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Urteil Rekursgericht im Ausländerrecht (AG)

Zusammenfassung des Urteils AGVE 2006 80: -

In dem vorliegenden Fall ging es um eine Beschwerde gegen ein Urteil des Einzelgerichts im summarischen Verfahren am Bezirksgericht Horgen vom 21. Mai 2013 bezüglich Rechtsöffnung. Der Gesuchsteller hatte definitive Rechtsöffnung für einen Betrag von Fr. 4'699.- nebst Zins und Betreibungskosten verlangt, was von der Vorinstanz gutgeheissen wurde. Der Gesuchsgegner legte daraufhin Beschwerde ein, die jedoch als unbegründet erachtet und abgewiesen wurde. Die Verfahrenskosten in Höhe von Fr. 300.- wurden dem Gesuchsgegner auferlegt. Der Richter war Dr. R. Klopfer.

Urteilsdetails des Kantongerichts AGVE 2006 80

Kanton:AG
Fallnummer:AGVE 2006 80
Instanz:-
Abteilung:Rekursgericht im Ausländerrecht
- Entscheid AGVE 2006 80 vom 15.08.1987 (AG)
Datum:15.08.1987
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:AGVE 2006 80 S.383 2006 Beschwerden gegen Einspracheentscheide des Migrationsamts 383 II. Beschwerden gegen Einspracheentscheide...
Schlagwörter : Familie; Familien; Interesse; Familienleben; Familiennachzug; Tochter; Recht; Eltern; Ausland; Schweiz; Tuquabo; Interessen; Eingriff; Bewilligung; Ausländer; Familiennachzugs; Heimat; Urteil; Rechtsprechung; Aufenthalt; Verweigerung; Migrationsamt; Mutter; Kinder; Entscheid; Ausländerrecht; Rekursgericht
Rechtsnorm:Art. 8 EMRK ;
Referenz BGE:109 Ib 183; 120 Ib 1; 126 II 335; 129 II 11;
Kommentar:
-

Entscheid des Kantongerichts AGVE 2006 80

2006 Beschwerden gegen Einspracheentscheide des Migrationsamts 383

II. Beschwerden gegen Einspracheentscheide des
Migrationsamts



80 Familiennachzug; Recht auf Achtung des Familienlebens gemäss Art. 8 EMRK Verweigerung des Familiennachzuges ist i.c. gemäss nationalem Recht nicht zu beanstanden. Hingegen verstösst sie gegen Art. 8 EMRK (Erw. II./6.-7.). Der Frage, ob es den Betroffenen zumutbar ist, das Familienleben im Ausland zu führen, kommt eine wesentliche Bedeutung zu (Erw. II./6.1.). Ein Betroffener kann sich auch dann auf Art. 8 EMRK berufen, wenn das nachzuziehende Kind im Laufe des Verfahrens volljährig geworden ist (Erw. II./6.2.). Die Verweigerung des Familiennachzuges führt nur dann zum Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Rechtsgut, wenn es den Betroffenen unzumutbar ist, das Familienleben im Ausland zu führen (Erw. II./6.3.). Liegt ein Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Rechtsgut vor, ist im Rahmen einer Interessenabwägung zu prüfen, ob der Eingriff auf- grund eines überwiegenden öffentlichen Interesses gerechtfertigt ist (Erw. II./6.4.).

Aus dem Entscheid des Rekursgerichts im Ausländerrecht vom 12. September 2006 in Sachen M.Y. betreffend Familiennachzug (1-BE.2005.54).
Sachverhalt

A. Der Beschwerdeführer reiste am 15. August 1987 in die Schweiz ein. Am 27. Februar 1998 heiratete er eine Schweizer Bürgerin. Aus dieser Ehe ging ein Sohn, geb. 12. Januar 1999, hervor. Seit Oktober 2002 besitzt der Beschwerdeführer das Schweizer Bürgerrecht.
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Am 5. Juni 2003 reichte der Beschwerdeführer beim ersten Zivilgericht von Konya Klage auf Feststellung der elterlichen Gewalt betreffend seine Tochter aus einer früheren Beziehung, geb. 12. Mai 1987, ein. Die Klage wurde mit Urteil vom 22. Dezember 2003 gutgeheissen und dem Beschwerdeführer die elterliche Gewalt über seine in der Heimat lebende Tochter übertragen. Mit Eingabe vom 14. September 2004 stellte der Beschwerdeführer ein Gesuch um Familiennachzug für seine Tochter. Mit Verfügung vom 1. Dezember 2004 lehnte das Migrationsamt, Sektion Einreise und Arbeit, das Gesuch um Familiennachzug ab. B. Dagegen erhob der Beschwerdeführer am 21. Dezember 2004 beim Rechtsdienst des Migrationsamtes (Vorinstanz) Einsprache, welche durch die Vorinstanz am 24. August 2005 abgewiesen wurde. C. Mit Eingabe vom 19. Oktober 2005 erhob der Beschwerdeführer gegen den vorinstanzlichen Entscheid Beschwerde.
