BK 2022 115 - Verlängerung Sicherheitshaft
Obergericht
des Kantons Bern
Beschwerdekammer in Strafsachen
Cour suprême
du canton de Berne
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Beschluss
BK 22 115
Bern, 22. März 2022
Besetzung Oberrichter Schmid (Präsident i.V.), Oberrichter Gerber,
Oberrichterin Hubschmid
Gerichtsschreiberin Beldi
Verfahrensbeteiligte A.__
a.v.d. Rechtsanwältin B.__
Beschuldigter/Beschwerdeführer
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern
v.d. Staatsanwalt C.__
Gegenstand Verlängerung Sicherheitshaft
Strafverfahren wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz, einfacher Körperverletzung und Hausfriedensbruchs
Beschwerde gegen das Urteil des Regionalgerichts Oberland, Kollegialgericht Dreierbesetzung, vom 1. März 2022
(PEN 21 458-460)
Erwägungen:
1. Das Regionalgericht Oberland (nachfolgend: Regionalgericht) verurteilte A.__ am 1. März 2022 wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz und Tätlichkeit zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 14 Monaten, wovon sieben Monate – unter Anrechnung der Untersuchungs- und Sicherheitshaft von 189 Tagen – zu vollziehen sind. Nebst dem wurde eine Landesverweisung von sechs Jahren angeordnet und auf den Widerruf zweier bedingt ausgesprochener Vorstrafen (Geldstrafen von insgesamt 90 Tagessätze) verzichtet. Weiter verfügte das Regionalgericht unter Dispositivziffer VI./1., dass A.__ zur Sicherung des Vollzugs in Sicherheitshaft belassen und diese vorerst für eine Dauer von drei Monaten verlängert werde (amtliche Akten pag. 421-427).
Am 10. März 2022 meldete A.__, amtlich verteidigt durch Rechtsanwältin B.__, beim Regionalgericht Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil an (amtliche Akten pag. 438). Auf Nachfrage des Regionalgerichts hin bestätigte die amtliche Verteidigerin, dass die Berufungsanmeldung lediglich mit Blick auf die ausgesprochene Landesverweisung erfolgt sei (amtliche Akten pag. 0443).
Weiter erhob A.__ (nachfolgend: Beschwerdeführer) – ebenfalls am 10. März 2022 – bei der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Bern (nachfolgend: Beschwerdekammer) Beschwerde gegen die angeordnete resp. verlängerte Sicherheitshaft. Darin beantragte er die Aufhebung des vorinstanzlichen Haftentscheids resp. der diesbezüglichen Dispositivziffer VI./1 des Urteils PEN 21 458-460 vom 1. März 2022 sowie die umgehende Haftentlassung. Eventualiter ersuchte er um Beschränkung der Haftdauer bis 24. März 2022, sub-eventualiter eine Entlassung auf diesen Zeitpunkt hin unter Anordnung von Ersatz-
massnahmen (Schriftensperre und wöchentliche Meldepflicht).
Das Regionalgericht verzichtete am 15. März 2022 – unter Verweis auf die mit Urteil vom 1. März 2022 erfolgte Begründung – auf eine Stellungnahme. Gleichzeitig reichte es die amtlichen Akten PEN 21 458-460 ein. Die Staatsanwaltschaft verzichtete in ihrer delegierten Eingabe vom 15. März 2022 ebenfalls auf eine Stellungnahme (Eingang Beschwerdekammer: 22. März 2022).
2. Gestützt auf Art. 222 i.V.m. Art. 393 Abs. 1 Bst. b der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO; SR 312.0) können Entscheide über die Anordnung und Verlängerung von Sicherheitshaft durch die verhaftete Person mit Beschwerde angefochten werden. Zuständig ist die Beschwerdekammer (Art. 35 des Gesetzes über die Organisation der Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft [GSOG; BSG 161.1] i.V.m. Art. 29 Abs. 2 des Organisationsreglements des Obergerichts [OrR OG; BSG 162.11]). Der Beschwerdeführer ist durch die Belassung in Sicherheitshaft unmittelbar in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und somit zur Beschwerdeführung legitimiert (Art. 222 und Art. 382 Abs. 1 StPO). Auf die form- und fristgerecht erhobene Beschwerde (Art. 396 Abs. 1 StPO) ist einzutreten.
