsrecht die Absicherung der ganzen Bevölkerung eines grossen Teils davon gegen die wirtschaftlichen Folgen sozialer Risiken und dient dem Ausgleich von damit verbundenen Schäden der Tragung von Lasten. Ein legitimes Interesse an wirtschaftlichem Ausgleich besteht aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht auch ausserhalb familienrechtlicher Pflichten (Gächter/Schwendener, S.

        861-864). Vergleichbarer Tatbestand für die Betrachtung der Auflösung des Konkubinats als ähnlicher Grund in bezug auf die Beitragszeitbefreiung ist die Scheidung. Zweifelsohne ist die Scheidung ein familienrechtlicher Status bzw. bewirkt dessen Änderung. Ein der Scheidung ähnlicher Grund ist aber kein familienrechtlicher Statusbegriff. Denn sonst wäre er nicht nur ähnlich, sondern gleichwertig. Die wirtschaftliche Lage, welche die Absicherung durch das Sozialversicherungsrecht nötig macht, ist für die haushaltsführende Person nach der Auflösung des Konkubinats ähnlich wie nach der Scheidung (Markus Krapf, Die Koordination von Unterhaltsund Sozialversicherungsleistungen für Kinder, Zürich/ Basel/ Genf 2004, Kap. 3, S. 80). Die spezifisch sozialversicherungsrechtliche Behandlung des Konkubinats bringt mit sich somit keine unzulässige familienrechtliche Gleichstellung. Die Auflösung eines Konkubinats kann somit in einer besseren Erkenntnis der ratio legis von Art. 14 Abs. 2 AVIG als ähnlicher Grund für eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit gelten.

    2. Diese Auffassung wird dadurch bekräftigt, dass sich die gesellschaftlichen Wertvorstellungen im Laufe der Jahre stark geändert haben. Die Menschen hatten früher in sogenannter "wilden Ehe" zusammengelebt, wenn Hindernisse für eine Eheschliessung vorgelegen hatten. Im Hintergrund des Leitentscheides BGE 106 V 58 standen repressive Gesetze, die Mitte der Siebzigerjahre in 14 Kantonen und noch in den Achtzigerjahren in 6 Kantonen das Konkubinat strafrechtlich verfolgten. Dass solche Gesetze bereits damals kaum mehr durchgesetzt worden sind, zeugt von einem Wandel in der Gesellschaft. Deshalb erstaunt nicht, dass obwohl das Eidgenössische Versicherungsgericht die Auflösung des Konkubinats nicht in den Begriff "ähnlichen Grund" subsumierte, es die moralische Verantwortung dieser Lebensform erkannte (BGE 106 V 60 E. 3). Heute ist die eheähnliche Gemeinschaft nicht nur akzeptiert, sondern weit verbreitet.

    3. Die gesetzgeberische Entwicklung zeigt auch die Notwendigkeit der Subsumtion der Fälle von Konkubinatspartnern mit Kindern unter Art. 14 Abs. 2 AVIG. Der vom

      1. Januar 1996 bis zum 1. Juli 2003 gültige Art. 13 Abs. 2bis AVIG rechnete als

      Beitragszeit Perioden an, in denen Versicherte keine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt haben, weil sie sich der Erziehung von Kindern unter 16 Jahren widmeten. Da der Zivilstand dabei irrelevant war, kam dieser Anrechnungstatbestand auch bei der Auflösung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern zur Anwendung. Nach der Botschaft des Bundesrates zur 2. Teilrevision des AVIG vom 29. November 1993 (BBl 1994 I 356) füllte aArt. 13 Abs. 2 bis AVIG im Sozialschutz eine Lücke. Denn für jene Personen, die eine berufliche Tätigkeit ausüben, sei der Sozialschutz ausgedehnter als für jene, die auf eine solche verzichtet hätten, um sich der Erziehung der Kinder zu widmen. Obgleich diese Tätigkeit von erheblicher Bedeutung sei, werde sie nicht entlöhnt und sei nicht versichert. Deshalb sei die Anrechnung der der Erziehung gewidmeten Zeit als Beitragszeit nötig. Seit der 3. AVIG-Revision werden die Erziehungszeiten jedoch nicht mehr als Beitragszeiten anerkannt, sondern bei der Verlängerung der Rahmenfrist für den Leistungsbezug derjenigen für die Beitragszeit berücksichtigt (Art. 9b AVIG; BBl 2001 2277). Daraus entsteht eine faktische Verschlechterung für nichteheliche Lebenspartner beim Dahinfallen der Beziehung der aus dieser fliessenden Versorgung, wenn sie sich während mehrerer Jahre der Erziehung der Kinder widmen, innerhalb der verlängerten Rahmenfrist keine beitragspflichtige Beschäftigung ausüben und demzufolge wegen der Nichterfüllung der Beitragszeit keinen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung haben (Gächter/Schwendener, S. 852 f.).

