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Bundesverwaltungsgericht Urteil F-3314/2020

Urteilsdetails des Bundesverwaltungsgerichts F-3314/2020

Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung VI
Dossiernummer:F-3314/2020
Datum:02.08.2024
Leitsatz/Stichwort:Familienzusammenführung (Asyl)
Schlagwörter : Familie; Familien; Urteil; Sozialhilfe; Familiennachzug; Flüchtling; Beschwerdeführers; Beilage; Kinder; Recht; Switzerland; Familienleben; Ehefrau; Others; Interesse; Schweiz; Gesuch; Äthiopien; Eingabe; Familiennachzugs; Interessen; Beschwerdedossier; Schutz; Flüchtlings
Rechtsnorm: Art. 10 KRK ;Art. 48 VwVG ;Art. 62 VwVG ;Art. 63 VwVG ;Art. 65 VwVG ;Art. 83 AIG ;Art. 85 AIG ;
Referenz BGE:135 I 153; 139 I 330; 143 I 21; 144 II 1
Kommentar:
Meyer, Hand EMRK, Art. 8 EMRK, 2020

Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung IV F-3314/2020

U r t e i l v o m 2 . A u g u s t 2 0 2 4

Besetzung Richter Thomas Segessenmann (Vorsitz), Richterin Gabriela Freihofer,

Richterin Daniela Brüschweiler, Richter Yannick Antoniazza-Hafner, Richter Gregor Chatton, Gerichtsschreiberin Mareile Lettau.

Parteien A. , geboren am (…), Eritrea,

vertreten durch MLaw El Uali Emmhammed Said, Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Familienzusammenführung zugunsten von

B. , geboren am (…), C. , geboren am (…), D. , geboren am (…), E. , geboren am (…), F. , geboren am (…)

Verfügung des SEM vom 26. Mai 2020 / N (…).

Sachverhalt:

A.

Der Beschwerdeführer reiste am 2. Mai 2014 in die Schweiz ein und ersuchte gleichentags um Asyl. Mit Verfügung vom 16. Februar 2015 stellte die Vorinstanz fest, dass er die Flüchtlingseigenschaft nicht erfülle, und lehnte sein Asylgesuch ab, anerkannte ihn aber wegen subjektiver Nachfluchtgründe als Flüchtling und nahm ihn in der Schweiz (wegen Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzugs) vorläufig auf.

B.

    1. Der Beschwerdeführer reichte am 18. Februar 2016 beim SEM ein erstes Gesuch um Familiennachzug und Einbezug in die vorläufige Aufnahme für seine Ehefrau und die fünf gemeinsamen Kinder G. , H. , C. , D. und E. ein. Das SEM teilte ihm daraufhin mit Schreiben vom 25. Februar 2016 mit, dass die dreijährige Wartefrist noch nicht abgelaufen sei, weshalb sich eine genauere Prüfung der Nachzugsvoraussetzungen erübrige. Nachdem er die ihm eingeräumte Frist zur Stellungnahme ungenutzt hatte verstreichen lassen, wurde das Gesuch als gegenstandslos geworden abgeschrieben.

    2. Am 18. März 2016 erhob der Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde gegen die Verfügung des SEM vom 16. Februar 2015 und beantragte die Gewährung von Asyl. Mit Urteil D-1739/2016 vom

      1. April 2016 trat das Gericht auf die Beschwerde wegen offensichtlicher Verspätung nicht ein.

    3. Am 19. Dezember 2018 ersuchte der Beschwerdeführer ein zweites Mal um Bewilligung des Familiennachzugs für seine Ehefrau und die drei

    4. E. . Mit Verfügung vom 2. Oktober 2019 lehnte das SEM das Gesuch um Familiennachzug und Einbezug in die vorläufige Aufnahme wegen Sozialhilfeabhängigkeit des Beschwerdeführers ab.

    5. Wegen des Verdachts auf eine Heimatreise des Beschwerdeführers wurde ihm am 6. Februar 2019 das rechtliche Gehör im Hinblick auf eine eventuelle Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und Aufhebung der vorläufigen Aufnahme gewährt. Am 8. Juli 2019 wurde das Verfahren eingestellt und auf die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft verzichtet.

    6. Am (…) wurde in Äthiopien das sechste gemeinsame Kind F. geboren.

C.

    1. Mit Eingabe vom 6. März 2020 ersuchte der Beschwerdeführer um Familiennachzug und Einbezug in die vorläufige Aufnahme für seine Ehefrau und die vier gemeinsamen Kinder C. , D. , E. und F. , unter Beilage von Arbeitsund Beschäftigungsbestätigungen sowie Arztberichten. Am 12. und 19. März 2020 liess er dem SEM ergänzend eine Kopie der IV-Anmeldung sowie von aktuellen Arbeitsbemühungen zukommen. Das Migrationsamt des Kantons I. übermittelte das Gesuch am 16. März 2020 an die Vorinstanz mit der Empfehlung, dieses abzulehnen.

    2. Das SEM teilte dem Beschwerdeführer mit Schreiben vom 19. März 2020 mit, dass es erwäge, sein Gesuch abzulehnen. Am 20. April 2020 nahm der Beschwerdeführer dazu Stellung und reichte als Beleg für sein Bemühen um eine bedarfsgerechte Familienwohnung die Kopie einer Suchanfrage auf einer Online-Immobilienplattform ein.

D.

Mit Verfügung vom 26. Mai 2020 - eröffnet am 28. Mai 2020 - wies das SEM das Gesuch um Familiennachzug und Einbezug in die vorläufige Aufnahme vom 6. März 2020 ab.

Hierbei stellte es im Wesentlichen fest, der Beschwerdeführer habe die behauptete Arbeitsunfähigkeit nicht nachzuweisen vermocht. Vielmehr sei bescheinigt worden, dass er eine zu seinem reduzierten Sehvermögen passende Arbeitstätigkeit ohne starke körperliche Belastung ausüben könne. Er habe sich in den sechs Jahren Aufenthalt in der Schweiz kaum bemüht, im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen, und nicht alles Erdenkliche unternommen, um einer finanziellen Abhängigkeit zu entgehen. Er werde vollumfänglich von der Sozialhilfe unterstützt. Er und seine Familie könnten sich zwar grundsätzlich auf Art. 8 EMRK berufen. Der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens sei jedoch angesichts des erheblichen öffentlichen Interesses im Hinblick auf die bestehende Sozialhilfeabhängigkeit als zulässig zu erachten.

E.

Mit Beschwerde vom 29. Juni 2020 gelangte der Beschwerdeführer durch seine damalige Rechtsvertreterin gegen den Entscheid vom 26. Mai 2020 an das Bundesverwaltungsgericht. Er beantragte, die vorinstanzliche Verfügung sei aufzuheben und das Gesuch um Familiennachzug für die Ehefrau und die vier Kinder gutzuheissen und ihre Einreise in die Schweiz zu

bewilligen. Eventualiter sei die vorinstanzliche Verfügung aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung zurückzuweisen. Verfahrensrechtlich sei ihm die unentgeltliche Prozessführung zu bewilligen, auf die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten und die unterzeichnende Rechtsvertreterin als unentgeltliche Rechtsbeiständin zu bestellen.

Der Beschwerdeführer machte darin im Wesentlichen geltend, aus den eingereichten Unterlagen ergebe sich offensichtlich, dass er teilweise arbeitsunfähig sei. Er bemühe sich weiterhin, sich in den ersten Arbeitsmarkt einzugliedern. Es sei stossend, die Teilnahme in zahlreichen Arbeitsintegrationsprogrammen überhaupt nicht zu würdigen. Seine fortdauernde Sozialhilfeabhängigkeit sei unverschuldet. Es sei geboten, eine Ausnahme von dem Kriterium der Sozialhilfeunabhängigkeit zu machen, da ansonsten ein Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot gemäss Art. 8 BV i.V.m. Art. 14 EMRK gegeben sei. Auch lasse das SEM die Möglichkeiten der Ehefrau des Beschwerdeführers zur Erwerbstätigkeit in der Schweiz unberücksichtigt. In Bezug auf den Anspruch auf ein Familienleben gemäss Art. 8 EMRK würden die privaten Interessen des Beschwerdeführers am baldigen Zusammenleben mit der Familie die öffentlichen Interessen rein wirtschaftlicher E. an einer Verweigerung des Gesuchs überwiegen.