3.
3.1 Sicherheitshaft ist gemäss Art. 221 Abs. 1 StPO zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens Vergehens dringend verdächtig ist (allgemeiner Haftgrund) und (u.a.) ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren der zu erwartenden Sanktion entzieht (sog. Fluchtgefahr; Bst. a). Überdies muss die Haft verhältnismässig sein (vgl. Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 3 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft [BV; SR 101], Art. 197 Abs. 1 Bst. c und d sowie Art. 212 Abs. 2 Bst. c StPO) und darf nicht länger dauern als die im Fall einer rechtskräftigen Verurteilung zu erwartende Freiheitsstrafe (Art. 212 Abs. 3 StPO). Das zuständige Gericht ordnet an Stelle der Sicherheitshaft eine mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 237 Abs. 1 StPO).
3.2 Gemäss Art. 231 Abs. 1 StPO entscheidet das erstinstanzliche Gericht mit dem Urteil, ob eine verurteilte Person zur Sicherung des Straf- und Massnahmenvollzugs (Bst. a) im Hinblick auf das Berufungsverfahren (Bst. b) in Sicherheitshaft zu setzen zu behalten ist. Das Gesetz nennt somit ausdrücklich zwei verschiedene Zielsetzungen, welchen die Sicherheitshaft nach dem erstinstanzlichen Urteil dienen soll. Dabei handelt es sich nicht um eigenständige Haftgründe; vielmehr werden damit die besonderen prozessualen Aspekte nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils mit Bezug auf die Haftgründe verdeutlicht (Frei/Zuberbühler Elsässer, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2020, N. 3 zu Art. 231 StPO; BGE 145 IV 503 E. 2.1 [= Pra 2020 Nr. 54], auch zum Folgenden). Der Regelung lässt sich entnehmen, dass es keine Rolle spielt, ob das Urteil allenfalls in Rechtskraft erwächst ob das Verfahren vor die nächste Instanz geht. Entscheidend ist, dass nach wie vor Haftgründe bestehen, wobei auch die Möglichkeit von Ersatzmassnahmen zu prüfen ist.
In Verbindung mit Art. 220 Abs. 2 StPO bildet Art. 231 StPO auch eine hinreichende strafprozessrechtliche Grundlage für die Anordnung der Haft zur Sicherstellung des Vollzugs einer erstinstanzlich ausgesprochenen Landesverweisung (BGE 143 IV 168 E. 3.2 f. [= Pra 2018 Nr. 36] mit Hinweisen; Frei/Zuberbühler Elsässer, a.a.O., N. 3a zu Art. 231 StPO). Droht neben einer freiheitsentziehenden Sanktion zusätzlich eine Landesverweisung, darf folglich auch ein angemessener behördlicher Zeitbedarf für die Vorbereitung des Vollzugs der Landesverweisung bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der Haftdauer mitberücksichtigt werden (BGE 143 IV 168 E. 5.2 [= Pra 2018 Nr. 36]; Urteile des Bundesgerichts 1B_586/2021 vom 11. November 2021 E. 2.3 und 1B_262/2018 vom 20. Juni 2018 E. 3.2).
4. Bei Vorliegen einer erstinstanzlichen Verurteilung ist der dringende Tatverdacht grundsätzlich gegeben (Urteil des Bundesgerichts 1B_392/2016 vom 17. November 2016 E. 2.2). Anhaltspunkte dafür, dass die Verurteilung wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz und Tätlichkeit klarerweise fehlerhaft und mit erheblicher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Korrektur im Berufungsverfahren zu erwarten wäre, liegen nicht vor (vgl. Urteile des Bundesgerichts 1B_28/2022 vom 9. Februar 2022 E. 3.1 und 1B_176/2018 vom 2. Mai 2018 E. 3.2). Der dringende Tatverdacht wird vom Beschwerdeführer denn auch nicht bestritten. Vielmehr dementiert er die Fluchtgefahr; eventualiter erachtet er Ersatzmassnahmen als ausreichend.