    4. Nicht zuletzt ergibt sich aus einer verfassungskonformen Auslegung, dass der Ausschluss der nichtehelichen Lebensgemeinschaften von der Anwendung von Art. 14 Abs. 2 AVIG eine unzulässige Diskriminierung einer Lebensform im Sinne von Art. 8 Abs. 2 BV darstellt. Art. 24 BV gewährleistet das Recht auf Ehe und Familie als eine Institutsgarantie. Der Institutsgarantie liegt historisch die Vorstellung zu Grunde, dass die staatlich geordnete eheliche Gemeinschaft von Mann und Frau die optimale Grundlage für heranwachsende Nachkommen und ihnen rechtlichen Schutz bietet. Deshalb darf die Ehe gegenüber anderen nichtehelichen Lebensgemeinschaften nicht benachteiligt werden. Dies bedeutet aber nicht, dass eine Privilegierung der Ehe gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften geboten ist. Der in den Sozialzielen

der Bundesverfassung enthaltene Auftrag, Familien als Gemeinschaften von Erwachsenen und Kindern zu schützen und zu fördern (Art. 41 Abs. 1 lit. c BV), knüpft am traditionellen Familienbild des Zivilrechts nicht an, sondern umfasst auch andere Lebensgemeinschaften. Und wenn Art. 116 Abs. 1 BV verlangt, dass der Bund bei der Erfüllung der Aufgaben die Bedürfnisse der Familie beachten muss, beschränkt er sich damit nicht auf den zivilrechtlichen Familienbegriff. Je ähnlicher die Ausgestaltung einer nichtehelichen Gemeinschaft derjenigen einer Ehe erscheint wie beim Vorhandensein von gemeinsamen Kindern, desto weniger ist die Besserstellung der Ehepaare gerechtfertigt (Gächter/ Schwendener, S. 865 ff.).

4.

Problematisch für die Behandlung der Trennung der Konkubinatspartner als ein der Ehescheidung ähnlicher Tatbestand bleibt zwar die Tatsache, dass die Gestaltung der nichtehelichen Lebensgemeinschaften sehr unterschiedlich ist.

    1. Es ist aber nicht einzusehen, weshalb im Falle eines stabilen Zusammenlebens über längere Zeit, während deren die wirtschaftliche Last vor allem von einem der Partner getragen wurde, eine Versorgungslücke sozialversicherungsrechtlich nicht anerkannt wird, wenn die Beziehung aufgelöst worden ist der versorgende Partner stirbt. Dass nicht jedes Konkubinat von der Erfüllung der Beitragszeit befreien kann, ist einsichtig. Deshalb ist das Bestehen einer qualifizierten nichtehelichen Lebensgemeinschaft unerlässlich. Einen Massstab dafür könnte etwa die Umschreibung von Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG bilden, wie Gächter/Schwendener vorschlagen (a.a.O. S. 852). Nach dieser Bestimmung kann die Vorsorgeeinrichtung in ihrem Reglement Konkubinatspartner als anspruchsberechtigte Person im Hinblick auf Hinterlassenenleistungen vorsehen. In diesem Fall kann eine nicht verheiratete Person aus reglementarischer Grundlage Hinterlassenenleistungen beanspruchen, wenn das Konkubinat ununterbrochen mindestens fünf Jahre bis zum Tod des Versicherten angedauert hat wenn die nicht verheiratete Person vom Versicherten in erheblichem Masse unterstützt worden war wenn gemeinsame Kinder vorhanden sind. Bei den letztgenannten Varianten ist eine Mindestdauer des Konkubinats nicht erforderlich (Jürg Brühwiler, Obligatorische berufliche Vorsorge, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Bd. XIV, Soziale Sicherheit, 2. Aufl., Basel 2007, N 98). Es