Der Beschwerde lagen ein Vorbescheid der IV-Stelle des Kantons I._ vom 12. Juni 2020 und ein Zwischenbericht vom 22. Juni 2020 des J. , Kanton I. , Qualifizierung (Regelsozialhilfe) vom

  1. Juni 2020 über den Zeitraum 6. Januar 2020 bis 22. Juni 2020 im Programm «Manuelle Fertigung» bei.

F.

Mit Zwischenverfügung vom 8. Juli 2020 hiess die damals zuständige Instruktionsrichterin das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung gut und verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung wies sie ab. Gleichzeitig lud sie das SEM zur Vernehmlassung ein.

G.

Die Vorinstanz liess sich am 22. Juli 2020 vernehmen. Am 28. August 2020 reichte der Beschwerdeführer seine Replik ein, unter Beilage von weiteren Beweismitteln zum Beleg der geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit (Ausdrucke von E-Mails der zuständigen Sozialarbeiterin des Sozialdienstes K. vom 10. August 2020 und der L. vom 14. August 2020

sowie eine E-Mail an den Augenarzt des Beschwerdeführers vom 30. Juni 2020).

Auf die Begründung der Vernehmlassung und der Replik wird – soweit entscheidrelevant – in den Erwägungen eingegangen.

H.

Mit Eingaben vom 5. und 26. November 2020 sowie 28. Januar 2021 reichte der Beschwerdeführer weitere Unterlagen zum Nachweis seiner Arbeitsbemühungen, eine Verfügung der IV-Stelle des Kantons I. vom 28. August 2020 (Abweisung berufliche Massnahmen und Invalidenrente), sowie einen augenärztlichen Bericht vom 2. Dezember 2020 zu den Akten.

I.

Eine Anfrage des Beschwerdeführers zum Verfahrensstand vom 1. Juli 2021 beantwortete das Gericht am 20. Juli 2021.

J.

Am 25. April 2022 reichte der Beschwerdeführer einen Arbeitsvertrag ein über eine Tätigkeit als Lagermitarbeiter seit dem 2. März 2022 bei der Firma M. zu 50%, womit eine teilweise Ablösung von der Sozialhilfe verbunden sei. Zudem wurde ein Terminaufgebot für eine augenärztliche Kontrolle am 27. April 2022 eingereicht.

K.

Mit Schreiben vom 24. Mai 2022 (Poststempel 17. Juni 2022) ersuchte die damalige Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers um Entlassung aus dem Amt als amtliche Verbeiständung und Einsetzung des neuen Rechtsvertreters. Mit Instruktionsverfügung vom 22. Juni 2022 trat der inzwischen aus organisatorischen Gründen zuständig gewordene Instruktionsrichter auf das – offenbar aus Versehen gestellte – Gesuch nicht ein und nahm Kenntnis vom Vertretungswechsel.

L.

    1. Mit Instruktionsverfügung vom 5. Mai 2023 wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, innert Frist eine aktuelle Sozialhilfebestätigung, den Lohnausweis des Jahres 2022, die Lohnabrechnungen der Monate Januar bis April 2023 sowie einen aktuellen augenärztlichen Bericht einzureichen.

    2. Mit Eingabe vom 5. Juni 2023 ersuchte der Beschwerdeführer um Fristerstreckung zur Beschaffung sämtlicher eingeforderter Nachweise.

      Gleichzeitig informierte er darüber, dass den Familienangehörigen die Flucht aus der Region Tigray gelungen sei und sie seit gut einem Jahr in einem Flüchtlingscamp in der Region Amhara ungefähr zwei Stunden von der Stadt Gondar entfernt lebten. Dem Schreiben lagen Lohnabrechnungen der M. von März 2022 bis Mai 2023 sowie zwei Fotos vom Besuch des Beschwerdeführers im Frühling 2023 bei seiner Familie in Äthiopien bei.

    3. Innert erstreckter Frist wurden mit Eingabe vom 21. Juni 2023 ein aktueller Bericht des Augenarztes vom 21. Juni 2023, Flugtickets vom Besuch des Beschwerdeführers bei seiner Familie in Äthiopien sowie Belege zu seiner Berufstätigkeit und Sozialhilfeunterstützung (Bestätigung des Sozialdienstes vom 21. Juni 2023, Vollmacht und Abtretungserklärung vom

21. April 2022, E-Mail der zuständigen Sozialarbeiterin vom 21. Juni 2023) eingereicht.

M.

Mit Eingabe vom 6. Juli 2023 wies der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers das Bundesverwaltungsgericht auf ein neues Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) B.F. and Others

v. Switzerland vom 4. Juli 2023 hin.

N.

Das SEM wurde am 12. Juli 2023 zu einem weiteren Schriftenwechsel eingeladen und liess sich am 24. Juli 2023 vernehmen. Hierbei führte es aus, dass trotz flexibler Handhabung des Kriteriums der Sozialhilfeunabhängigkeit gemäss BVGE 2007 VIII/4 erforderlich sei, dass sich der Fehlbetrag in vertretbarer Höhe halte und in absehbarer Zeit vermutlich ausgeglichen werden könne. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer mit seinem Teilzeitpensum die Kosten für den eigenen sowie den Unterhalt seiner Familie werde decken können.

O.

In seiner Stellungnahme vom 31. August 2023 kritisierte der Beschwerdeführer, dass die Vorinstanz die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK ignoriere und erneut einzig auf den Aspekt der nicht bestehenden beziehungsweise absehbaren finanziellen Unabhängigkeit abgestellt habe. Als

weitere Beweismittel reichte er E-Mail-Ausdrucke der L.

vom

10. August 2023 und 17. August 2023 zu den körperlichen Einschränkungen (Sehbehinderung und vermutete kognitive Einschränkungen) und der Abklärung der Arbeitsfähigkeit zu den Akten. Zudem lag eine E-Mail der

zuständigen Sozialarbeiterin vom 23. August 2023 über ein Standortgespräch mit dem Teamleiter des Beschwerdeführers zur Arbeitssituation und Arbeitsleistung bei.

P.

Am 19. September 2023 reichte der Beschwerdeführer eine Anstellungsbestätigung über ein 100 %-Pensum bei der M. vom 11. September 2023 ein.

Q.

Mit Instruktionsverfügung vom 12. April 2024 wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, aktuelle Angaben zum derzeitigen Aufenthaltsort und zu den konkreten Lebensumständen (insbesondere in Bezug auf die wirtschaftlichen Verhältnisse und die medizinische Situation) der Ehefrau und der vier minderjährigen Kinder C. , D. , E. und F. sowie der beiden volljährigen Söhne G. und H. zu machen und entsprechende Beweismittel einzureichen.

R.

Am 13. Mai 2024 reichte der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers in dessen Namen Kopien einer Registrierungskarte des UNHCR und einer Lebensmittelkarte ein.

S.

Mit Schreiben vom 17. Mai 2024 stellte der Instruktionsrichter fest, dass der Eingabe vom 13. Mai 2024 keine neuen Beweismittel beigelegt worden seien und sich die eingereichten Dokumente bereits in den Akten befänden. Unter Verweis auf den bevorstehenden Verfahrensabschluss teilte der Instruktionsrichter dem Beschwerdeführer mit, dass ausschlaggebende Parteivorbringen und Beweismittel, die innert nützlicher Frist eingereicht würden, trotz Verspätung noch berücksichtigt werden könnten.

T.

Am 17. Juli 2024 liess der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter mitteilen, dass seine Familie seit rund einem Jahr in Addis Abeba in einer privaten _Wohnung lebe und keine Unterstützung vom UNHCR erhalte. Sein in Kanada lebender Bruder sowie – wo möglich – er selber unterstützten die Familie finanziell. Die beiden erwachsenen Söhne G. und H. würden in Eritrea Militärdienst leisten und könnten die Familie nicht finanziell unterstützen. Seine Ehefrau leide an Asthma. Sie habe einen Asthmaspray zur Behandlung und es gehe ihr aktuell besser.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG, welche von einer der in Art. 33 VGG aufgeführten Behörden erlassen wurden. Dazu gehören u.a. Verfügungen des SEM, welche den Familiennachzug von vorläufig aufgenommenen Personen im Rahmen des Einbezugs in die vorläufige Aufnahme betreffen. Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet darüber endgültig (Art. 83 Bst. c Ziff. 2 und 3 BGG).