5.
5.1 Fluchtgefahr liegt gemäss Art. 221 Abs. 1 Bst. a StPO vor, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass sich die beschuldigte Person durch Flucht der Strafverfolgung der zu erwartenden Sanktion entzieht. Im Vordergrund steht dabei eine mögliche Flucht ins Ausland, denkbar ist aber auch ein Untertauchen im Inland (BGE 143 IV 160 E. 4.3; Urteile des Bundesgerichts 1B_379/2019 vom 15. August 2019 E. 6.1 und 1B_387/2016 vom 17. November 2016 E. 5, auch zum Folgenden). Bei der Bewertung, ob Fluchtgefahr besteht, sind die gesamten konkreten Verhältnisse zu berücksichtigen. Es müssen Gründe vorliegen, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Schwere der drohenden Strafe darf als Indiz für die Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen (BGE 125 I 60 E. 3a; Urteile des Bundesgerichts 1B_126/2012 und 1B_146/2012 vom 26. März 2012 E. 3.3.2). Vielmehr müssen die konkreten Umstände, insbesondere die gesamten Lebensverhältnisse der beschuldigten Person, in Betracht gezogen werden (vgl. zum Ganzen: BGE 143 IV 160 E. 4.3 mit Hinweisen). So ist es zulässig, die familiären und sozialen Bindungen der inhaftierten Person, deren berufliche Situation und Schulden sowie private und geschäftliche Kontakte ins Ausland und Ähnliches mit zu berücksichtigen (Forster, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 5 zu Art. 221 StPO; Urteile des Bundesgerichts 1B_541/2017 vom 8. Januar 2018 E. 3.2, 1B_150/2015 vom 12. Mai 2015 E. 3.1 und 1B_285/2014 vom 19. September 2014 E. 3.3). Auch psychische Auffälligkeiten, die auf eine besondere Neigung zu Impulsdurchbrüchen bzw. Kurzschlusshandlungen schliessen lassen, können das Fluchtrisiko erhöhen (BGE 123 I 268 E. 2e). Ein gewichtiges Indiz für Fluchtgefahr stellen auch unklare Wohn- und Arbeitsverhältnisse dar (Frei/Zuberbühler Elsässer, a.a.O., N. 17 zu Art. 221 StPO). Selbst bei einer befürchteten Reise in ein Land, welches die beschuldigte Person grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw. stellvertretend verfolgen könnte, ist die Annahme von Fluchtgefahr nicht ausgeschlossen. Die Wahrscheinlichkeit einer Flucht nimmt in der Regel mit zunehmender Verfahrensbzw. Haftdauer ab, da sich auch die Dauer des allenfalls noch zu verbüssenden strafrechtlichen Freiheitsentzugs mit der bereits geleisteten prozessualen Haft, die auf die mutmassliche Freiheitsstrafe anzurechnen wäre (Art. 51 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs [StGB; SR 311.0]), kontinuierlich verringert (BGE 143 IV 160 E. 4.3, je mit Hinweisen; ferner zum Ganzen: BGE 145 IV 503 E. 2.2 [= Pra 2020 Nr. 54] und Urteil des Bundesgerichts 1B_476/2021 vom 23. September 2021 E. 3.1).