      kann offen bleiben, welche allgemeinen Kriterien bei Vorhandensein eines Konkubinats gegeben sein müssen, um bei Auflösung des Verhältnisses als ähnlicher Grund gelten zu können. Im vorliegenden Fall sind jedenfalls Verhältnisse gegeben, die nach einer Gleichbehandlung der Auflösung des Konkubinats mit jener einer Ehetrennung Ehescheidung rufen.

    2. So hatte die Beschwerdeführerin aufgrund der Geburt der Tochter ihre Stelle als kaufmännische Angestellte gekündigt, sich in der Folge um deren Betreuung gekümmert und den Haushalt besorgt (act. G 3.1/1). Der Unterhaltsvertrag vom 21. November 2000 weist auf die Vaterschaft hin. Die Wohnsitzadresse gemäss Abmeldungsanzeige vom 6. März 2009 und der Mietvertrag vom 1. April 2003 auf den Namen des Lebenspartners entsprechen der von der Beschwerdeführerin bei der RAVund Sozialamtsanmeldung angegebenen Adresse (act. G 3.1/4). Die Beschwerdeführerin bringt vor, sie sei seit der Geburt der Tochter während mehr als zehn Jahren von ihrem Lebenspartner finanziell versorgt worden (act. G 1). Das ist unbestritten geblieben und kann als überwiegend wahrscheinlich gelten.

    3. Erforderlich für die Befreiung der Erfüllung der Beitragszeit ist ein Kausalzusammenhang zwischen dem geltend gemachten Ereignis und der Notwendigkeit der Aufnahme Erweiterung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit (BGE 125 V 125 E. 2a). Der Kausalzusammenhang ist gegeben, wenn es glaubwürdig und nachvollziehbar erscheint, dass der Entschluss der versicherten Person, eine unselbständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen zu erweitern, in dem als Befreiungsgrund in Frage kommenden Ereignis mitbegründet liegt (BGE 121 V 344 E. 5c/bb; BGE 119 V 55 E. 3b). Im vorliegenden Fall entsprach die Gemeinde dem Gesuch um Sozialhilfeleistungen ab dem 1. März 2009 mit Hinweis darauf, dass sie ab September 2009 nur Mietkosten für einen 2-Personen-Haushalt übernehme und die Beschwerdeführerin sich um eine günstigere Wohngelegenheit zu bemühen habe (act. G 3.1/4). Die wirtschaftliche Notwendigkeit der Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit im Zusammenhang mit der Trennung erscheint glaubwürdig. Selbst wenn die Beschwerdeführerin von einer Trennung ab Oktober 2008 spricht (act. G 1), ist die kausale Voraussetzung erfüllt, indem das geltend gemachte Ereignis von der Anmeldung zur Arbeitsvermittlung her nicht mehr als ein Jahr zurückliegt.

5.

In Würdigung der gesamten Umstände ist die Beschwerde gutzuheissen. Es ist festzustellen, dass die Beschwerdeführerin aufgrund der Auflösung eines gefestigten Konkubinats, bei dem sie die gemeinsame Tochter betreute und den Haushalt besorgte, ihre langjährige Versorgungsquelle verloren hat, weshalb sie sich in der ähnlichen Lage einer getrennten geschiedenen Ehefrau befindet und gemäss Art. 14 Abs. 2 AVIG von der Erfüllung der Beitragszeit zu befreien ist. Die Streitsache ist zur Prüfung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen für die Arbeitslosenentschädigung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Gerichtskosten sind keine zu erheben (Art. 61 lit. a ATSG).

Demgemäss hat das Versicherungsgericht entschieden:

  1. In Gutheissung der Beschwerde wird der Einspracheentscheid vom 21. August 2009 aufgehoben und die Streitsache zur Prüfung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen und neuen Verfügung an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.

  2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

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