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Bundesverwaltungsgericht Urteil F-5211/2021

Urteilsdetails des Bundesverwaltungsgerichts F-5211/2021

Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung VI
Dossiernummer:F-5211/2021
Datum:07.01.2022
Leitsatz/Stichwort:Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren)
Schlagwörter : Recht; Dublin; Beschwerdeführende; Beschwerdeführenden; Gespräch; Vorinstanz; Rechtsvertreter; Dublin-Gespräch; Gespräche; Vorladung; Dublin-Gespräche; SEM-act; Gehör; Zustellung; Rechtsvertretung; Verfahren; Bundes; Urteil; Kroatien; Praxiskommentar; Vertretung; Wegweisung; Bundesverwaltungsgericht; Rechtsvertreters; Verbeiständung; Anspruch; Verzicht; önlich
Rechtsnorm: Art. 11 VwVG ;Art. 29 BV ;Art. 48 VwVG ;Art. 52 VwVG ;Art. 61 VwVG ;Art. 63 VwVG ;Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:118 III 10; 131 I 185; 131 I 18; 132 V 443; 137 I 195; 137 IV 33; 144 I 11; 144 I 253; 144 IV 302; 144 IV 57
Kommentar:
-

Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung VI F-5211/2021

U r t e i l v o m 7 . J a n u a r 2 0 2 2

Besetzung Richter Gregor Chatton (Vorsitz), Richter Walter Lang,

Richterin Regula Schenker Senn, Gerichtsschreiber Mathias Lanz.

Parteien 1. A. , und die Ehefrau,

2. B. , sowie die Kinder, 3. C. ,

4. D. ,

Beschwerdeführende,

alle vertreten durch Maître Hüsnü Yilmaz,

gegen

Staatssekretariat für Migration SEM,

Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Gegenstand Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren).

Sachverhalt:

A.

Die Beschwerdeführenden 1-4 sind türkische Staatsangehörige kurdischer Ethnie. Sie reisten 1994 aus der Türkei aus und hielten sich daraufhin ihren eigenen Angaben zufolge bis Anfang April 2021 im Irak auf. Am 30. Mai 2021 reisten sie in die Schweiz ein, wo sie gleichentags ein Asylgesuch stellten (vgl. Akten der Vorinstanz [SEM-act.] 1 ff.). Ein Abgleich der Fingerabdrücke mit der "Eurodac"-Datenbank ergab, dass die Beschwerdeführerin 2 am 18. April 2021 in Kroatien und am 24. Mai 2021 in Slowenien um Asyl nachsuchte (vgl. SEM-act. 30 f.). Mangels unzureichender Qualität der Fingerabdrücke konnte für den Beschwerdeführer 1 ein solcher Abgleich bis anhin nicht erfolgen.

B.

Am 14. Juni 2021 nahm die Vorinstanz die Personalien der Beschwerdeführenden 1-4 auf (vgl. SEM-act. 33 f.).

C.

Die Beschwerdeführenden 1-4 verzichteten am 16. Juni 2021 auf eine unentgeltliche Rechtsvertretung durch einen Leistungserbringer (vgl. SEMact. 37 ff.). Stattdessen mandatierten sie am 23. Juni 2021 den aktuellen Rechtsvertreter, der das Vertretungsverhältnis am 28. Juni 2021 der Vorinstanz anzeigte (vgl. SEM-act. 44).

D.

Am 21. Juli 2021 gewährte die Vorinstanz den Beschwerdeführenden 1 und 2 rechtliches Gehör, unter anderem zur Zuständigkeit Kroatiens für die Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens, zum beabsichtigten Nichteintretensentscheid sowie zur Wegweisung in diesen Dublin-Mitgliedstaat (vgl. SEM-act. 49 und 51). Der mandatierte Rechtsvertreter nahm an den Dublin-Gesprächen nicht teil.

E.

Am 22. Juli 2021 ersuchte die Vorinstanz die kroatischen Behörden in Anwendung von Art. 11 und Art. 18 Abs. 1 Bst. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (nachfolgend: Dublin-III-VO) um Aufnahme des

Beschwerdeführers 1, respektive um Wiederaufnahme der Beschwerdeführenden 2-4 (vgl. SEM-act. 53 f.).

F.