5.2 Das Regionalgericht führte unter Verweis auf die früheren Haftentscheide des Regionalen Zwangsmassnahmengerichts Oberland ARR 21 99 vom 10. Dezember 2021 resp. ARR 21 93 vom 24. November 2021 aus, dass angesichts der ausgesprochenen Freiheitsstrafe und der Landesverweisung einerseits und der fehlenden Bindung des Beschwerdeführers zur Schweiz andererseits nach wie vor die Gefahr bestehe, dass sich der Beschwerdeführer im Fall einer Haftentlassung im Hinblick auf den Strafvollzug ins Ausland absetzen in der Schweiz untertauchen würde. Der Beschwerdeführer stamme aus Afghanistan und sei erst im Jahr 2015 in die Schweiz eingereist. Sein Asylantrag sei abgelehnt und er sei rechtskräftig aus der Schweiz weggewiesen worden. Die ihm bis am 10. Dezember 2019 angesetzte Ausreisefrist habe er nicht wahrgenommen. Der Beschwerdeführer halte sich somit rechtswidrig in der Schweiz auf. Er verfüge hier weder über eine Arbeitsstelle noch über Verwandte (mit Ausnahme einer in St. Gallen lebenden Schwester). Er sei der deutschen Sprache kaum mächtig und eine Bindung zur Schweiz scheine nahezu inexistent. Pandemiebedingte Reisebeschränkungen seien aktuell nicht resp. kaum mehr vorhanden. In Anbetracht der ausgesprochenen Strafe erweise sich die Verlängerung der Sicherheitshaft ausserdem als verhältnismässig.
5.3 Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Folgerung des Regionalgerichts, wonach er sich im Fall einer Haftentlassung ins Ausland absetzen in der Schweiz untertauchen würde. Hierfür bestünden keine konkreten Anhaltspunkte. Das Gegenteil sei der Fall. Er möchte in der Schweiz bleiben, weshalb er denn auch hinsichtlich der angeordneten Landesverweisung Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil angemeldet habe. Der im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids noch zu vollziehende Teil der unbedingt ausgesprochenen Teilstrafe (ausmachend 23 Tage) stelle keinen Fluchtanreiz dar. Gleiches gelte betreffend die verfügte Landesverweisung. Seine Prozessaussichten stünden gut, dass diese oberinstanzlich nicht bestätigt werde. Immerhin habe das Staatssekretariat für Migration (nachfolgend: SEM) mit Blick auf die Lage in Afghanistan seine Wegweisungspraxis bezüglich Rückführungen nach Afghanistan dahingehend angepasst, dass afghanischen Staatsangehörigen die vorläufige Aufnahme gewährt werde. Auch betreffend ihn habe das SEM zwischenzeitlich mit Entscheid vom 3. März 2022 wegen Unzumutbarkeit des Vollzugs der gegen ihn verfügten Wegweisung die vorläufige Aufnahme verfügt. Ausserdem habe das Zürcher Obergericht im letzten Jahr in einem ähnlich gelagerten Fall resp. aufgrund der Tatsache, dass angesichts der langandauernden Krisensituation in Afghanistan in absehbarer Zeit keine Veränderung der Lage zu erwarten sei, auf einen Härtefall erkannt (Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich SB180499 vom 28. Januar 2021). Er habe den dringenden Wunsch, sich in der Schweiz zu integrieren und finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Die Integration sei bereits teilweise erfolgt. Bis zum abschlägigen Asylentscheid (August 2018) sei er einer Arbeitstätigkeit nachgegangen. Seither sei ihm dies jedoch untersagt gewesen. Auch sein Verständnis der deutschen Sprache sei besser als vom Regionalgericht angenommen, was sich anlässlich der Einvernahmen und der Hauptverhandlung gezeigt habe. So sei die Übersetzerin im Hinblick auf die Urteilseröffnung entlassen worden, da klar gewesen sei, dass er die Ausführungen des Gerichts verstehen werde. Seine Familienmitglieder würden nicht mehr in Afghanistan sein, sondern lebten hier (eine Schwester) seien auf dem Weg in die Schweiz (Mutter und zwei weitere Geschwister würden sich auf der Flucht und derzeit in der Türkei befinden). Hier in der Schweiz habe er verschiedene Freunde. So unter anderem Landsleute, die in der Schweiz erwerbstätig seien und ihn unterstützen würden, und Schweizer, die er vom Sport her kenne. Auch wenn er hier nicht über enge Bindungen verfüge, so sei doch ersichtlich, dass er gut Tritt gefasst habe. Ausserdem habe sein Verhalten im Rahmen des Asylverfahrens gezeigt, dass er nicht untertauchen würde. So sei er nach der rechtskräftigen Wegweisung zum Ausreisegespräch erschienen.