    2. Das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht richtet sich nach dem VwVG, soweit das VGG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG).

    3. Der Beschwerdeführer ist als Verfügungsadressat zur Beschwerde legitimiert (Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die fristund formgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten (Art. 50 Abs. 1 und 52 Abs. 1 VwVG).

2.

    1. Mit Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht kann die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes sowie – falls nicht eine kantonale Behörde als Beschwerdeinstanz verfügt hat – die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 49 VwVG). Das Bundesverwaltungsgericht wendet das Bundesrecht von Amtes wegen an. Es ist gemäss Art. 62 Abs. 4 VwVG an die Begründung der Begehren nicht gebunden und kann die Beschwerde auch aus anderen als den geltend gemachten Gründen gutheissen oder abweisen. Massgebend ist grundsätzlich die Sachlage zum Zeitpunkt seines Entscheides (vgl. BVGE 2014/1 E. 2).

    2. Mit Beschlüssen vom 9., 12. und 15. Februar 2024 wurde entschieden, das vorliegende Verfahren zuständigkeitshalber nach Art. 24 des Geschäftsreglements für das Bundesverwaltungsgericht vom 17. April 2008 (VGR, SR 173.320.1) der Abteilung VI zu übertragen (und unter der neuen Verfahrensnummer F-3314/2020 weiterzuführen), einen abteilungsübergreifenden Spruchkörper zu bilden (vgl. Art. 32 Abs. 3bis VGR) und über die Beschwerde in Fünferbesetzung zu entscheiden (vgl. Art. 21 Abs. 2 VGG).

3.

    1. Gemäss Art. 85 Abs. 7 des Ausländerund Integrationsgesetzes (AIG, SR 142.20) können Ehegatten und ledige Kinder unter 18 Jahren von in der Schweiz vorläufig aufgenommenen Personen und vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen frühestens drei Jahre nach Anordnung der vorläufigen Aufnahme nachgezogen und in diese eingeschlossen werden. Voraussetzung dafür ist, dass sie zusammenwohnen (Bst. a), dass eine bedarfsgerechte Wohnung vorhanden (Bst. b) und die Familie nicht auf Sozialhilfe angewiesen ist (Bst. c), sie sich in der am Wohnort gesprochenen Landessprache verständigen können (Bst. d) und die nachziehende Person keine jährlichen Ergänzungsleistungen nach dem Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenenund Invalidenversicherung vom 6. Oktober 2006 (ELG, SR 831.30) bezieht oder wegen des Familiennachzugs beziehen könnte (Bst. e). Diese Bestimmung wird in materieller Hinsicht in der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE, SR 142.201) konkretisiert. Gemäss Art. 74 Abs. 3 VZAE ist ein Familiennachzugsgesuch innerhalb von fünf Jahren zu stellen, sobald die zeitlichen Voraussetzungen gemäss Art. 85 Abs. 7 AIG erfüllt sind; geht es um den Nachzug von Kindern im Alter von über zwölf Jahren, muss das Gesuch innerhalb von zwölf Monaten nach diesem Zeitpunkt eingereicht werden. Ein nachträglicher Familiennachzug kann nur aus wichtigen familiären Gründen bewilligt werden (Art. 74 Abs. 4 VZAE).

    2. Der Beschwerdeführer wurde am 16. Februar 2015 als Flüchtling anerkannt und vorläufig aufgenommen; sein Gesuch um Familiennachzug und Einbezug seiner Ehefrau und der im Jahre (…), (…), (…) und (…) geborenen Kinder datiert vom 6. März 2020. Die in Art. 85 Abs. 7 AIG vorgesehene dreijährige Karenzfrist wurde damit eingehalten, ebenso wie die Nachzugsfristen für die Ehefrau und die mittlerweile vier minderjährigen Kinder, auch in Bezug auf den ältesten Sohn C. (Art. 85 Abs. 7 AIG i.V.m. Art. 74 Abs. 3 VZAE).

    3. Demgegenüber stellt sich die Frage, ob auch die weiteren in Art. 85 Abs. 7 Bst. a – c AIG genannten Voraussetzungen des Zusammenwohnens, der bedarfsgerechten Wohnung und der Sozialhilfeunabhängigkeit vorliegen.

      Die beiden erstgenannten Voraussetzungen können als erfüllt betrachtet werden, weil der Beschwerdeführer beabsichtigt, künftig mit seinen nachzuziehenden Familienangehörigen zusammenzuwohnen, und weil ihm

      nicht zugemutet werden kann, sich bereits im Zeitpunkt der Gesuchstellung um familienadäquate Räumlichkeiten zu kümmern. Dass solche erst nach einem positiven Entscheid über den Familiennachzug angemietet werden, wird praxisgemäss als ausreichend erachtet (vgl. Urteile des BVGer F-7288/2014 vom 5. Dezember 2016 E. 5.2 und F-4990/2018 vom 3. April 2019 E. 6). Zudem hat der Beschwerdeführer mit Eingabe vom 20. April 2020 und entsprechenden Nachweisen glaubhaft darlegen können, eine angemessene Wohnung zu suchen. Angesichts dessen stellt sich im vorliegenden Fall lediglich die Frage nach dem Risiko künftiger Sozialhilfeabhängigkeit des Beschwerdeführers und seiner Familie.

    4. Sozialhilfeunabhängigkeit wird in der Praxis dann angenommen, wenn die Eigenmittel das Niveau erreichen, ab dem gemäss Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) kein Anspruch auf Sozialhilfe (mehr) besteht. Diese Definition ist bei anerkannten Flüchtlingen

      – ob mit oder ohne Asyl – jedoch zu relativieren. Bei der Beurteilung der Fürsorgeunabhängigkeit ist zwar von den aktuellen Verhältnissen auszugehen, die wahrscheinliche finanzielle Entwicklung – einschliesslich der Verdienstmöglichkeiten aller Familienmitglieder – aber auf längere Sicht ebenfalls in Betracht zu ziehen. Deren mutmassliches und zu den Lebenshaltungskosten der Familie beitragendes Einkommen ist daran zu messen, ob und in welchem Umfang es als tatsächlich realisierbar erscheint. Von daher kann es sich im Hinblick auf das öffentliche Interesse rechtfertigen, den Nachzug von Familienangehörigen zu verweigern, wenn damit die Gefahr des fortgesetzten und erheblichen Bezugs von Sozialhilfe einhergeht. Unternimmt die gesuchstellende Person demgegenüber alles ihr Zumutbare, um auf dem Arbeitsmarkt Fuss zu fassen und so für sich und ihre Familie den Unterhalt bestreiten zu können, kann dies den an den Familiennachzug gestellten Anforderungen genügen. Dies gilt selbst dann, wenn der Betreffende innerhalb der für den Familiennachzug geltenden Frist unverschuldet keine den Familienunterhalt sichernde Situation zu schaffen vermag, sich der Fehlbetrag jedoch in vertretbarer Höhe hält und in absehbarer Zeit ausgeglichen werden kann (vgl. BGE 139 I 330 E. 4.1 und E. 4.2 sowie BVGE 2017 VII/4 E. 5.2, wonach die vom Bundesgericht für anerkannte Flüchtlinge mit Asylstatus dargestellte Praxis auch für anerkannte Flüchtlinge mit vorläufiger Aufnahme gilt).

      1. Der Beschwerdeführer arbeitet seit dem 2. März 2022 in einer unbefristeten Anstellung als Lagermitarbeiter und erwirtschaftet hierbei ein monatliches Einkommen von ca. 2000 Franken brutto; ergänzend bezieht er Sozialhilfe. Für ihn wurde eine analoge Lösung zu einer IV-Stelle ge-

        schaffen, bei welcher von seinem 100 %-Arbeitspensum 50 % vom Arbeitgeber entschädigt werden und der Fehlbetrag durch die Sozialhilfe ausgeglichen wird (vgl. Beschwerdedossier, act. A16, Beilage, Arbeitsvertrag; A20, Beilagen 2 und 3, Lohnausweise; A22, Beilagen 2 und 3, Abtretungserklärung und Bestätigung Sozialdienst; A30, Beilagen 1 und 2, Rückmeldungen L. und regionaler Sozialdienst; A31, Beilage, Anstellungsbestätigung).