Aus den Erwägungen

II. 6. Zu prüfen bleibt, ob die Verweigerung des Familiennachzugs vor Art. 8 EMRK standhält. 6.1.1. Dabei ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR), insbesondere das Urteil vom 1. Dezember 2005 in Sachen Tuquabo-Tekle u.a. gegen die Niederlande (Application Nr. 60665/00 [Fall Tuquabo]), zu beachten. In jenem Fall reichten die Mutter und deren Ehemann 1997 in den Niederlanden ein Nachzugsgesuch für die 1981 aus erster Ehe geborene Tochter ein. Diese lebte seit der Flucht der Mutter im Jahre 1989 bei ihrer Grossmutter mütterlicherseits in Äthiopien (heute Eritrea). Die Mutter erhielt im Jahre 1990 in Norwegen eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen, holte nach Bewilligung des Familiennachzugs im Jahre 1991 ihren ältesten Sohn zu sich und übersiedelte nach ihrer Heirat im Jahre 1993 zusammen mit ihrem Sohn zu ihrem Ehemann in die Niederlande. Sie gebar dort 1994 und 1995 zwei weitere Kinder. Der ganzen Familie wurde die niederländische
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Staatsangehörigkeit erteilt. Da die niederländischen Behörden den Nachzug verweigerten, riefen die Mutter und ihr Ehemann zusammen mit der Tochter am 12. Juli 2000 den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an. Dieser kam fünf Jahre später zum Schluss, die niederländischen Behörden hätten keine faire Abwägung zwischen den Interessen der Beschwerdeführer auf der einen und den Interessen des Staates auf Kontrolle der Zuwanderung auf der anderen Seite vorgenommen, weshalb die Verweigerung des Nachzugs eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstelle. 6.1.2. In einer Besprechung des Entscheides Tuquabo durch Marc Spescha in der Anwaltsrevue 4/2006, S. 144 ff., gelangt dieser zum Schluss, das Hauptaugenmerk sei beim Nachzug von Kindern im Hinblick auf Art. 8 EMRK darauf zu richten, ob es den Eltern zumutbar sei, ihre neue Heimat zu verlassen und die Familienvereinigung im Ausland zu vollziehen. Bei genauer Analyse hat der EGMR jedoch die Verletzung von Art. 8 EMRK nicht allein damit begrün- det, dass es den Eltern unzumutbar war, die Niederlande zu verlassen, sondern damit, dass die niederländischen Behörden keine adäquate Interessenabwägung vorgenommen hätten (Tuquabo, § 52: "Having regard to the above, the court finds that the respondent State has failed to strike a fair balance between the applicants' interests on the one hand and its own interest in controlling immigration on the other."). Neben der Frage der Zumutbarkeit, das Familienleben im Ausland zu führen, wurden weitere private Interessen geprüft und dem öffentlichen Interesse an einer Bewilligungsverweigerung gegenüber gestellt. 6.1.3. Für die Beurteilung einer allfälligen Verletzung von Art. 8 EMRK kommt der Frage, ob es den Betroffenen zumutbar ist, das Familienleben im Ausland zu führen, dennoch eine besondere, doppelte jedoch nicht allein entscheidende - Bedeutung zu. Steht fest, dass ein durch Art. 8 Ziff. 1 EMRK geschütztes Familienleben vorliegt (was nach dem Fall Tuquabo auch dann der Fall sein kann, wenn das nachzuziehende Kind im Entscheidzeitpunkt das 18. Altersjahr bereits überschritten hat) und wird das Familienleben tangiert (was z.B. nicht der Fall wäre, wenn ein Kind bereits vorläufig aufgenommen wurde und nun den Erhalt einer Aufenthaltsoder
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Niederlassungsbewilligung anstrebt), kann sich ein Betroffener auf Art. 8 EMRK berufen, womit eine materielle Prüfung vorzunehmen ist. Der Frage der Zumutbarkeit, das Familienleben im Ausland zu führen, kommt insofern eine doppelte Bedeutung zu, als zunächst zu prüfen ist, ob überhaupt ein Eingriff in das geschützte Familienleben vorliegt. Ist es den Betroffenen zumutbar, die Familienzusammenführung im Ausland vorzunehmen, liegt von vornherein keine Verletzung von Art. 8 EMRK vor, da ein Eingriff in das geschützte Familienleben zu verneinen ist. Steht jedoch fest, dass es den Betroffenen nicht zumutbar ist, das Familienleben im Ausland zu führen, liegt ein Eingriff in das durch Art. 8 Ziff. 1 EMRK geschützte Familienleben vor. In diesem Fall ist gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRK weiter zu prüfen, ob der Eingriff gesetzlich vorgesehen und verhältnismässig ist. Dabei ist wie vom EGMR gefordert eine Interessenabwägung vorzunehmen. Das heisst, es sind anhand der durch den EGMR festgelegten Kriterien und Massstäbe das öffentliche Interesse insbesondere an einer geregelten Zuwanderungskontrolle - und die privaten Interessen an einem intakten Familienleben bzw. am Nachzug des Kindes zu quantifizieren und einander gegenüber zu stellen. Die Verweigerung der Familienzusammenführung hält nur dann vor Art. 8 EMRK stand, wenn das öffentliche Interesse überwiegt, wobei die Unzumutbarkeit, das Familienleben im Ausland zu führen, bei