Die Vorinstanz stellte dem Rechtsvertreter am 23. Juli 2021 die Protokolle der persönlichen Gespräche der Beschwerdeführenden 1 und 2 vom

21. Juli 2021 zu (vgl. SEM-act. 57). Dieser monierte daraufhin mit Schreiben vom 26. Juli 2021, keine Vorladung zu den Dublin-Gesprächen erhalten zu haben. Die an einen anderen Rechtsanwalt, respektive Konsulenten in seiner Kanzlei erfolgte elektronische Zustellung der Vorladung sei ihm nicht weitergeleitet worden. Die Dublin-Gespräche seien deshalb nicht rechtskonform gewesen und müssten wiederholt werden (vgl. SEMact. 58).

G.

Am 28. Juli 2021 stimmten die kroatischen Behörden der Wiederaufnahme der Beschwerdeführenden 1-4 gestützt auf Art. 18 Abs. 1 Bst. c Dublin-IIIVO zu (vgl. SEM-act. 59 und 62).

H.

Die Vorinstanz gewährte dem Rechtsvertreter am 30. Juli 2021 das rechtliche Gehör zur Zuständigkeit Kroatiens sowie zur beabsichtigten Wegweisung der Beschwerdeführenden 1-4 nach Kroatien. Gleichzeitig liess die Vorinstanz verlauten, das Dublin-Gespräch werde nicht wiederholt (vgl. SEM-act. 63).

I.

Mit Schreiben vom 9. August 2021 bestritt der Rechtsvertreter namens und im Auftrag der Beschwerdeführenden 1-4 erneut die Rechtmässigkeit der Dublin-Gespräche und forderte deren Wiederholung. Im Weiteren machte er geltend, die Aufnahmebedingungen und die Unterbringungssituation in Kroatien verstiessen gegen Art. 3 EMRK. Ausserdem sei die Einheit der Familie in Kroatien nicht gewährleistet, was gegen Art. 8 EMRK verstosse (vgl. SEM-act. 65).

J.

Die Beschwerdeführenden 1-4 wurden am 27. Oktober 2021 dem Kanton Aargau zugewiesen (vgl. SEM-act. 69).

K.

Am 24. November 2021 trat die Vorinstanz auf das Asylgesuch nicht ein, ordnete die Überstellung der Beschwerdeführenden 1-4 nach Kroatien an

und forderte sie auf, die Schweiz am Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist zu verlassen. Gleichzeitig wies die Vorinstanz darauf hin, dass einer allfälligen Beschwerde von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung zukomme, und beauftragte den Kanton Aargau mit dem Vollzug der Wegweisung (vgl. SEM-act. 76).

L.

Die Beschwerdeführenden 1 und 2 erhoben gegen den vorinstanzlichen Entscheid für sich und ihre Kinder am 30. November 2021 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Sie beantragten, die angefochtene Verfügung sei dahingehend abzuändern, dass die Schweiz für die Behandlung ihres Asylgesuches zuständig sei. Eventualiter sei die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache zu neuer Instruktion und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersuchten sie um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung in Form eines Verzichts auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Zudem sei ihnen Frist anzusetzen, um ergänzende Ausführungen und Beweismittel zu ihrem Gesundheitszustand ins Verfahren einzubringen (vgl. Akten des Bundesverwaltungsgerichts [BVGer-act.] 1).

M.

Am 1. Dezember 2021 lagen dem Bundesverwaltungsgericht die Akten in elektronischer Form vor und gleichentags setzte der Instruktionsrichter den Vollzug der Überstellung gestützt auf Art. 56 VwVG einstweilen aus (vgl. BVGer-act. 3).

N.

Der Instruktionsrichter erkannte der Beschwerde am 13. Dezember 2021 die aufschiebende Wirkung zu (vgl. BVGer-act. 4).

O.

Aus organisatorischen Gründen wurde für den bisherigen Instruktionsrichter der vorsitzende Richter im Spruchkörper aufgenommen.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG [SR 142.31]).

    2. Die Beschwerde ist zulässig (Art. 105 AsylG; Art. 31 ff. VGG). Die Beschwerdeführenden 1-4 sind zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 AsylG und Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die im Übrigen fristund formgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten (Art. 108 Abs. 3 AsylG und Art. 52 Abs. 1 VwVG).

    3. Gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG wurde vorliegend auf einen Schriftenwechsel verzichtet.

2.

Mit Beschwerde können die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige und unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).

3.

    1. Vorab zu prüfen ist die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 7.1). Die Beschwerdeführenden 1-4 machen geltend, die mit den Beschwerdeführenden 1 und 2 am 21. Juli 2021 geführten Dublin-Gespräche seien in unverschuldeter Abwesenheit ihres Rechtsvertreters erfolgt. Die Gespräche seien deshalb ungültig und müssten wiederholt werden.