      2. Dem Beschwerdeführer ist damit zwar eine teilweise Ablösung von der Sozialhilfe und Integration in den ersten Arbeitsmarkt gelungen und er befindet sich mittlerweile seit über eineinhalb Jahren in diesem Anstellungsverhältnis. Festzuhalten ist aber, dass das Kriterium der Sozialhilfeunabhängigkeit (Art. 85 Abs. 7 Bst. c AIG) nicht erfüllt ist.

      3. Aufgrund der nur teilweise erfolgten Ablösung von der Sozialhilfe ist das Kriterium der Sozialhilfeunabhängigkeit einer prospektiven Beurteilung zu unterziehen.

        Aus den eingereichten augenärztlichen Berichten und den weiteren Eingaben der L. , der Sozialarbeiterin und des Arbeitgebers lässt sich in Bezug auf den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers und die Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit entnehmen, dass diese durch die Sehbehinderung sowie die Einschränkungen im kognitiven, sprachlichen und körperlichen Bereich reduziert ist (vgl. FAZ Vorinstanz, act. A5/47, Beilagen 12 und 13, sowie Beschwerdedossier, act. A1, Beilage 5, A30, Beilagen 1 und 2, A31, Beilage). Auch erscheint aufgrund der vorhandenen Einschränkungen eine andere Arbeitsstelle oder Steigerung des Arbeitspensums in absehbarer Zukunft nicht realistisch (vgl. insbesondere Beschwerdedossier, act. A30, A31, Beilagen).

        Auch die geltend gemachte zu erwartende Erwerbstätigkeit der Ehefrau nach einer Integrationsperiode und dem Erwerb von Deutschkenntnissen und somit ein Beitrag zur finanziellen Unterstützung der Familie kann als lediglich spekulative Erwerbstätigkeit nicht berücksichtigt werden (vgl. dazu Urteil des BVGer F-404/2016 vom 2. Oktober 2017 E. 4.2.2). Warum der Ehefrau die berufliche Integration gelingen sollte, hat der Beschwerdeführer nicht dargelegt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich mit dem Zuzug von Ehefrau und Kindern der Unterstützungsbedarf der Familie erheblich erhöhen würde (höherer Grundbetrag, Wohnkosten, Krankheitskosten etc.).

        Bei dieser Sachlage ist von einer fortgesetzten und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung auszugehen.

      4. Die gemäss Art. 85 Abs. 7 Bst. c AIG verlangte Sozialhilfeunabhängigkeit der Familie als eine der kumulativ zu erfüllenden Voraussetzungen für einen Familiennachzug ist damit nicht erfüllt.

4.

    1. Nachfolgend ist zu untersuchen, ob die Verweigerung des Familiennachzugs mit dem Anspruch auf Schutz des Familienlebens gemäss Art. 8 EMRK vereinbar ist.

      1. Art. 8 Ziff.1 EMRK garantiert den Schutz des Familienlebens, welches in erster Linie die Kernfamilie, das heisst die Gemeinschaft der Ehegatten mit ihren minderjährigen Kindern, umfasst (vgl. BGE 144 II 1 E. 6.1; 135 I 143 E. 1.3.2). Die Garantie kann verletzt sein, wenn einer ausländischen Person, deren Familienangehörige in der Schweiz weilen, die Anwesenheit untersagt und damit das Familienleben vereitelt wird. Das in Art. 8 EMRK beziehungsweise Art. 13 BV geschützte Recht ist berührt, wenn eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt wird, ohne dass es dieser möglich beziehungsweise zumutbar wäre, ihr Familienleben andernorts zu pflegen (vgl. BGE 144 II 1 E. 6.1; 143 I 21 E. 5.1; 139 I 330 E. 2.1;

        je m.H.). Auf den Schutz von Art. 8 Ziff. 1 EMRK können sich zwar grundsätzlich nur Personen mit einem gefestigten Anwesenheitsrecht in der Schweiz berufen, praxisgemäss aber auch Personen, deren Anwesenheit in der Schweiz faktisch als Realität oder aus objektiven Gründen hingenommen werden muss (BVGE 2017 VII/4 E. 6.2 und 6.3, je m.H.).

      2. Vorliegend ist unbestritten, dass von einer glaubhaften, nahen und echten Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer, seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern auszugehen ist. Dem Beschwerdeführer steht als vorläufig aufgenommenem Flüchtling die Berufung auf Art. 8 EMRK offen. Weiter ist unstrittig, dass es ihm, der Ehefrau und den gemeinsamen minderjährigen Kindern «nicht von vornherein ohne Weiteres zumutbar» ist, das Familienleben im Ausland zu führen (vgl. BGE 135 I 153 E. 2.1 sowie Urteil des BGer 2C_914/2014 vom 18. Mai 2015 E. 4.3.1 am Ende; BVGE 2017 VII/4 E. 6.6).

4.2 Die Verweigerung des Familiennachzugs greift somit in den persönlichen und sachlichen Schutzbereich des Rechts auf Familienleben nach

Art. 8 Ziff. 1 EMRK des in der Schweiz aufenthaltsberechtigten Beschwerdeführers ein.

4.3

      1. Gerechtfertigt ist ein Eingriff nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

      2. Die in Art. 85 Abs. 7 Bst. c AIG verlangte Sozialhilfeunabhängigkeit dient grundsätzlich legitimen ökonomischen Interessen des Staates. Der Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 Ziff. 1 EMRK ist generell dann «notwendig», wenn eine Massnahme einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und verhältnismässig erscheint. Hierbei wird die Bedeutung des Rechts, in das eingegriffen wird, sowie die Schwere des Eingriffs dem Eingriffszweck gegenübergestellt (vgl. MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK], 3. Auflage, 2020, S. 363; MARTIN NETTESHEIM, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer [Hrsg.], Nomos-Handkommentar EMRK, 5. Aufl., 2023, Art. 8, Rn. 110 ff.).

      3. Bei der Interessenabwägung hängt das Ausmass der Pflicht für den betreffenden Staat, eine Familienzusammenführung in seinem Hoheitsgebiet ermöglichen zu müssen, jeweils von den Umständen des Einzelfalls ab. Der Staat verfügt über einen gewissen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) hinsichtlich der Notwendigkeit (necessity) des Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK. Es muss eine sorgfältige, umfassende und faire Interessenabwägung zwischen den öffentlichen Interessen der Einwanderungskontrolle und den konkurrierenden privaten Interessen an der Familienzusammenführung vorgenommen werden (vgl. BGE 143 I 21 E. 5.1 m.w.H.).

      4. Bei der Gesamtbetrachtung sind der Grad der konkreten Beeinträchtigung des Familienlebens, der Umstand, ob und wieweit dieses in zumutbarer Weise im Heimatstaat oder allenfalls in einem Drittstaat gelebt werden kann sowie die E. der Bindungen zum und im Aufenthaltsstaat zu berücksichtigen, zudem Gründe der Migrationsregulierung sowie solche zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder des wirtschaftlichen Wohlergehens des Landes (vgl. zur Rechtsprechung des EGMR insbesondere Urteile Jeunesse v. the Netherlands vom 3. Oktober 2014, Nr. 12738/10,

§§ 106 ff.; El Ghatet v. Switzerland vom 8. November 2016, Nr. 56971/10,

§§ 43 ff.; M.A. v. Denmark vom 9. Juli 2021, Nr. 6697/18, §§ 141 ff.). Soweit Kinder betroffen sind, ist dem Kindeswohl eine besondere Bedeutung zuzumessen (vgl. Urteile Jeunesse v. the Netherlands, a.a.o., §§ 119-120; El Ghatet v. Switzerland, a.a.O., § 46).

5.

    1. Vorliegend ist fraglich, ob das Erfordernis des Vorhandenseins hinreichender finanzieller Mittel beziehungsweise der Sozialhilfeunabhängigkeit unter dem Aspekt des «wirtschaftlichen Wohl des Landes» als «legitimer Zweck» der Einschränkung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK in einer angemessenen Gesamtwürdigung beurteilt wurde, die mit der Rechtsprechung des EGMR vereinbar ist. Ob also die Ablehnung des Gesuchs des Beschwerdeführers um Familiennachzug angesichts des Eingriffs in das Recht auf Familienleben aus Art. 8 EMRK verhältnismässig war.