der Interessenabwägung als gewichtiges privates Interesse zu berücksichtigen ist. Die Prüfung der Zumutbarkeit, das Familienleben im Ausland zu führen, beantwortet also nicht nur die Frage, ob überhaupt ein Eingriff in das geschützte Familienleben vorliegt, sondern ist gegebenenfalls zusätzlich als Teil des privaten Interesses zu berücksichtigen, weshalb der Zumutbarkeitsfrage eine doppelte Bedeutung zukommt. Sie ist jedoch nicht allein entscheidend, da dem Familiennachzug trotz Unzumutbarkeit, das Familienleben im Ausland zu führen, einerseits gewichtigere öffentliche Interessen entgegenstehen können. Andererseits kann das private Interesse an einem Familiennachzug durchaus aufgrund weiterer Umstände erhöht werden. 6.1.4. Der EGMR hat verschiedentlich eine Verletzung von Art. 8 EMRK mit der Begründung verneint, es sei den Betroffenen zumutbar, das Familienleben im Ausland zu führen. Auch im Fall
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Gül hatte der EGMR in der Verweigerung des nachträglichen Familiennachzugs keine Verletzung von Art. 8 EMRK gesehen. Er hielt fest, dass es beim Familiennachzug nicht nur um das Familienleben, sondern auch um Immigration gehe. Im Weiteren verpflichte der Schutz des Familienlebens gemäss Art. 8 EMRK einen Staat nicht dazu, die Zusammenführung der Familie auf seinem Territorium zu bewilligen (Fall Gül, § 38). Unter dieser Prämisse prüfte der EGMR, ob im konkreten Fall die Bewilligung des Familiennachzugs die einzige Möglichkeit sei, ein Familienleben zu führen. Er kam jedoch zum Schluss, dass den um Nachzug ersuchenden Eltern trotz langer Anwesenheitsdauer im Gastland keine Hindernisse im Wege standen, in ihr Herkunftsland zurückzukehren (Fall Gül, § 39-42). Gleich argumentierte der EGMR im Urteil i.S. Benamar gegen die Niederlande vom 5. April 2005 (Application Nr. 43786/04; S. 7 f.), im Urteil I.M. gegen die Niederlande vom 25. März 2003 (Application Nr. 41266/98, S. 7 f.) und im Urteil Chandra u.a. gegen die Niederlande vom 13. Mai 2003 (Application Nr. 53102/99, S. 7 f.). Bei genauer Betrachtung liegt in all diesen Fällen gar kein Eingriff in das geschützte Familienleben vor, da die Familienzusammenführung auch im Ausland erfolgen konnte. 6.1.5. Das Bundesgericht scheint den Aspekt der Unzumutbarkeit, das Familienleben im Ausland zu führen, bereits in seinem wegleitenden Reneja-Entscheid (BGE 109 Ib 183) berücksichtigt zu haben. Allerdings nicht unter dem Titel "Eingriff in ein geschütztes Rechtsgut", sondern bei der Frage, ob sich jemand überhaupt auf Art. 8 EMRK berufen könne. Das Bundesgericht erwog, dass ein Berufen auf Art. 8 EMRK nur zulässig sei, wenn der in der Schweiz Anwesende über ein Anwesenheitsrecht verfüge. Das Bundesgericht wörtlich: "Ferner kann die Nichterneuerung der Aufenthaltsbewilligung eines Familiengliedes das in Art. 8 EMRK gewährleistete Familienleben nur dann berühren, wenn ein anderer Familienangehöriger über ein Anwesenheitsrecht in der Schweiz verfügt. Dies ist vor allem bei der Schweizer Bürgerin der Fall, die einen Ausländer geheiratet hat, dann aber auch bei einem Ausländer einer Ausländerin, die über eine Niederlassungsbewilligung in der Schweiz verfügt." (BGE 109 Ib 183, E. 2a,
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S. 186). Trotz dieser ursprünglich offenen Formulierung bezüglich Aufenthaltsstatus des hier Anwesenheitsberechtigten wurde die Zulässigkeit einer Berufung auf Art. 8 EMRK später auf jene Anwesenheitsberechtigte beschränkt, die über ein so genannt gefestigtes Anwesenheitsrecht verfügten. Begründet wurde dies damit, dass keine Person mehr Rechte übertragen kann, als ihr selbst zustehen (BGE 126 II 335, E. 2a, S. 340 sowie Uebersax in: Uebersax/Münch/ Geiser/Arnold, Ausländerrecht, Rz. 5.157). Diese Beschränkung steht jedoch weder im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR noch überzeugt sie. Art. 8 EMRK verschafft nach konstanter Lehre und (bundesgerichtlicher) Rechtsprechung keinen Anspruch auf Erteilung einer bestimmten Aufenthaltsbewilligung. Ein allfälliger Eingriff in ein geschütztes Familienleben wird bereits dadurch beseitigt, dass die betroffenen Familienangehörigen hier zusammenleben können. Inwiefern ein hier anwesendes Familienmitglied einem anderen Familienmitglied dabei mehr Rechte übertragen sollte als es selbst besitzt, ist nicht ersichtlich. Der ursprüngliche Beweggrund des Bundesgerichts, es könne sich nur derjenige auf Art. 8 EMRK berufen, der ein Anwesenheitsrecht besitze, dürfte ein anderer gewesen sein. Verfügt jemand über kein Anwesenheitsrecht in der Schweiz, wird es ihm in vielen Fällen zumutbar sein, die Schweiz wieder zu verlassen und die Familienzusammenführung im Ausland zu vollziehen. Das Bundesgericht ging wohl ursprünglich davon aus, dass unter diesen Umständen von Vornherein kein Eingriff in das