    2. Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Der Gehörsanspruch schliesst das Recht ein, sich in einem (Asyl-) Verfahren auf eigene Kosten vertreten und verbeiständen zu lassen (Art. 11 Abs. 1 VwVG i.V.m. Art. 6 AsylG; Art. 29 VwVG; Art. 29 Abs. 2 BV; vgl. BGE 144 I 253 E. 3.5; 132 V 443 E. 3.3; 119 Ia 260 E. 6a; BERNHARD WALD-

      MANN/JÜRG BICKEL, in: Bernhard Waldmann/Philippe Weissenberger [Hrsg.], Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz [VwVG], 2. Aufl. 2016 [nachfolgend: Praxiskommentar VwVG], Art. 29 N. 98 ff.). Ausgeschlossen werden kann das Recht auf Vertretung und Verbeiständung nur, wenn persönliches Handeln erforderlich ist, für Bagatellfälle oder wenn Dringlichkeit einer Amtshandlung eine Vertretung oder Verbeiständung nicht zulässt (vgl. BGE 132 V 443 E. 3.5; VERA MARANTELLI/SAID HUBER,

      Praxiskommentar VwVG, Art. 11 N. 2; RENÉ RHINOW ET AL., Öffentliches Prozessrecht, 4. Aufl. 2021, Rz. 356 f.).

    3. Die Wahrnehmung der Mitwirkungsrechte setzt genügende Kenntnisse über den Verfahrensverlauf voraus, was auf das Recht hinausläuft, rechtzeitig und in geeigneter Weise über die entscheidwesentlichen Vorgänge und Grundlagen vorweg orientiert zu werden (vgl. BGE 144 I 11 E. 5.3; 140 I 99 E 3.4; WALDMANN/BICKEL, Praxiskommentar VwVG, Art. 29 N. 78; RENÉ RHINOW ET AL., RZ. 318). Das Anrecht auf gehörige und rechtzeitige Vorladung gilt für Parteien, und grundsätzlich auch für die Rechtsvertretung (vgl. BGE 131 I 185 E. 2.1; 112 Ia 5 E. 2c; MICHELE ALBERTINI, Der verfas-

      sungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staates, 2000, S. 351).

    4. Fest steht vorliegend, dass die Dublin-Gespräche der Beschwerdeführenden 1 und 2 vom 21. Juli 2021 in Abwesenheit ihres mandatierten Rechtsvertreters stattfanden. Seine Mandatierung hatte der Rechtsvertreter unter Vorlage der Vollmachten vom 23. Juni 2021 der Vorinstanz am

28. Juni 2021 angezeigt (SEM-act. 44). Das Dublin-Gespräch ist für die Beurteilung der Zuständigkeit gemäss Dublin-III-VO zur Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens sowie für die Prüfung allfälliger Hindernisse einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat von entscheidender Bedeutung (vgl. Art. 5 Dublin-III-VO; Art. 36 Abs. 1 AsylG; Art. 20b Abs. 1 der Asylverordnung 1 über Verfahrensfragen vom 11. August 1999

[AsylV 1, SR 142.311]; BVGE 2017 VI/5 E. 7.3; ULRICH KOEHLER, Praxis-

kommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem, 2018, Art. 5

  1. 1). Gründe für einen Ausschluss der Rechtsvertretung an den DublinGesprächen sind vorliegend weder erkennbar, noch werden solche seitens der Vorinstanz angeführt. Eine pandemiebedingte Abwesenheit des Rechtsvertreters steht ausser Diskussion (vgl. Art. 4 ff. der Verordnung vom

    1. April 2020 über Massnahmen im Asylbereich im Zusammenhang mit dem Coronavirus [Covid-19-Verordnung Asyl; SR 142.318]). Den Beschwerdeführenden 1 und 2 kam daher das Recht zu, sich während der Gehörsgewährung von einer selbst gewählten Rechtsvertretung unterstützen zu lassen (vgl. oben E. 3.2; Botschaft vom 3. September 2014 zur Änderung des Asylgesetzes [Neustrukturierung des Asylbereichs] [nachfolgend: Botschaft], in: BBl 2014 7991, 8089; siehe sinngemäss auch Art. 52c Abs. 2 AsylV 1).

4.

    1. Zu untersuchen ist, ob die Beschwerdeführenden 1-4 das ihnen zukommende Recht auf Mitwirkung ihres Rechtsvertreters an den Dublin-Gesprächen durch rechtsgültigen Verzicht auf dessen Teilnahme verwirkt haben.