    2. Im Folgenden ist die Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf die massgeblichen Leitlinien bei der Gesamtabwägung unter besonderer Berücksichtigung des neuen Urteils B.F. and Others v. Switzerland vom 4. Juli 2023, Nr.13258/18, 15500/18, 57303/18 et al., zu skizzieren:

      Der EGMR betont, dass er sich bislang noch nicht mit der Frage befasst habe, ob (auch) im Fall von Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention, denen aufgrund illegaler Ausreise Gefährdung im Herkunftsland drohe, der Familiennachzug von der finanziellen Unabhängigkeit der Familie abhängig gemacht werden dürfe (vgl. Urteil B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O, § 95). In den bisherigen vom EGMR entschiedenen Fällen zum Zulassungskriterium des Vorhandenseins hinreichender finanzieller Mittel als Voraussetzung des Familiennachzugs handelte es sich nicht um Flüchtlinge (vgl. die Urteile Konstatinov v. the Netherlands vom 26. April 2007, Nr. 16351/03, § 50; Hasanbasic v. Switzerland vom 11. Juni 2013, Nr. 52166/09, § 59).

      Hinsichtlich des Umfangs des Beurteilungsspielraums nimmt der EGMR Bezug auf diesbezügliche Erwägungen aus seinem Urteil M. A. v. Denmark vom 9. Juli 2021, Nr. 6697/18, in welchem er entschieden hatte, dass eine Wartezeit für Personen mit vorläufigem Schutzstatus bei Familienzusammenführungen höchstens zwei Jahre betragen dürfe (siehe Urteil B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O., § 94 unter Hinweis auf Urteil M. A. v. Denmark, a.a.O., § 140). Er hält im Urteil B.F. and Others v. Switzerland weiter fest, dass auch in den Fällen, in denen der Familiennachzug von Flücht-

      lingen, denen aufgrund von Nachfluchtgründen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei, den Mitgliedstaaten ein gewisser Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) bei der Anwendung des Kriteriums der fehlenden Sozialhilfeabhängigkeit zustehe (Urteil B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O., §§ 94-104). Allerdings müssten die Konventionsbestimmungen dabei so verstanden und angewandt werden, dass ihre Anforderungen bei ihrer Anwendung auf den Einzelfall praktisch und wirksam und nicht theoretisch und illusorisch seien (vgl. Urteil B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O., § 104, mit Verweis auf Urteil M. A. v. Denmark, a.a.O., §§ 162, 192193).

      Das Erfordernis, nicht auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, müsse daher mit ausreichender Flexibilität als ein Element bei der umfassenden und individuellen Interessenabwägung angewandt werden, um das Recht des Flüchtlings auf Familienleben ausreichend zu gewährleisten, insbesondere da die unüberwindbaren Hindernisse, das Familienleben im Herkunftsland zu führen, im Rahmen der Gesamtabwägung mit zunehmendem Zeitablauf an Bedeutung gewännen. Da es sich nicht um den Familiennachzug von Personen mit subsidiärem Schutzstatus handle, sei der Beurteilungsspielraum bei der Anwendung des Kriteriums der Sozialhilfeunabhängigkeit als Voraussetzung somit wesentlich enger gefasst (vgl. Urteile B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O., §§ 98, 104-105; M.A. v. Denmark, a.a.O., §§ 161 ff., 192-193). Den Flüchtlingen müsse mithin ein günstigeres Familiennachzugsverfahren zustehen als anderen ausländischen Staatsangehörigen (vgl. Urteil B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O., §§ 90, 98). Der Grund sei die besondere Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingen, auch wenn sie ihre Herkunftsländer verlassen hätten, ohne vor Verfolgung fliehen zu müssen.

      Der EGMR zieht in seinem Urteil B.F. and Others v. Switzerland die Schlussfolgerung, dass auch von solchen Flüchtlingen, die durch ihre Ausreise die Ursache für die befürchtete Verfolgung gesetzt hätten, nicht verlangt werden könne, dass sie "Unmögliches" für die Familienzusammenführung leisteten. Wenn sie alles getan hätten, was vernünftigerweise erwartet werden könne, um finanziell unabhängig zu werden, aber nicht in der Lage seien, die Einkommensanforderungen zu erfüllen, könne die Anwendung des Erfordernisses, nicht auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, ohne jede Flexibilität zu einer dauerhaften Trennung der Familien führen. (Urteil B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O., § 105).

      Durch das strikte Festhalten an den ausländerrechtlichen Voraussetzungen, dass der Betrag, um den eine Familie nicht auf Sozialhilfe angewiesen

      sei, einen angemessenen Betrag nicht überschreiten dürfe und in absehbarer Zeit aufgeholt werden müsse, damit die Familienzusammenführung gewährt werden könne, werde die notwendige Flexibilität aber eingeschränkt (Urteil B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O., § 108). Vielmehr brauche es eine ausgewogene Interessenabwägung hinsichtlich des Erfordernisses, nicht von der Sozialhilfe abhängig zu sein, und dem Interesse auf Wiedervereinigung mit den Familienmitgliedern an (Urteil B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O., §§ 126 ff.).

    3. Vorliegend ist die Integration des Beschwerdeführers in den Arbeitsmarkt und die weiterhin bestehende Sozialhilfeabhängigkeit angesichts der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund der skizzierten Rechtsprechung zu bewerten:

      1. Hinsichtlich der beruflichen Integration ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer ab 2017/2018 an Arbeitsintegrationsprogrammen und Sprachkursen teilgenommen hat (vgl. FAZ Vorinstanz, act. A 5/47, Beilagen 9-11), zuerst bei der Sozialfirma N. vom 22. Mai 2017 bis 31. Dezember 2018 in den Bereichen Forst- / Werkhof und Logistik zu einem Pensum von 40 Prozent, dann im Jahr 2019 bei der Bildungswerkstätte O. in der Abteilung Recycling Integrationsmassnahmen. Ab dem

        1. Januar 2020 besuchte er ein Qualifizierungsprogramm der Genossenschaft L. in den Bereichen Montageaufträge, Kontrollund Sortierarbeiten, wobei die Anmeldung bei der L._ auf Wunsch des Beschwerdeführers zur Unterstützung bei der beruflichen Integration erfolgte (vgl. FAZ Vorinstanz, act. A5/47, Beilage 12; Schreiben des regionalen Sozialdienstes vom 11. Februar 2020; Beschwerdedossier, act. A12, Beilage, Zwischenbericht der L. vom 22. Juni 2020). Nachfolgend bewarb er sich ab Februar 2020 erfolglos bei verschiedenen Arbeitgebern als Servicekraft oder Lagermitarbeiter (vgl. FAZ Vorinstanz, act. A5/45, Beilage 6; Nachweise zu persönlichen Arbeitsbemühungen für Februar 2020, act. A 7/4, Nachweise für März 2020, vgl. Beschwerdedossier, act. A11-13, Beilagen, Belege für die Monate Oktober bis Dezember 2020).

        Schliesslich ist es dem Beschwerdeführer mit Hilfe der L. gelungen, eine Teilzeitanstellung im ersten Arbeitsmarkt zu finden. Er arbeitet seit dem 2. März 2022 in unbefristeter Anstellung als Lagermitarbeiter und erwirtschaftet ein monatliches Einkommen von ca. 2000 Franken brutto, ergänzend bezieht er Sozialhilfe. Er ist in einem 100 %-Arbeitspensum tätig, wobei ihm 50 % vom Arbeitgeber entschädigt werden und der Restbetrag durch die Sozialhilfe ausgeglichen wird (vgl. Beschwerdedossier,

        act. A16, Beilage, Arbeitsvertrag; act. A20, Beilagen 2 und 3, Lohnausweise, Abtretungserklärung und Bestätigung Sozialdienst, act. A31, Beilage, Anstellungsbestätigung).