5.4 Die Beschwerdekammer vermag gestützt auf die Akten und insbesondere mit Blick auf die erstinstanzlich ausgesprochene Sanktion keine konkreten Anhaltspunkte dafür zu erkennen, dass sich der Beschwerdeführer im Fall einer Haftentlassung durch Flucht Untertauchen der ihm erstinstanzlich auferlegten Strafe dem Berufungsverfahren entziehen würde.
Das Regionalgericht verurteilte den Beschwerdeführer zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 14 Monaten, wovon sieben Monate zu vollziehen sind, sowie zu einer Landesverweisung von sechs Jahren. Liegt bereits ein richterlicher Entscheid über das Strafmass vor, stellt dieser ein wichtiges Indiz für die mutmassliche Dauer der tatsächlich zu verbüssenden Strafe dar (BGE 143 IV 160 E. 4.1 und E. 4.3; vgl. auch Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern BK 20 157 vom 27. April 2020 E. 4.5). Insoweit ist festzuhalten, dass die unbedingt zu vollziehende Teilstrafe von sieben Monaten per 24. März 2022 vollzogen sein wird (der Beschwerdeführer wurde am 25. August 2021 verhaftet). Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass die Staatsanwaltschaft Anschlussberufung erklären wird und damit im Berufungsverfahren – bezogen auf die unbedingt zu vollziehende (Teil-) Strafe – rein theoretisch auch eine höhere Strafe ausgesprochen werden könnte. Damit dies im Haftverfahren indes berücksichtigt werden kann, bedarf es einer erheblichen Wahrscheinlichkeit, dass klar ein höheres Strafmass droht. Davon kann vorliegend angesichts der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft erstinstanzlich eine bedingte Strafe verlangt hat, nicht gesprochen werden (vgl. ferner auch das zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehene Urteil des Bundesgerichts 6B_1498/2020 vom 29. November 2021). Die hier erstinstanzlich ausgesprochene Freiheitstrafe stellt somit keinen Fluchtanreiz dar. Gleiches gilt für die angeordnete Landesverweisung. Selbst wenn diese im Berufungsverfahren bestätigt werden sollte, vermag dies ungeachtet der persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers keine konkrete Fluchtgefahr zu begründen. Vor diesem Hintergrund müssen die Prozesschancen des Beschwerdeführers bezüglich oberinstanzlichen Absehens von einer Landesverweisung nicht näher geprüft werden. Zum einen lässt das Verhalten des Beschwerdeführers im Asylverfahren resp. sein Erscheinen zum Ausreisegespräch darauf schliessen, dass er trotz drohender Abschiebung Behördentermine wahrnimmt. Das Risiko, dass er sich durch Flucht Untertauchen einer Berufungsverhandlung entziehen würde, muss haftrechtlich als unbedeutend bezeichnet werden, zumal er mit Blick auf die Erlöschungsgründe einer vorläufigen Aufnahme (siehe Art. 83 Abs. 9 des Ausländer- und Integrationsgesetzes [AIG; BSG 142.20], wonach eine vorläufige Aufnahme erlischt, wenn eine rechtskräftige Landesverweisung ausgesprochen worden ist) ein grosses Interesse an der Teilnahme im Berufungsverfahren hat. Zum anderen sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass eine Landesverweisung in absehbarer Zeit vollzogen worden könnte. Gemäss Schreiben des SEM vom 17. Januar 2022 kann nicht mit einer baldigen Wiederaufnahme von Rückführungen nach Afghanistan gerechnet werden. Selbst wenn die Landesverweisung rechtskräftig und der Beschwerdeführer den Status der vorläufigen Aufnahme verlieren würde, könnte er nicht zurückgeführt werden. Weshalb der Beschwerdeführer, der immer wieder sein Interesse am Verbleib in der Schweiz bekräftigt hat, wegen der erstinstanzlich ausgesprochenen Sanktion fliehen untertauchen sollte, ist für die Beschwerdekammer nicht erkennbar, zumal er durch Flucht Untertauchen eben gerade das von ihm angemeldete Berufungsverfahren gefährden würde.