geschützte Familienleben vorliegen könne ("..., das in Art. 8 EMRK gewährleistete Familienleben nur dann berühren ..."), weshalb es damals die Berufungsmöglichkeit auf Art. 8 EMRK von einem Anwesenheitsrecht abhängig machte. Der so verstandene Reneja-Entscheid stellt damit eine pragmatische, wenn auch nicht alle Aspekte berücksichtigende Lösung der Frage dar, ob überhaupt ein Eingriff in das Familienleben vorliegt. Nachdem aber der Problematik der Zumutbarkeit der Zusammenführung der Familie im Ausland wie bereits dargelegt sowohl im Hinblick auf die Frage, ob ein Eingriff in das geschützte Familienleben vorliegt als auch, ob dieser verhältnismässig ist, eine derart zentrale Bedeutung zukommt, darf deren Überprüfbarkeit nicht vom Bestehen
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eines (gefestigten) Anwesenheitsrechts abhängig gemacht werden. Vielmehr ist der Aufenthaltsstatus der hier anwesenden, sich auf Art. 8 EMRK berufenden Person im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit der Ausreise aus der Schweiz und Familienzusammenführung im Ausland zu berücksichtigen. 6.2. Im vorliegenden Fall stellt sich zunächst die Frage, ob sich der Beschwerdeführer überhaupt auf Art. 8 EMRK berufen kann. 6.2.1. Art. 8 Ziff. 1 EMRK garantiert den Schutz des Familienlebens. Grundsätzlich umfasst der Schutzbereich von Art. 8 EMRK neben der eigentlichen Kernfamilie (Beziehungen zwischen Ehegatten sowie zwischen Eltern und minderjährigen Kindern) auch die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern sowie die Beziehung zwischen Geschwistern. In ausländerrechtlichen Fällen gewährleistet Art. 8 Ziff. 1 EMRK gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte das Familienleben ausserhalb der Kernfamilie jedoch nur dann, wenn eine faktische Familieneinheit vorliegt, die zusätzliche Elemente einer Abhängigkeit aufweist, die über normale, gefühlsmässige Verbindungen hinausgehen (vgl. hierzu Niccolò Raselli / Christina Hausammann, in: Uebersax/Münch/Geiser/Arnold, Ausländerrecht, Rz. 13.65). Für die Beurteilung, ob es um den Nachzug eines Erwachsenen eines Jugendlichen geht, war gemäss bisheriger Praxis des Bundesgerichts auf die aktuellen Gegebenheiten und demnach auf den Zeitpunkt des jeweiligen Urteils abzustellen. Sofern das nachzuziehende Kind im Laufe des Verfahrens volljährig wurde, liess das Bundesgericht eine Berufung auf Art. 8 EMRK nur noch zu, wenn eine besondere Abhängigkeit zwischen Eltern und Kind nachgewiesen wurde (BGE 129 II 11, E. 2 mit weiteren Verweisen). In diesem Zusammenhang ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Tuquabo zu beachten. Der EGMR bejahte eine Verletzung von Art. 8 EMRK, obwohl das nachzuziehende Kind das 18. Altersjahr bereits überschritten hatte, als das national letztinstanzlich entscheidende Gericht sein Urteil fällte. Im Zeitpunkt des Urteils des EGMR war das nachzuziehende Kind gar 24 Jahre alt. Dabei wurde von der klagenden Partei weder geltend gemacht, das nachzuziehende Kind sei trotz fortge-
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schrittenen Alters von der Mutter abhängig, noch war eine solche Abhängigkeit ersichtlich. Aufgrund des EGMR-Entscheides ist deshalb inskünftig davon auszugehen, dass betreffend Alter des nachzuziehenden Kindes auf den Zeitpunkt der Gesuchseinreichung und nicht auf den Entscheidzeitpunkt abzustellen ist. Davon geht auch die Vorinstanz in ihrer unaufgefordert eingereichten Stellungnahme vom 19. Juni 2006 zum Fall Tuquabo aus (S. 5, Ziff. 3.5). Unter Beachtung der Rechtsprechung des EGMR erweist sich damit die langjährige schweizerische Praxis, wonach sich die Betroffenen bei einem Nachzug eines über 18-jährigen Kindes nur dann auf Art. 8 EMRK berufen können, wenn eine faktische Familieneinheit besteht, die zusätzliche Elemente einer Abhängigkeit aufweist, welche über normale, gefühlsmässige Verbindungen hinausgehen, als zu restriktiv. In casu war die Tochter des Beschwerdeführers bei Gesuchseinreichung 17 Jahre und 4 Monate alt. Sie ist deshalb bei der nachfolgenden Beurteilung, ob der Schutzbereich von Art. 8 EMRK tangiert ist, als minderjährig zu betrachten. 6.2.2. Im Weiteren ist zu prüfen, ob zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter ein durch Art. 8 EMRK geschütztes Familienleben besteht. Der EGMR anerkennt, dass das biologische Verhältnis eines Elternteils zu seinem Kind für sich allein eine von Art. 8 EMRK geschützte familiäre Beziehung darstellt, die durch Ereignisse nach der Geburt des Kindes nur ausnahmsweise gebrochen werden kann (vgl. Urteil des EGMR i.S. Gül gegen die Schweiz vom 19. Februar 1996, Application Nr. 23218/94, § 32). Zwischen einem Kind und seinen Eltern besteht damit ohne weiteres ein Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK. Dies gilt unabhängig davon, ob die Eltern im Zeitpunkt der Geburt des Kindes noch zusammenleben ob ihre Beziehung geendet hat (Urteil i.S. Keegan gegen Irland vom 26. Mai 1994, Serie A, Nr. 290, § 44) und unter Umständen selbst dann, wenn die Eltern eines Kindes überhaupt nie einen gemeinsamen Haushalt geführt haben (Urteil i.S. Kroon u.a. gegen die Niederlande vom 27. Oktober 1994, Serie A, Nr. 297-C, § 30). Die Tochter des Beschwerdeführers ist am 10. Mai 1987 geboren. Der Beschwerdeführer war zum damaligen Zeitpunkt nicht ver-