      2. Die eingereichten Berichte lassen den Schluss zu, dass der Beschwerdeführer aufgrund erheblicher gesundheitlicher Einschränkungen nur teilweise arbeitsfähig ist:

        Vorab ist festzuhalten, dass die Arbeitsfähigkeit nicht durch die IV-Stelle abgeklärt wurde. Die zuständige Stelle verneinte das Bestehen von Leistungsansprüchen mit Vorbescheid von Juni 2020 (vgl. Beschwerdedossier, Beschwerde, act. A1, Beilage 4), ohne die gesundheitliche und die daraus resultierende Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdeführers gesamthaft ärztlich zu überprüfen und zu beziffern, mangels Vorliegens der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen.

        Es lassen sich aber konkrete Angaben in Bezug auf seine Arbeitsunfähigkeit aus den insgesamt eingereichten Arztberichten und Schreiben der Sozialarbeiter und Arbeitsvermittler entnehmen. Die anfangs vom SEM erhobene Kritik, dass die Arbeitsunfähigkeit nicht belegt sei, verfängt angesichts der heute bestehenden Aktenlage nicht mehr.

        So lassen die augenärztlichen Berichte auf eine nur partielle Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer Sehbehinderung schliessen. Aus den eingereichten Berichten (vgl. FAZ Vorinstanz, act. A5/47, Beilage 13, Bericht P. Kliniken, 14. Januar 2020 sowie Beschwerdedossier, act. 22, Beilage 5, Augenarztberichtbericht vom 15. Juni 2023) geht hervor, dass der Beschwerdeführer auf seinem linken Auge vollständig erblindet ist beziehungsweise eine Augenprothese trägt und seine Sehschärfe auf seinem verbleibenden rechten Auge lediglich 30 bis 40 % beträgt. Aus augenärztlicher Sicht kann der Beschwerdeführer somit nur «eine zum einseitigen, bis 30 % reduzierten Sehvermögen passende Arbeitstätigkeit» ausüben. Eine starke körperliche Belastung sei zudem zu vermeiden (vgl. FAZ Vorinstanz, act. A5/47, Beilage 13). Auch in dem der Beschwerde beigelegten Bericht der L. vom 22. Juni 2020, in welchem die Auswirkung der fehlenden Sehfähigkeit auf die Arbeitsleistung bestätigt wird, heisst es beispielsweise, er habe Arbeiten, bei denen genaue Sehfähigkeit gefordert sei, nicht ausführen können (vgl. Beschwerdedossier, act. A1, Beschwerde, Beilage 5).

        Weitere Eingaben belegen die eingeschränkte Arbeitsfähigkeit im kognitiven, sprachlichen und körperlichen Bereich:

        So ergibt sich aus der E-Mail der L. vom 17. August 2023, dass die Deutsch-Grundkenntnisse des Beschwerdeführers eigentlich dem ersten Arbeitsmarkt nicht genügten, aber aufgrund der kognitiven Fähigkeiten das Erlangen eines höheren Deutsch-Sprachniveaus eher unwahrscheinlich sei. Die Arbeitsfähigkeit sei körperlich und von der Leistungserbringung sehr eingeschränkt wegen der Sehbehinderung und der kognitiven Defizite. Tests und Abklärungen der L. hätten ergeben, dass er ungefähr 50 % arbeitsfähig sei (vgl. Beschwerdedossier, act. A30, Beilage 1, Mail vom 17. August 2023). Gemäss Arbeitsbestätigung der M. vom 11. September 2023 (vgl. Beschwerdedossier, act. A31, Beilage), arbeitet der Beschwerdeführer in einer von Gefahren befreiten Umgebung und sei mit der Aufgabe betraut, Wagen zusammenbauen. Er könne wegen Verletzungsgefahren nicht in anderen Bereichen eingesetzt werden.

      3. Aus den zuletzt eingereichten Eingaben wird deutlich, dass der Beschwerdeführer nicht mehr leisten kann, als er dies in seiner aktuellen Anstellung tut:

        Nach Angaben der L. ist im Jahr 2022 nochmal ein Test zur möglichen Steigerung der Arbeitsleistung durchgeführt worden, bei dem Arbeitgeber und L. jedoch erneut zum Schluss gelangt seien, dass eine Weiterführung der aktuellen Ausgestaltung den individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen des Beschwerdeführers entspreche (vgl. Beschwerdedossier, act. A30, Beilage 1, Rückmeldungen vom 10. August 2023 und

        17. August 2023 von Q. , L. ).

        Auch in der E-Mail der zuständigen Sozialarbeiterin vom 23. August 2023 (vgl. Beschwerdedossier, act. 30, Beilage 2) wird bestätigt, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner individuellen Voraussetzungen nicht mehr als eine Arbeitsfähigkeit von 50 % aufweise. Hinzu komme ein erhöhter Betreuungsaufwand aufgrund der körperlichen Einschränkungen, weshalb eine andere Arbeitsstelle in absehbarer Zukunft nicht realistisch erscheine. Aus der Arbeitsbescheinigung vom 11. September 2023 (vgl. Beschwerdedossier, act. A31, Beilage) wird auch deutlich, dass der Beschwerdeführer nur in einer ganz speziellen Umgebung mit einer klar definierten Aufgabe betraut werden kann.

      4. Der Beschwerdeführer hat sich vorliegend insoweit beruflich integriert, als es ihm angesichts seines Gesundheitszustandes und seiner individuellen Voraussetzungen möglich ist. Er hat damit alles getan, was vernünftigerweise von ihm erwartet werden konnte, um seinen Lebensunterhalt allein verdienen zu können. Er hat es geschafft, sich mit einer Teilzeitstelle von 50 % in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, ergänzt durch Sozialhilfe. Seine gesundheitlichen Einschränkungen lassen auf unbestimmte Zeit keine andere Ausgestaltung der Arbeitsstelle zu.

      5. Das private Interesse des Beschwerdeführers an der Ausübung seines Familienlebens in der Schweiz muss als hoch bewertet werden:

        Der Beschwerdeführer ist bereits seit 2001 kirchlich verheiratet (vgl. vorinstanzliche Akten, act. A3, S. 3). Das langjährige Familienleben, das schon viele Jahre vor der vorläufigen Aufnahme des Beschwerdeführers in der Schweiz bestand, ist im Rahmen der Interessenabwägung zu seinen Gunsten zu berücksichtigen (siehe auch Urteil des EGMR M.A. v. Denmark, a.a.O., § 135). Er hat von Anfang an gezeigt, wie wichtig ihm das Zusammenleben mit seiner Familie ist, indem er mehrere Nachzugsgesuche gestellt hat, sogar schon vor Ablauf der Wartefrist (vgl. Sachverhalt, B.a), und seine Familie so oft es ihm möglich war, in Äthiopien besucht hat, so im Herbst 2018 und September 2019 (vgl. FAZ Vorinstanz, act. A1/6) und im April/Mai 2023 (vgl. Sachverhalt, L.c) und zuletzt im Mai 2024 (vgl. Sachverhalt, R.).

        Das SEM hatte dem Beschwerdeführer entgegengehalten, dass er mit seiner Entscheidung zur Ausreise eine langfristige Trennung von der Ehefrau und den Kindern in Kauf genommen habe, habe er doch erst durch die illegale Ausreise subjektive Nachfluchtgründe geschaffen. Der EGMR stellt generell nicht in Abrede, dass sich die Umstände der Unterbrechung des Familienlebens insofern von Flüchtlingen, die gezwungenermassen aufgrund von Verfolgung aus dem Heimatland fliehen müssen, unterscheiden (vgl. Urteil B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O., § 103 mit Verweis auf Urteil M. T. and Others v. Sweden vom 20. Oktober 2022, Nr. 22105/18, §§ 98-111 in Bezug auf den Unterschied des Familiennachzugs bei anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten). Gleichzeitig mahnt er zur Zurückhaltung bei der Beurteilung der Freiwilligkeit der Trennung einzig wegen der Ablehnung des Asylgesuches, da aus der Ablehnung des Asylgesuches nicht zwingend auf die freiwillige Trennung von der Familie geschlossen werden kann (vgl. Urteil El Ghatet v. Switzerland, a.a.O, § 48). Vorliegend wurde das Asylgesuch des Beschwerdeführers zwar

        rechtskräftig abgelehnt, weil seine Verfolgungsvorbringen als unglaubhaft erachtet wurden. Fraglich ist aber, ob ihm deswegen ohne weiteres vorgehalten werden kann, die Entscheidung, seine Angehörigen zurückzulassen, sei freiwillig erfolgt. Überdies ist in der Gesamtwürdigung bei der Interessenabwägung insbesondere daran zu erinnern, dass der Beurteilungsspielraum bei Familiennachzugsgesuchen von Flüchtlingen, auch wenn die Flüchtlingseigenschaft aufgrund von Nachfluchtgründen zuerkannt worden ist, enger ist als bei Familiennachzug von Personen mit subsidiärem Schutzstatus (siehe obige Ausführungen und Urteil B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O., § 104).