Zwar trifft zu, dass der Beschwerdeführer beruflich nicht als integriert betrachtet werden kann. Dies erstaunt aber auch nicht, durfte er doch nach dem abschlägigen Asylentscheid und der verfügten Wegweisung keiner Arbeitstätigkeit mehr nachgehen. Er macht jedoch – was unbestritten geblieben ist – geltend, davor einer Arbeit nachgegangen zu sein. Aufgrund der mittlerweile verfügten vorläufigen Aufnahme hat der Beschwerdeführer – zumindest solange keine rechtskräftige Landesverweisung vorliegt – nicht nur Anspruch auf Sozialhilfe, sondern es ist ihm auch wieder gestattet, eine Arbeitstätigkeit auszuüben (Art. 85a Abs. 1 i.V.m. Art. 83 Abs. 9 AIG; ferner Art. 53 Abs. 5 AIG, wonach die kantonalen Sozialhilfebehörden vorläufig aufgenommene Personen bei der öffentlichen Arbeitsvermittlung melden). Es kann sein, dass der Beschwerdeführer (wieder) eine Arbeit findet und sich vielleicht so von Sozialhilfeleistungen wird lösen können.
Der Beschwerdeführer räumt ein, nicht über eine enge Bindung zur Schweiz zu verfügen. Dies vermag aber ebenfalls kein konkretes Fluchtrisiko zu begründen. Seine Schwester lebt in der Schweiz und verfügt über einen Ausweis für vorläufig Aufgenommene. Die Beziehung zu ihr ist intakt resp. wird gepflegt, was sich auch aus ihren Gefängnisbesuchen ableiten lässt. Seine Mutter und die beiden anderen Geschwister haben Afghanistan ebenfalls verlassen und versuchen scheinbar, in die Schweiz zu gelangen. Der Beschwerdeführer lebt seit sieben Jahren in der Schweiz, weshalb durchaus möglich ist, dass er über die von ihm geltend gemachten sozialen Kontakte verfügt. Dass sein diesbezügliches soziales Netz ihn unterstützen würde, mag sein, ist aber nicht belegt. Auch dies schadet vorliegend indes nicht, hat der Beschwerdeführer doch Anspruch auf Unterstützung der Sozialhilfebehörden. Und schliesslich ist festzuhalten, dass diverse Hinweise dafür bestehen, dass sich der Beschwerdeführer Grundkenntnisse der deutschen Sprache angeeignet hat und es ihm möglich ist, sich im Alltag zu verständigen (vgl. etwa Verzicht auf Übersetzung der Urteilsbegründung; ferner Protokoll der Hauptverhandlung vom 1. März 2022 S. 7 Z. 14 [pag. 383], wonach er keine Übersetzung benötige und alles verstanden habe; ferner Einvernahme vom 7. Juli 2021, welche ohne Übersetzung erfolgt ist [pag. 107 ff., insbesondere pag. 108 Z. 4]).
5.5 Gestützt auf das Ausgeführte ist somit nicht ernsthaft zu befürchten, dass sich der Beschwerdeführer – mit Staatsangehörigkeit Afghanistan und vorläufiger Aufnahme in der Schweiz – durch Flucht Untertauchen dem Vollzug der Sanktion dem Berufungsverfahren entziehen wird.