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heiratet und pflegte offenbar auch keine nähere Beziehung zur Kindsmutter. Seine Tochter wurde bald nach der Geburt den Eltern des Beschwerdeführers zur Pflege übergeben, welche sie aufgezogen haben. Die Kindsmutter war danach an der Erziehung und Pflege, abgesehen von gelegentlichen Kontakten, nicht beteiligt. Dem entspricht auch das Urteil des ersten Zivilgerichts Konya vom 22. Dezember 2003, welches dem Beschwerdeführer, nachdem er auf Feststellung der elterlichen Gewalt geklagt hatte, das Sorgerecht über seine Tochter zusprach. Die Tochter des Beschwerdeführers hat sich demzufolge immer in seinem Familienkreis aufgehalten, wobei er sie finanziell unterstützte, regelmässig persönlichen Kontakt zu ihr pflegte und in sämtliche Entscheidungen betreffend seine Tochter involviert war. Insofern rechtfertigt es sich, trotz des Umstandes, dass die Tochter des Beschwerdeführers nicht in eine Ehe geboren worden ist und ihre Eltern nie einen gemeinsamen Haushalt führten, davon auszugehen, dass zwischen ihr und dem Beschwerdeführer ein Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK besteht und dass sie aufgrund ihrer Minderjährigkeit bei Gesuchseinreichung zur Kernfamilie des Beschwerdeführers zu zählen ist. 6.2.3. Nachdem der Entscheid der Vorinstanz betreffend Verweigerung des Nachzugs der Tochter des Beschwerdeführers sein durch Art. 8 Ziffer 1 EMRK geschütztes Familienleben tangiert und auch das Alter der Tochter keinen Hinderungsgrund darstellt, steht ausser Zweifel, dass sich der Beschwerdeführer auf Art. 8 EMRK berufen kann. 6.3. Nachfolgend ist zu klären, ob die Verweigerung des Familiennachzugs effektiv zu einem Eingriff in das durch Art. 8 Ziff. 1 EMRK geschützte Familienleben führt, was nicht der Fall wäre, wenn es den Betroffenen zumutbar ist, das Familienleben im Ausland zu führen. Der Beschwerdeführer reiste im August 1987 in die Schweiz ein und lebt seitdem hier. Im Februar 1998 heiratete er eine Schweizer Bürgerin und knapp ein Jahr später kam sein Sohn zur Welt. Der Beschwerdeführer hält sich seit bald 20 Jahren rechtmässig in der Schweiz auf und hat inzwischen gar das Schweizer Bürgerrecht erworben. Sein Sohn ist in der Schweiz geboren und lebt seither hier.
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Dieser hat, wenn überhaupt, nur eine minimale Bindung zum Herkunftsland seines Vaters. Unter diesen Umständen ist es offensichtlich, dass eine Übersiedlung des Beschwerdeführers mit seiner hiesigen Teil-Familie in sein Herkunftsland nicht nur mit der Überwindung grosser Hindernisse verbunden wäre, sondern schlichtweg unzumutbar ist. 6.4. Nachdem ein Eingriff in das durch Art. 8 Ziff. 1 EMRK geschützte Familienleben vorliegt, stellt sich weiter die Frage, ob der Eingriff mit Art. 8 Ziff. 2 EMRK vereinbar ist. Gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRK ist ein Eingriff in das von Ziff. 1 geschützte Rechtsgut statthaft, sofern er gesetzlich vorgesehen ist und eine Massnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und Moral sowie der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. 6.4.1. Als notwendige Massnahme kommt vorliegend primär eine solche zum (wirtschaftlichen) Wohl des Landes in Frage. Es ist abgesehen von möglichen Integrationsproblemen aufgrund des fortgeschrittenen Alters - nicht ersichtlich, inwiefern andere in Art. 8 Ziff. 2 EMRK genannte Teilaspekte des öffentlichen Interesses tangiert sein könnten. Bereits in BGE 120 Ib 1 (Pra 84 [1995] Nr. 4) hielt das Bundesgericht fest, die Schweiz verfolge gegenüber Auslän- dern in der Frage der Aufenthaltsberechtigung eine restriktive Politik. Sie tue dies insbesondere zum Schutze eines ausgewogenen Gleichgewichts im Bestand der schweizerischen und ausländischen Wohnbevölkerung. Ausserdem bezwecke sie damit eine Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt sowie die Sicherung einer möglichst ausgeglichenen Beschäftigung (Art. 16 Abs. 1 ANAG, Art. 1 der Verordnung über die Begrenzung der Zahl der Ausländer [BVO] vom 6. Oktober 1986). Zwar hat die schweizerische Ausländerpolitik seit 1995 gegenüber gewissen Staatsangehörigen eine Anpassung erfahren (Dreikreise-Modell, Zweikreise-Modell, Freizügigkeitsabkommen etc.). Trotzdem besteht die vorgängig umschriebene Politik insbesondere für die aus der Türkei nachzuziehende Tochter weiter.