      6. Von entscheidender Bedeutung als Ermessensleitlinie fungiert das Kindeswohl (vgl. Urteile des EGMR El Ghatet v. Switzerland, a.a.o., § 46; Jeunesse v. the Netherlands, a.a.O., §§ 119-120; BGE 143 I 21 E. 5.5.1). Das Kindeswohl ist gemäss Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (KRK, SR 0.107) bei allen Massnahmen, welche Kinder betreffen und insbesondere von Verwaltungsbehörden und Gerichten erlassen werden, vorrangig zu berücksichtigen (siehe auch UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes, Allgemeine Bemerkung Nr. 14 (2013): Kindeswohl (the right of the child to have his or her best interests taken as a primary consideration, art. 3 para. 1), 2. Mai 2013, §§ 37, 39; sowie Mitteilung Nr. 126/2020, Entscheid vom 7. Februar

        2023).

        Das Kindeswohl beinhaltet auch das grundlegende Bedürfnis des Kindes, in möglichst engem Kontakt mit beiden Elternteilen aufwachsen zu können (vgl. Art. 9 KRK). Ausserdem bemühen sich die Vertragsstaaten gemäss Art. 18 KRK nach besten Kräften, den Grundsatz sicherzustellen, dass beide Elternteile gemeinsam für die Erziehung und Entwicklung des Kindes verantwortlich sind (BGE 143 I 21 E. 5.5.1 f.). Nach Art. 10 Abs. 1 KRK (vgl. Botschaft des Bundesrats betreffend den Beitritt der Schweiz zur KRK vom

        29. Juni 1994 BBl 1994 V 1 ff., zu Art. 10 KRK und dem Vorbehalt der Schweiz: S. 33 ff. und 73 f.) sind Anträge auf Familienzusammenführung

        «wohlwollend, human und beschleunigt» zu bearbeiten (UNO-Ausschuss für Kinderrechte, Allgemeine Bemerkung Nr. 6 (2005): Behandlung unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder ausserhalb ihres Herkunftslandes, 3. Juni 2005, CRC/GC/2005/6). Aus einer Zusammenschau von Art. 3 Abs. 1 KRK, Art. 9 Abs. 1 und 10 Abs. 1 KRK ergibt sich aber weder ein unmittelbarer Anspruch auf einen voraussetzungslosen Kinderoder Elternnachzug noch ein unbedingter Vorrang des Kinderwohls vor

        migrationspolitischen Belangen (STEFANIE SCHMAHL, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Handkommentar, 2013, N 21 zu Art. 3 KRK).

        Zwei der vier Kinder sind mit Jahrgang (…) und (…) zwar schon in einem Alter, in dem sie wahrscheinlich nicht mehr so viel Betreuung und Unterstützung benötigen wie die beiden jüngeren Kinder, was gegen den Familiennachzug sprechen könnte (vgl. Urteil des EGMR Tuquabo-Tekle v. the Netherlands vom 1. Dezember 2005, Nr. 60665/00, § 49). Auch könnten sich in Bezug auf die älteren Kinder grössere Herausforderungen für eine erfolgreiche Integration in der Schweiz stellen. Es ist aber zu bedenken, dass die gesetzliche Wartefrist von drei Jahren für den Familiennachzug unvermeidlich dazu führt, dass Kinder in der Zeit älter werden (siehe auch Urteil des EGMR B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O, § 121). Zudem wäre es nicht im Sinne des Kindeswohls, die Familie auseinanderzureissen und je nach Alter der minderjährigen Kinder nur einen teilweisen Familiennachzug in Betracht zu ziehen.

        Es liegt, wie oben ausgeführt, grundsätzlich im Interesse des Wohls der Kinder, Kontakt zu beiden Elternteilen zu haben und mit ihnen beiden zusammenzuleben. Dies würde dafür sprechen, die Ablehnung des Gesuchs um Familiennachzug als unangemessen einzustufen, zumal es fraglich ist, wie durch die nur sporadisch möglichen Besuche in Äthiopien und die Nutzung moderner Kommunikationsmittel ein dauerhaft intensiver Kontakt zur Ehefrau und den minderjährigen Kindern aufrechterhalten werden kann und wie gerade die jüngsten Kinder ihren Vater unter den aktuellen Umständen richtig kennenlernen können. Anderseits bleibt anzumerken, dass der Beschwerdeführer die Trennung von seinem jüngsten, im Jahr (…) geborenen Kind bewusst in Kauf genommen hatte.

      7. Bei der Interessenabwägung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK ist ferner auch von wesentlicher Bedeutung, ob das Familienleben im Heimatland oder anderswo möglich wäre oder ob es unüberwindbare oder wesentliche Hindernisse («insurmountable or major obstacles“) gibt, die einem gemeinsamen Familienleben anderswo entgegenstehen (vgl. Urteil des EGMR M. A.

        v. Denmark, a.a.O., § 135).

        Der Beschwerdeführer wurde in der Schweiz als Flüchtling anerkannt. Eine Rückkehr in sein Heimatland Eritrea mit seinen Familienangehörigen und ein dortiges Zusammenleben ist deshalb nicht möglich.

        Jedoch muss auch in die Beurteilung einfliessen, ob es dem Beschwerdeführer und seinen Familienmitgliedern zuzumuten ist, das Familienleben in Äthiopien zu führen, oder ob die Familienzusammenführung in der Schweiz das einzige Mittel ist, um das Familienleben mit den in ein Drittland geflohenen Familienmitglieder wieder aufzunehmen (so vom EGMR bejaht in den Urteilen Tanda-Muzinga v. France vom 10. Juli 2014, Nr. 2260/10, § 74 und Mugenzi v. France vom 10. Juli 2014, Nr. 52701/09, § 53).

        Die Familie des Beschwerdeführers ist im September 2018 aus Eritrea ausgereist und befand sich ab Oktober 2018 in Äthiopien in der Tigray-Region im Flüchtlingscamp Adi Harush. Wie der Beschwerdeführer in seiner Eingabe vom 5. Juni 2023 vorgebracht hatte, sei der Familie im Jahr 2022 die Flucht aus der umkämpften Region Tigray gelungen. Das Flüchtlingslager Adi Harush wurde aufgrund des Krieges geschlossen (vgl. UNHCR, Country Summary, 30. Juni 2023, https://reliefweb.int/attachments/ce73bd4f-08c7-4b75-a9a9-ea45abaf3054/Ethiopia%20RPRF11032024.pdf, zuletzt besucht am 18. Juni 2024). Gemäss Eingabe vom

        5. Juni 2023 soll die Familie nach der Flucht aus der Tigray-Region 2022 in einem Flüchtlingscamp in der Region Amhara ungefähr zwei Stunden von der Stadt Gondar entfernt gelebt haben. Von seinem Besuch bei der Familie in Äthiopien von Mitte April bis Mitte Mai 2023 legte der Beschwerdeführer der Eingabe zwei Fotos als Beweismittel bei, auf denen er mit der Familie in einem Restaurant beziehungsweise mit seiner Ehefrau vor mehrstöckigen Wohngebäuden abgebildet war. Aufgrund von Zweifeln betreffend die aktuellen Lebensumstände der Familie des Beschwerdeführers in Äthiopien, namentlich ob sich diese nach wie vor in dem besagten Flüchtlingscamp aufhält, wurde dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer mit Instruktionsverfügung vom 12. April 2024 Frist gesetzt, aktuelle Angaben zum Aufenthaltsort und zu den Lebensumständen seiner Familie in Äthiopien – insbesondere in Bezug auf die wirtschaftlichen Verhältnisse und die medizinische Situation der Ehefrau und der vier minderjährigen Kinder C. , D. , E. und F. sowie der beiden volljährigen Söhne G. und H. – zu machen und entsprechende Beweismittel einzureichen. Innert Frist liess der Beschwerdeführer über seinen Rechtsvertreter mit Eingabe vom 13. Mai 2024 eine Registrierungskarte UNHCR und Lebensmittelkarte einreichen. Zudem wurde mitgeteilt, das UNHCR-Camp, in dem sich die Familienangehörigen des Beschwerdeführers aufhielten, heisse auf Nachfrage beim UNHCR Alemwach. Der Beschwerdeführer sei aktuell bis Ende Mai 2024 bei seiner Familie in Äthiopien zu Besuch. Weitere Nachweise könnten nicht erbracht werden.