    2. Asylsuchende Personen können auf eine Teilnahme der Rechtsvertretung am Dublin-Gespräch verzichten (vgl. BGE 144 I 253 E. 3.5; 132 V 443

      E. 3.3). Dies setzt genügend Kenntnisse über die aus dem rechtlichen Gehör fliessenden Ansprüche im Zusammenhang mit dem konkreten Verfahrensstand voraus und bedingt in gewissen Fällen, dass die Betroffenen über ihre Rechte informiert werden (vgl. BGE 131 I 18 E. 3.4; 118 Ia 17

      E. 1d; 101 Ia 309 E. 2b; WALDMANN/BICKEL, Praxiskommentar VwVG, Art. 29 N. 64; zum Recht auf Orientierung vgl. oben E. 3.3). Von einem (bewussten) Verzicht kann in der Regel dann ausgegangen werden, wenn das Verbeiständungsrecht trotz gehöriger und rechtzeitiger Mitteilung des Gesprächstermins nicht wahrgenommen wird (Art. 102j Abs. 2 AsylG sinngemäss).

    3. Die Vorinstanz stellte die Vorladung nicht dem mandatierten Rechtsvertreter zu, sondern sandte diese am 9. Juli 2021 an die E-Mail-Adresse eines anderen Rechtsanwalts, welcher in derselben Anwaltskanzlei wie der Rechtsvertreter arbeitet (vgl. SEM-act. 46). Die irrtümliche Zustellung der Vorladung räumte die Vorinstanz anlässlich der Übermittlung der DublinProtokolle am 23. Juli 2021 ein (vgl. SEM-act. 57). Der versehentlich angeschriebene Rechtsanwalt war von den Beschwerdeführenden 1-4 nicht bevollmächtigt.

    4. Im Zeitpunkt der Vorladung am 9. Juli 2021 befanden sich die Beschwerdeführenden 1-4 im Bundesasylzentrum […]. Gemäss Art. 12a Abs. 1 und Abs. 3 AsylG erfolgen die Eröffnung von Verfügungen und die Zustellung von Mitteilungen – eine Vorladung gilt als Mitteilung (vgl. MARANTELLI/HUBER, Praxiskommentar VwVG, Art. 11 N. 29) – in den Zentren des Bundes an die asylsuchenden Personen durch Aushändigung. Einer von ihnen bevollmächtigten Person ist die Eröffnung oder die Zustellung unverzüglich bekannt zu geben (Art. 12a Abs. 3 AsylG und Art. 3a AsylV 1).

    5. Nichts zur Sache tut vorliegend, dass der irrtümlich adressierte Rechtsvertreter an demselben Geschäftsdomizil tätig ist, wie der zustellungsberechtigte Vertreter. Eine Ersatzzustellung mit Wirkung einer Zustellung an den mandatierten Rechtsvertreter selbst (zur Ersatzzustellung vgl. PATRICIA EGLI, Praxiskommentar VwVG, Art. 20 N. 26), fällt vorliegend bereits deshalb ausser Betracht, weil diese einen erfolglosen Zustellungsversuch an die berechtigte Person voraussetzt (vgl. BGE 118 III 10 E. 3b; Urteil des BGer 5A_409/2019 vom 27. Januar 2020 E. 3.1; YVES DONZALLAZ, La no-

      tification en droit interne suisse, 2002, Rz. 825), und weil bei einer elektronischen Kommunikation hierfür kein Raum besteht (vgl. DONZALLAZ,

      Rz. 849). Mit der Zustellung der Vorladung in das elektronische Postfach eines am vorliegenden Verfahren nicht beteiligten Anwaltes gelangte die Mitteilung nicht in den Empfangsbereich des Rechtsvertreters (vgl. BGE 144 IV 57 E. 2.3.2; 142 III 599 E. 2.4.1; 122 I 139 E. 1). Die Vorinstanz

      ist ihrer Pflicht zur unverzüglichen Bekanntgabe der Vorladung vom 9. Juli 2021 zu den Dublin-Gesprächen am 21. Juli 2021 somit nicht nachgekommen.