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Die restriktive Politik der Schweiz gegenüber Ausländern in der Frage der Aufenthaltsberechtigung entspricht damit einem zulässigen öffentlichen Interesse im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK. 6.4.2. Ob im Einzelfall gestützt auf Art. 8 EMRK eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen ist, ist aufgrund der Abwägung aller zu beachtenden öffentlichen und privaten Interessen zu entscheiden. Das Rekursgericht ging bis anhin in Fällen wie dem vorliegenden davon aus, dass für die Interessenabwägung auf die entsprechenden Erwägungen zu Art. 17 Abs. 2 ANAG verwiesen werden kann (so noch im Entscheid des Rekursgerichtes vom 3. März 2006, 1-BE.2005.47, E. II/4.). Die Rechtsprechung des EGMR betreffend nachträglichen Familiennachzug lässt an dieser Praxis indessen Zweifel aufkommen, weshalb nachfolgend zu prüfen ist, ob an der bisherigen Praxis festgehalten werden kann. Zunächst gilt es zu beachten, dass die nationale Gesetzgebung in Bezug auf die Familiennachzugsregelung andere Ziele verfolgt als Art. 8 EMRK. Die nationale Gesetzgebung bestimmt, unter welchen Voraussetzungen ein Familiennachzugsgesuch bewilligt werden kann und ob darauf gegebenenfalls ein Anspruch besteht. Normiert wird damit die Zuwanderung in die Schweiz zu einem hier lebenden Familienmitglied. Demgegenüber bezweckt Art. 8 EMRK lediglich den Schutz des Familienlebens an sich, wobei nicht entscheidend ist, ob das familiäre Zusammenleben in der Schweiz im Ausland erfolgt. Art. 8 EMRK begründet damit nur insoweit einen Anspruch auf Aufenthalt in der Schweiz, als eine Verweigerung zu einer gänzlichen Verhinderung des familiären Zusammenlebens und damit zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen würde. Bei der Beurteilung eines Familiennachzugsgesuches nach nationaler Gesetzgebung stellt sich überdies die Frage, ob das Familienleben auch im Ausland geführt werden könnte, gar nicht. Denn selbst wenn das Familienleben auch im Ausland geführt werden könnte, dürfte der Nachzug nicht verweigert werden, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen für den Nachzug erfüllt sind. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliegt, haben die nationalen Behörden und Gerichte die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen. In Bezug auf die
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Verhältnismässigkeitsprüfung bedeutet dies, dass sowohl hinsichtlich der für die Beurteilung der öffentlichen und privaten Interessen entscheidenden Kriterien als auch der anzuwendenden Gewichtungen auf die Urteile des EGMR insoweit abzustellen ist, als dieser den nationalen Verwaltungsund Justizbehörden nicht einen entsprechenden Beurteilungsspielraum belässt. 6.4.3. Betreffend Interessenabwägung im Falle eines nachträglichen Familiennachzugs führt der EGMR aus, dass der Umfang der Verpflichtung eines Staates, Angehörigen von Einwanderern den Aufenthalt zu gestatten, von der Situation der Personen wie auch vom Allgemeininteresse abhängt. Entsprechend einem allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsatz und vorbehaltlich seiner vertraglichen Verpflichtungen hat ein Staat das Recht, die Einreise von Nichtstaatsangehörigen in sein Gebiet einer Kontrolle zu unterwerfen. Ausserdem kann in Einwanderungsangelegenheiten nicht davon ausgegangen werden, dass Art. 8 EMRK einem Staat die allgemeine Verpflichtung auferlegt, die Wahl der Ehepaare hinsichtlich eines Landes für ihre gemeinsame Niederlassung anzuerkennen und die Zusammenführung der Familie auf seinem Staatsgebiet zu erlauben (was selbstredend auch für einen Elternteil gilt). Für die Feststellung des Umfangs der Verpflichtung eines Staates, ein Familiennachzugsgesuch zu bewilligen, sind das Alter der betroffenen Kinder, die Situation in ihrer Heimat und die Abhängigkeit von ihren Eltern zu berücksichtigen (Urteil i.S. en gegen Niederlande vom 21. Dezember 2001, Application Nr. 31465/96 [Fall en], § 36; Fall Tuquabo, § 43 mit weiteren Hinweisen). Bezüglich der massgeblichen Kriterien zur Interessenabwägung prüft der EGMR im Wesentlichen dieselben Kriterien wie das Bundesgericht (vgl. hierzu E. II, 2.3). Hingegen fehlt im Vergleich zur Rechtsprechung des Bundesgerichts im EGMR-Urteil Tuquabo jeglicher Hinweis darauf, dass der Nachzug durch einen Elternteil anders zu beurteilen wäre, als der Nachzug durch beide Eltern. Vielmehr ging der EGMR bei der Beurteilung eines nachträglichen Familiennachzugs durch die verwitwete Mutter von einer Sachlage aus, die hinsichtlich der massgeblichen Kriterien im Wesentlichen mit derjenigen im Fall en vergleichbar sei, wo die Ablehnung eines durch
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beide Eltern gemeinsam gestellten Familiennachzugsgesuchs für eine Tochter als Verletzung von Art. 8 EMRK qualifiziert wurde (Fall Tuquabo, § 47). Diese Gleichstellung ist wohl darauf zurückzuführen, dass der EGMR auch nicht traditionelle Familienformen unter den Schutz von Art. 8 EMRK stellt. Ebenfalls hält es der EGMR in Abweichung von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung offenbar nicht für entscheidend, ob die Eltern ihre Kinder freiwillig im Heimatland zurückgelassen haben. Er führt diesbezüglich aus, dass Eltern, welche ihre Kinder bei einer Niederlassung im Ausland im Heimatland zurücklassen, nicht entgegengehalten werden darf, sie hätten unwiderruflich entschieden, dass diese Kinder für immer im Herkunftsland bleiben sollen und jeglichen Gedanken an eine spätere Zusammenführung der Familie aufgegeben (Fall en, § 40, Fall Tuquabo, § 47). Betreffend die Wahl des Zeitpunkts des Nachzugs hob der EGMR im Fall Tuquabo zwar hervor, dass die Mutter bereits erfolglos versucht hatte, ihre Tochter im Alter von 9 Jahren nachzuziehen, hielt diese Nachzugsbemühungen indes nicht für ausschlaggebend (Fall Tuquabo, § 51). Im Weiteren steht auch ein fortgeschrittenes Alter des nachzuziehenden Kindes einem Familiennachzug nicht entgegen. Im Fall Tuquabo, bei dem der Nachzug einer fast 16-jährigen Tochter beurteilt wurde, kam der EGMR zum Schluss, das fortgeschrittene Alter rechtfertige gegenüber dem Fall en, wo es um den Nachzug eines 9-jährigen Kindes ging, keine andere Würdigung. Betreffend die Verwurzelung des Kindes im Heimatland sowie die dortige Betreuungssituation stellte der EGMR im Fall Tuquabo fest, dass die Tochter aufgrund ihres Alters sprachlich und kulturell stark mit dem Heimatland verwurzelt war und dass nicht geltend gemacht wurde, die Verwandten könnten sie im Heimatland nicht mehr betreuen. Hingegen wurde ausgeführt, dass es für die Tochter aufgrund ihres Alters angemessener sei, bei ihrer Mutter zu wohnen. Begrün- det wurde dies im konkreten Fall damit, dass die Tochter durch die betreuende Grossmutter nicht mehr zur Schule geschickt worden sei, weil sie im Heimatland in heiratsfähigem Alter war. Die Mutter war damit nicht einverstanden, konnte jedoch aufgrund ihrer Abwesenheit nichts dagegen unternehmen (Fall Tuquabo, § 50).