        Die eingereichte UNHCR-Registrierungskarte datiert von Oktober 2018 und bezieht sich auf die Registrierung im ehemalige Flüchtlingslager Adi Harush. Dieses Beweismittel hat der Beschwerdeführer bereits zusammen mit der ebenfalls nochmals eingereichten Lebensmittelkarte mit dem zweiten Familiennachzugsgesuch vom 19. Dezember 2018 eingereicht (vgl. vorinstanzliche Akten, Familiennachzugsgesuch, B1).

        Mit der – verspätet eingereichten – Parteieingabe vom 17. Juli 2024 räumte der Beschwerdeführer nun ein, dass seine Familie seit rund einem Jahr in Addis Abeba in einer privaten _Wohnung lebe und keine Unterstützung vom UNHCR erhalte. Sein in Kanada lebender Bruder sowie – wo möglich – er selber unterstützten die Familie finanziell. Die beiden erwachsenen Söhne G. und H. würden in Eritrea Militärdienst leisten und könnten die Familie nicht finanziell unterstützen. Seine Ehefrau leide an Asthma. Sie habe einen Asthmaspray zur Behandlung und es gehe ihr aktuell besser. Weitere Angaben zu den konkreten Lebensumständen der Familie machte er nicht und unterliess es auch, entsprechende Beweismittel einzureichen.

      8. Im Spannungsverhältnis zwischen der grundsätzlichen Pflicht der Behörde, den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen (Art. 12 VwVG), und der Mitwirkungspflicht der Partei (vgl. Art. 8 AsylG, Art. 13 VwVG) sind jeweils auch die Beweisnähe beziehungsweise die Möglichkeiten der Partei zur Beschaffung entsprechender Dokumente und die vorhandenen behördlichen Abklärungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (vgl. Urteil des BVGer D-4637/2020 vom 15. August 2022 E. 3.4). Die betroffene Partei ist verpflichtet, am Verfahren so mitzuwirken, dass die Behörde in die Situation versetzt wird, den Sachverhalt so zu erfassen, dass sie einen Entscheid treffen kann.

Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer war im Rahmen der ihm obliegenden Mitwirkungspflicht gehalten, substantiierte aktuelle Angaben zum Aufenthaltsort und zu den Lebensumständen seiner Familie in Äthiopien zu machen und alles Zumutbare zu unternehmen, um entsprechende Beweismittel einzureichen. Dieser Pflicht ist der Beschwerdeführer innert Frist nicht nachgekommen.

Mit der verspäteten Eingabe vom 17. Juli 2024 machte der Beschwerdeführer zwar neue Angaben zum Aufenthaltsort der Familie sowie zum Gesundheitszustand der Ehefrau, unterliess es jedoch, diese Vorbringen mit Beweismitteln zu unterlegen. Selbst wenn es dem Beschwerdeführer

aufgrund seines jüngsten Besuchsaufenthalts in Äthiopien im Mai 2024 nicht möglich gewesen sein sollte, innert Frist zu handeln, ist davon auszugehen, dass er – spätestens im Zeitpunkt seiner letzten Eingabe – in der Lage gewesen wäre, neue Beweismittel einzureichen.

Zwar müssen die Lebensbedingungen in Äthiopien generell nach wie vor als prekär bezeichnet werden, weshalb bei Asylentscheiden zur Bestätigung der individuellen Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges nach Art. 83 Abs. 4 AIG gemäss konstanter Praxis zur Existenzsicherung genügend finanzielle Mittel, berufliche Fähigkeiten sowie ein intaktes Beziehungsnetz erforderlich sind (vgl. Referenzurteil des BVGer D-6630/2018 vom 6. Mai 2019 E. 12.4, in Bestätigung von BVGE 2011/25 E. 8.4).

Die rudimentären Angaben des Beschwerdeführers zu den aktuellen Lebensumständen seiner Familie in Äthiopien erschweren eine abschliessende Würdigung. Immerhin scheint sich die Familie gemäss eigenen Angaben des Beschwerdeführers nicht mehr in einem Flüchtlingslager aufzuhalten, sondern seit längerer Zeit in einer Privatwohnung in Addis Abeba zu leben. Auch wenn der Beschwerdeführer im Weiteren geltend macht, seine Familie erhalte keine Unterstützung vom UNHCR, sondern sein in Kanada lebender Bruder und – wo möglich – er selber kämen für die Lebenskosten auf, bleiben die konkreten finanziellen Verhältnisse sowie die weiteren Lebensumstände der Familie weitgehend im Dunkeln.

Aufgrund der ungenügenden Mitwirkung des Beschwerdeführers an der Erstellung des Sachverhalts ist aber unter diesen Umständen vorliegend davon auszugehen, dass einer Familienvereinigung in Äthiopien keine unüberwindbaren Hindernisse entgegenstehen. Dies gilt auch unter der Berücksichtigung der aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkten Arbeitsund Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers.

6.

    1. Vorliegend hat das SEM durch sein striktes Festhalten am Erfordernis, dass sich der Sozialhilfebeitrag absehbar reduzieren müsse, das Recht auf Familienleben für den Beschwerdeführer auch in Zukunft verunmöglicht und dessen private Interessen nicht hoch genug gewichtet. Das Kriterium der Sozialhilfeunabhängigkeit wurde bei der Gesamtwürdigung nicht gemäss der oben ausgeführten neuen Rechtsprechung des EGMR und in der gebotenen Flexibilität angewandt, vor allem vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem Beschwerdeführer um einen Flüchtling handelt. Hinsichtlich der Frage der Verhältnismässigkeit im engeren Sinne ist von entscheiden-

      der Bedeutung, dass der Beschwerdeführer alles ihm Mögliche getan hat, um sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren (vgl. Urteil B.F. and Others

      v. Switzerland, a.a.O., §§ 126 ff.), auch wenn er noch (teilweise) von der Sozialhilfe abhängig ist und dies in absehbarer Zeit auch bleiben wird, doch hat er alles ihm Mögliche getan, um sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren (vgl. Urteil B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O., §§ 126 ff.).

    2. Dennoch überwiegt im konkreten Fall schliesslich das öffentliche Interesse an einer Verweigerung des Familiennachzugs. Der Beschwerdeführer vermochte letztendlich in Bezug auf seine privaten Interessen am Familiennachzug in die Schweiz nicht darzulegen, dass unüberwindbare Hindernisse vorliegen würden, das gemeinsame Familienleben andernorts zu führen. Die Verweigerung des Familiennachzugs hält demnach vor Art. 8 Ziff. 2 EMRK stand beziehungsweise ist verhältnismässig im engeren Sinne.

    3. Eine gesonderte Prüfung einer möglichen Verletzung von Art. 14 EMRK

i.V.m. Art. 8 EMRK (vgl. hierzu Urteil des BVGer E-1339/2010, E 5.3.2 ff.) erübrigt sich vorliegend (vgl. auch Urteil des EGMR B.F. and Others v. Switzerland, a.a.O., § 146). In den obigen Ausführungen zu Art. 8 EMRK wurde bereits dem Umstand Rechnung getragen, dass bei Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht der gleiche Massstab an das Erfordernis der Sozialhilfeunabhängigkeit zu stellen ist wie bei solchen ohne jegliche Beeinträchtigungen.

7.

Nach dem Gesagten erweist sich die Abweisung des Familiennachzugsgesuchs gestützt auf Art. 85 Abs. 7 AIG als rechtmässig. Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen.

8.

Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (vgl. Art. 63 Abs. 1 VwVG). Angesichts der Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung nach Art. 65 Abs. 1 VwVG ist auf die Erhebung von Verfahrenskosten zu verzichten.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.

Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

3.

Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.

Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:

Thomas Segessenmann Mareile Lettau

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