    6. Die Zustellung der Vorladung an die Beschwerdeführenden 1 und 2 selbst dürfte hingegen rechtskonform (durch Aushändigung) erfolgt sein, zumal sie den Termin persönlich wahrnahmen (Art. 12a Abs. 1 und 3 AsylG und Art. 3a AsylV 1). Für die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist eine Zustellung der Vorladung nur an die Beschwerdeführenden 1 und 2 jedoch nicht hinreichend (vgl. FANNY MATTHEY, in: Cesla Amarelle/Minh Son Nguyen [Ed.], Code annoté de droit des migrations, Volume IV: Loi sur l'asile [LAsi], 2015, Art. 13 N. 13). Ihnen kommt nicht die Pflicht zu, dafür zu sorgen, dass ihre Vertretung von der Vorladung vom 9. Juli 2021 Kenntnis erhält. Es obliegt der Vorinstanz, eine Eröffnung oder Zustellung der Rechtsvertretung unverzüglich bekannt zu geben (Art. 12a Abs. 3 AsylG und Art. 3a AsylV 1). Die Beschwerdeführenden 1-4 durften daher grundsätzlich darauf vertrauen, dass die Vorinstanz ihrer Pflicht zur Bekanntgabe der Vorladung vom 9. Juli 2021 an den Rechtsvertreter nachkommt. Dies muss vorliegend umso mehr gelten, als die fragliche Vorladung – entsprechend einer Standardformulierung – von ihrem Wortlaut her an eine Rechtsvertretung gerichtet war (vgl. SEM-act. 45). Die rechtzeitige Mitteilung des Termins an die Beschwerdeführenden 1-4 führte vorliegend daher nicht dazu, dass sich diese nicht mehr auf eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör berufen können.

    7. Schliesslich kann den Beschwerdeführenden 1 und 2 kein rechtsgültiger Verzicht auf die Teilnahme ihres Rechtsbeistandes unterstellt werden, weil sie dessen fehlende Mitwirkung am Dublin-Gespräch erst am 26. Juli 2021 rügten. Aufgrund der damals offensichtlich noch nicht bekannten, versehentlichen Zustellung der Vorladung an eine Drittperson kann ihr passives Verhalten, insbesondere während der Dublin-Gespräche, nicht leichthin als Verzicht auf den Beistand ihrer Rechtsvertretung ausgelegt werden (vgl. BGE 137 IV 33 E. 9.2; WALDMANN/BICKEL, Praxiskommentar VwVG, Art. 29 N. 66). Ein trölerisches Verhalten kann weder den Beschwerdeführenden 1 und 2, noch dem Rechtsvertreter unterstellt werden, forderte dieser doch die Wiederholung des Dublin-Gespräches umgehend nach seiner

Information über die fehlgeleitete Vorladung. Von einem rechtsgültigen Verzicht auf die Teilnahme der Rechtsvertretung an den Dublin-Gesprächen vom 21. Juli 2021 oder der Verwirkung des Rechts auf Vertretung und Verbeiständung kann nicht ausgegangen werden.

5.

    1. Die Vorinstanz verletzte somit ihre Pflicht zur unverzüglichen Bekanntgabe der Zustellung einer Vorladung für die anstehenden Dublin-Gespräche und führte diese mit den Beschwerdeführenden 1 und 2 zu Unrecht in Abwesenheit des Rechtsvertreters durch. Der Anspruch auf rechtliches Gehör der Beschwerdeführenden 1-4 wurde in den Teilaspekten des Rechts auf Vertretung und Verbeiständung sowie des Rechts auf rechtzeitige Orientierung des Rechtsvertreters über den angesetzten Gesprächstermin verletzt.

    2. Fehl geht die Vorinstanz in der Annahme, mit der nachträglichen Gewährung des rechtlichen Gehörs am 30. Juli 2021 an den Rechtsvertreter dem Anspruch auf rechtliches Gehör Genüge getan zu haben. In Anwendung von Art. 5 Abs. 2 Bst. b Dublin-III-VO kann auf das persönliche Gespräch zwar verzichtet werden, wenn die Antragstellenden sämtliche sachdienlichen Angaben zur Bestimmung der Dublin-Zuständigkeit gemacht haben und ihnen Gelegenheit gegeben wurde, weitere Informationen dazu vorzulegen (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 7.4; Urteil des BVGer D-3233/2021 vom 21. Juli 2021 E. 4.3; Urteil des EuGH C-63/15 Ghezelbash vom 7. Juni 2016 Rn. 48; CHRISTIAN FILZWIESER/ANDREA SPRUNG, Dublin III-Verord-

nung, 2014, K4 zu Art. 5). Vorliegend waren die Voraussetzungen für einen Verzicht im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Bst. b Dublin-III-VO im Zeitpunkt der Durchführung des persönlichen Gesprächs am 21. Juli 2021 aber (noch) nicht gegeben. Das Recht auf Vertretung und Verbeiständung würde seines Sinnes entleert und umgangen, könnte die Vorinstanz statt der Durchführung des persönlichen Gesprächs unter Mitwirkung einer Rechtsvertretung diese wahlweise zu einer (nachträglichen) schriftlichen Stellungnahme anhalten (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 7.2; Urteil des BVGer F-4465/2021 vom 15. Oktober 2021).