6. Nach dem Gesagten erweist sich die Belassung in Sicherheitshaft mangels Vorliegens besonderer Haftgründe als nicht rechtens. Im Lichte dessen erübrigen sich Ausführungen zum Eventual- (Haftverkürzung resp. Entlassung per 25. März 2022) und Subeventualbegehren (Haftkürzung und Entlassung unter Anordnung von Ersatzmassnahmen). Die Beschwerde ist gutzuheissen. Der Beschwerdeführer ist umgehend aus der Sicherheitshaft zu entlassen.
7.
7.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Kosten des Beschwerdeverfahrens, bestimmt auf CHF 1‘500.00, vom Kanton Bern zu tragen (Art. 423 Abs. 1 i.V.m. Art. 428 Abs. 1 StPO). Das Regionalgericht hat im Zusammenhang mit der Haftanordnung keine separaten Verfahrenskosten ausgeschieden, weshalb die Beschwerdekammer nicht über vorinstanzliche Kosten zu befinden hat (vgl. Art. 428 Abs. 3 StPO).
7.2 Die amtliche Entschädigung für die Aufwendungen im Beschwerdeverfahren wird am Ende des Hauptverfahrens festgesetzt. Es besteht für die auszurichtende amtliche Entschädigung weder eine Rückzahlungspflicht noch ein Nachforderungsrecht (Art. 135 Abs. 4 Bst. a und b StPO). Über eine vorinstanzliche Entschädigung der amtlichen Verteidigerin muss nicht befunden werden. Soweit ersichtlich sind der amtlichen Verteidigerin mit Blick auf die Anordnung der Sicherheitshaft keine separaten Aufwendungen entstanden. Jedenfalls kann dem Protokoll der Hauptverhandlung nichts Gegenteiliges entnommen werden und auch die amtliche Verteidigerin stellt keine diesbezüglichen Anträge.
Die Beschwerdekammer in Strafsachen beschliesst:
1. Vom Verzicht auf eine Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft, vertreten durch Staatsanwalt C.__, vom 15. März 2022 sowie des Verzichts auf eine Stellungnahme des Regionalgerichts Oberland vom 15. März 2022 wird Kenntnis genommen und gegeben.
2. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der vorinstanzliche Haftentscheid resp. Ziff. VI./1. des Urteils des Regionalgerichts Oberland vom 1. März 2022 (PEN 21 458-460) wird aufgehoben. Der Beschwerdeführer ist unverzüglich durch das Regionalgericht Oberland aus der Sicherheitshaft zu entlassen.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens, bestimmt auf CHF 1‘500.00, trägt der Kanton Bern.
4. Die amtliche Entschädigung für das Beschwerdeverfahren wird am Ende des Verfahrens durch das urteilende Gericht festgesetzt. Es besteht für die auszurichtende amtliche Entschädigung weder eine Rückzahlungspflicht noch ein Nachforderungsrecht.
5. Zu eröffnen:
• dem Beschuldigten/Beschwerdeführer, a.v.d. Rechtsanwältin B.__
(per Einschreiben; vorab per E-Mail)
• dem Regionalgericht Oberland, Gerichtspräsidentin D.__
(mit den Akten – per Einschreiben; vorab per Fax)
• Staatsanwalt C.__, Regionale Staatsanwaltschaft Oberland
(per Einschreiben; vorab per Fax)
Mitzuteilen:
• dem Regionalgefängnis Thun (nur per Fax)
• der Generalstaatsanwaltschaft (per Kurier; vorab per Fax)
Bern, 22. März 2022
Im Namen der Beschwerdekammer
in Strafsachen
Der Präsident i.V.:
Oberrichter Schmid
Die Gerichtsschreiberin:
Beldi
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Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Zustellung beim Bundesgericht, Av. du Tribunal fédéral 29, 1000 Lausanne 14, Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 39 ff., 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG; SR 173.110) geführt werden. Die Beschwerde muss den Anforderungen von Art. 42 BGG entsprechen.