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Der EGMR hat im Fall Tuquabo zusammengefasst ausgeführt, dass die Mutter ihre Tochter allenfalls freiwillig im Heimatland zurückgelassen habe. Ebenfalls wurde festgestellt, dass die Tochter bei Gesuchseinreichung bereits 15 Jahre alt war, von Verwandten aufgezogen wurde und seit mehreren Jahren von der Mutter getrennt lebte. Im Weiteren hielt der EGMR fest, dass die Tochter sprachlich und kulturell im Heimatland stark verwurzelt, eine Betreuung durch die Verwandten weiterhin möglich und ein Verbleib im Heimatland zumutbar war. Bei einer derartigen Sachlage wäre gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ein Anspruch auf Familiennachzug mangels faktisch vorrangiger familiärer Beziehung sowie Notwendigkeit zu verneinen. Demgegenüber gelangte der EGMR trotz dieser (an sich gegen einen Nachzug sprechenden) Argumente zum Schluss, der Familiennachzug müsse bewilligt werden. Der Entscheid im Fall Tuquabo lässt keinen anderen Schluss zu, als dass der EGMR der Frage, ob es der um Nachzug ersuchenden Partei zumutbar ist, das Familienleben auch im Heimatland aufzubauen, grosse, wenn nicht gar zentrale, Bedeutung zumisst und im Falle einer Unzumutbarkeit von einem dementsprechend sehr grossen privaten Interesse an der Bewilligung des Familiennachzugs ausgeht. In den Fällen en sowie Tuquabo erachtete es der EGMR für die um Nachzug ersuchende Partei als unzumutbar, ihre jeweilige Familie im Herkunftsland zusammenzuführen. Im Fall en wurde argumentiert, die Eltern lebten seit Jahren rechtmässig im Gastland und hätten dort zwei weitere Kinder geboren, welche, wenn überhaupt, nur wenig Bezug zum Herkunftsland hätten. Im Fall Tuquabo hatte die Mutter im Gastland erneut geheiratet und aus zweiter Ehe zwei weitere Kinder geboren, welche ebenfalls keinen nennenswerten Bezug zum Herkunftsland hatten. Überdies hatte die Mutter in der Zwischenzeit gar die Staatsbürgerschaft des Gastlandes erworben. Aus diesen Gründen kam der EGMR in beiden Fällen zum Schluss, dass die Bewilligung des Nachzugs der Entwicklung eines Familienlebens am Besten gerecht werde bzw. eine Zusammenführung der Familie im Ausland für die Betroffenen unzumutbar wäre und auch keine überwiegenden öffentlichen, insbesondere migrationspolitische, Inte-
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ressen gegen die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung sprechen würden. Zusammenfassend ergibt sich, dass der EGMR bei Anwendung von Art. 8 EMRK nicht zwischen intakten und getrennten Familien unterscheidet. Weiter verlangt er weder eine vorrangige Beziehung noch einen Nachweis zwingender Gründe für die Änderung der Betreuung. Auch fortgeschrittenes Alter, Verwurzelung im Heimatland sowie lange Dauer des Getrenntlebens stehen gemäss EGMR einem Familiennachzug nicht entgegen. Ausschlaggebend ist zum einen die Anerkennung, dass die Beziehung Eltern Elternteil zum Kind bereits eine Bindung schafft, die als Familienleben zu bezeichnen ist und welche durch spätere Ereignisse für gewöhnlich nicht gebrochen wird (Fall Gül, § 32; Fall en, § 28) und zum anderen, dass es der um Nachzug ersuchenden Partei nicht zumutbar ist, ins Herkunftsland zurückzukehren (Fall en, § 40 f.; Fall Tuquabo, § 47 f.). Der EGMR geht mit anderen Worten davon aus, dass eine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliegt, wenn die um Nachzug ersuchende Partei, der eine Rückkehr ins Heimatland unter Würdigung ihrer gesamten Lebensumstände nicht zugemutet werden kann, vor die Wahl gestellt wird, entweder das in der neuen Heimat Erarbeitete aufzugeben ihre Kinder getrennt von ihr aufwachsen zu lassen (Fall en, § 41). Ohne dies explizit zu erwähnen, erachtet der EGMR das öffentliche Interesse an der Bewilligungsverweigerung, welches einzig darin bestand, das (wirtschaftliche) Wohl des Landes sicherzustellen, gegenüber den privaten Interessen als weniger gewichtig. 6.4.4. Bei Prüfung und Gegenüberstellung der öffentlichen und privaten Interessen gilt es zudem Folgendes zu beachten. Wird ein Kriterium wie zum Beispiel die Notwendigkeit des Nachzugs eines Kindes - untersucht, ist zunächst festzuhalten, ob dieses als Aspekt des öffentlichen Interesses an der Bewilligungsverweigerung als privates Interesse an der Bewilligungserteilung betrachtet wird. Bei den meisten Kriterien liegt die Zuteilung auf der Hand. Ergibt die konkrete Prüfung, dass entweder das öffentliche Interesse an einer Bewilligungsverweigerung das private Interesse an einer Bewilligungserteilung erhöht wird, ist dies in der Gesamtabwägung entsprechend zu berücksichtigen. Ergibt die konkrete Prüfung jedoch,