6.

    1. Wurde der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, stellt sich die Frage nach den Folgen.

    2. Die vorliegend unterlassene Vertretung und Verbeiständung infolge Verletzung der behördlichen Pflicht zur unverzüglichen Bekanntgabe der

      Zustellung der Vorladungen vom 9. Juli 2021 an die Rechtsvertretung zieht die Ungültigkeit der Dublin-Gespräche vom 21. Juli 2021 nach sich (Art. 102j Abs. 2 AsylG sinngemäss; vgl. Urteil des BVGer E-3048/2018 vom 20. September 2018 E. 8.5.2; ALBERTINI, S. 450 ff.). Diese müssen wiederholt werden.

    3. Die Verletzung des Gehörsanspruchs führt aufgrund dessen formellen Charakters ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (vgl. BGE 144 IV 302 E. 3.1; 137 I 195 E. 2.2). Eine ausnahmsweise Heilung der Verletzung ist vorliegend nicht möglich. Mit der Wiederholung eines formell mangelhaften Dublin-Gespräches auf Beschwerdeebene ginge den Beschwerdeführenden 1-4 eine Instanz verloren. Zudem kann das Bundesverwaltungsgericht Entscheide im Asylbereich nicht auf ihre Angemessenheit überprüfen (vgl. BGE 137 I 195 E. 2.3.2; 133 I 201 E. 2.2; BVGE 2015/10 E. 7.1; 2008/47 E. 3.3.4). Die angefochtene Verfügung ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Durchführung des Dublin-Gespräches an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 61 Abs. 1 VwVG). Anschliessend wird diese die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens neu beurteilen (vgl. auch Urteile des EuGH C-647/16 Hassan vom 31. Mai 2018 Rn. 70; C-63/15 Rn. 48).

    4. Eine materielle Prüfung der Zuständigkeitskriterien gemäss der DublinIII-VO und allfälliger Überstellungshindernisse nach Kroatien durch das Gericht erübrigt sich bei dieser Rechtsfolge. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Wiederholung des Dublin-Gespräches nicht zwingend auch die Ungültigkeit des Aufnahme-, beziehungsweise Wiederaufnahmeverfahrens und die erneute Konsultation der kroatischen Behörden nach sich zieht (vgl. BVGE 2019 VI/7 E. 12.2; Urteile des BVGer F-4465/2021; F-72/2021 vom 2. Februar 2021 E. 7.4.2; D-2846/2020 vom 16. Juli 2020

E. 5.2.1). Darüber wird die Vorinstanz unter Berücksichtigung der zwischen Mitgliedstaaten geltenden Transparenzund Informationsvorschriften nach der Wiederholung des Dublin-Gespräches zu befinden haben. Die Begehren um Nachreichung medizinischer Unterlagen sowie ergänzender Ausführungen sind mit der Rückweisung der Sache gegenstandslos geworden.

7.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Den vertretenen und obsiegenden Beschwerdeführenden 1-4 ist zu Lasten der Vorinstanz eine Entschädigung für die ihr notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen (Art. 64 Abs. 1

VwVG; Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). Mangels Kostennote ist die Entschädigung vorliegend von Amtes wegen und aufgrund der Akten pauschal auf Fr. 660.– festzusetzen (Art. 8 ff. VGKE; Art. 14 Abs. 2 VGKE). Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung ist folglich gegenstandslos geworden.

8.

Dieses Urteil ist endgültig (Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2.

Die angefochtene Verfügung vom 24. November 2021 wird aufgehoben und die Sache zur neuerlichen Abklärung und Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4.

Die Vorinstanz wird verpflichtet, den Beschwerdeführenden 1-4 eine Parteientschädigung von Fr. 660.– zu bezahlen.

5.

Dieses Urteil geht an:

  • den Rechtsvertreter der Beschwerdeführenden 1-4 (Einschreiben)

  • das SEM, Abt. Dublin (Ref-Nr. N […])

  • das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau (in Kopie)

Der vorsitzende Richter: Der Gerichtsschreiber:

Gregor Chatton Mathias Lanz

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