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dass sich kein erhöhtes Interesse ableiten lässt, bleibt das Kriterium unberücksichtigt. Insofern ist auch verständlich, wenn der EGMR im Fall Tuquabo verschiedene potentielle private Interessen überprüft und diese als nicht entscheidrelevant bezeichnet. Selbst wenn sich z.B. der Familiennachzug aus Sicht des Kindes als nicht notwendig erweist, bedeutet dies einzig, dass sich aus dem Kriterium der Notwendigkeit nichts im Hinblick auf eine Erhöhung der privaten Interessen ableiten lässt. Dies ist solange nicht relevant, als aufgrund anderer privater Interessen an der Bewilligungserteilung kein überwiegendes öffentliches Interesse an der Bewilligungsverweigerung resultiert. Klarzustellen ist, dass für die Zulässigkeit der Bewilligungsverweigerung ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verweigerung bestehen muss und nicht erforderlich ist, dass für ein erfolgreiches Berufen auf Art. 8 EMRK ein überwiegendes privates Interesse nachgewiesen wird. Dies geht direkt aus Art. 8 Ziff. 2 EMRK hervor, denn eine zu ergreifende Massnahme kann nur dann als notwendig bezeichnet werden, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an ihrer Durchsetzung besteht. 6.5. Im vorliegenden Fall steht fest, dass dem Beschwerdeführer nicht zugemutet werden kann, die Schweiz zwecks Familienzusammenführung mit seiner Tochter zu verlassen und in sein Herkunftsland zurück zu kehren. Die Verweigerung des Familiennachzugs würde somit zu einer (weiter andauernden) Trennung des Beschwerdeführers und seiner Tochter führen, weshalb von einem sehr grossen privaten Interesse an der Bewilligung des Familiennachzugsgesuches auszugehen ist. Das gegenüberstehende öffentliche Interesse an der Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung resultiert wie in den Fällen en und Tuquabo einzig in der Sicherstellung des (wirtschaftlichen) Wohles des Landes. Zwar ist dieses grundsätzlich zweifellos erheblich. Als "abstraktes" öffentliches Interesse hat es jedoch gegenüber konkreten privaten Interessen in den Hintergrund zu treten. Dies umso mehr, als mit einer geeigneten Migrationspolitik das wirtschaftliche Wohl des Landes genauso gut sichergestellt werden kann, ohne gegen die EMRK zu verstossen. Nicht in den Hintergrund treten müsste das öffentliche Interesse dann, wenn die Bewilligungsverweigerung z.B. aus der Straffälligkeit eines Betroffenen resultierte
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und es darum ginge, die öffentliche Sicherheit vor einer konkreten Bedrohung zu schützen. Weitere Umstände, welche hier auf ein erhöhtes öffentliches Interesse an der Bewilligungsverweigerung hindeuten würden, sind weder ersichtlich noch werden solche durch die Vorinstanz angeführt. 6.6. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR besteht damit im vorliegenden Fall kein überwiegendes öffentliches Interesse an der Bewilligungsverweigerung. 7. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Verweigerung des Familiennachzugs gemäss nationalem Recht nicht zu beanstanden ist. Hingegen verstösst sie gegen Art. 8 EMRK. Es stellt sich demnach die Frage, in welchem Verhältnis das nationale Recht zum Völkerrecht steht. Wenn Bestimmungen des nationalen Rechts dem Völkerrecht widersprechen, geht das Völkerrecht grundsätzlich vor. Nationales Recht hat gegenüber entgegenstehendem Völkerrecht nur dann Vorrang, wenn der Gesetzesgeber völkerrechtswidriges Landesrecht ausdrücklich in Kauf genommen hat. Landesrecht gilt im Weiteren nur dann als völkerrechtswidrig, wenn es nicht völkerrechtskonform ausgelegt werden kann. Der in casu analog anwendbare Art. 17 Abs. 2 ANAG besagt, dass ledige Kinder unter 18 Jahren Anspruch auf Einbezug in die Niederlassungsbewilligung der Eltern haben, wenn sie mit ihnen zusammenwohnen. Diese Bestimmung ist - nach konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichts - dem Wortlaut nach zwar auf den Nachzug von Kindern durch beide Elternteile zugeschnitten. Sie verbietet indes weder eine weitergehende Bewilligung von Familiennachzügen noch widerspricht sie dem Wortlaut von Art. 8 EMRK dessen Auslegung durch den EGMR. Eine völkerrechtskonforme Auslegung von Art. 17 Abs. 2 ANAG ist daher ohne Weiteres möglich, weshalb im konkreten Fall nicht von völkerrechtswidrigem Landesrecht gesprochen werden kann. 8. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK gutzuheissen, da in casu die Familienzusammenführung ausserhalb der Schweiz unzumutbar ist und für den mit der Bewilligungsverweigerung verbunde-
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nen Eingriff in das Familienleben kein überwiegendes öffentliches Interesse besteht. Ein Berufen auf Art. 8 EMRK kann dem Beschwerdeführer zudem auch aufgrund des im Laufe des Verfahrens überschrittenen 18. Altersjahrs der Tochter nicht verwehrt werden. Das Migrationsamt ist unter diesen Umständen anzuweisen, das Familiennachzugsgesuch zu bewilligen und den Aufenthalt der Tochter des Beschwerdeführers zu regeln.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

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