Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung V |
Dossiernummer: | E-5957/2016 |
Datum: | 15.06.2017 |
Leitsatz/Stichwort: | Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren) |
Schlagwörter : | ändig; Verfügung; Bundesverwaltungsgericht; Gericht; Ungarn; Vorinstanz; Verfahren; Parteien; Asylgesuch; Wegweisung; Schweiz; Entscheid; Behörde; Asyls; Urteil; Zuständigkeit; Beurteilung; Recht; Asylsuchende; Parteientschädigung; Richter; Frist; Vollzug; Akten; Instruktionsrichterin; Bericht; Sachverhalts; Asylverfahren; Fragen |
Rechtsnorm: | Art. 48 VwVG ;Art. 63 VwVG ;Art. 64 VwVG ;Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: | Riklin, Basler Kommentar Strafrecht, Art. 53, 2013 |
Abteilung V E-5957/2016
Besetzung Einzelrichterin Barbara Balmelli,
mit Zustimmung von Richter Daniele Cattaneo; Gerichtsschreiberin Evelyn Heiniger.
Parteien A. , geboren am ( ), Sri Lanka,
vertreten durch Gabriel Püntener, Rechtsanwalt, Advokaturbüro,
Beschwerdeführer,
gegen
Vorinstanz.
Gegenstand Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren);
Verfügung des SEM vom 15. September 2016 / N ( ).
Der Beschwerdeführer suchte am 19. Juli 2016 in der Schweiz um Asyl nach. Am 22. Juli 2016 wurde er summarisch befragt und ihm das rechtliche Gehör zur Zuständigkeit Ungarns zur Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens gewährt. Ein Abgleich mit der europäischen Fingerabdruck-Datenbank (Eurodac) habe ergeben, dass er am 29. Juni 2016 in Ungarn um Asyl ersucht habe.
Am 8. August 2016 ersuchte die Vorinstanz die ungarischen Behörden um Übernahme des Beschwerdeführers gestützt auf Art. 18 Abs. 1 Bst. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), ABl. L 180/31 vom 29.6.2013 (Dublin-III-VO).
Die ungarischen Behörden nahmen innerhalb der festgelegten Frist keine Stellung zum Übernahmeersuchen.
Mit Verfügung vom 15. September 2016 trat die Vorinstanz in Anwendung von Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG auf das Asylgesuch nicht ein, verfügte die Wegweisung aus der Schweiz nach Ungarn und forderte den Beschwerdeführer auf, die Schweiz spätestens am Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist zu verlassen. Gleichzeitig ordnete sie den Vollzug der Wegweisung an, händigte dem Beschwerdeführer die editionspflichtigen Akten gemäss Aktenverzeichnis aus und stellte fest, einer allfälligen Beschwerde gegen den Entscheid komme keine aufschiebende Wirkung zu.
Mit Eingabe vom 28. September 2016 reichte der Beschwerdeführer gegen diesen Entscheid beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde ein und beantragte, das Bundesverwaltungsgericht habe nach dem Eingang der vorliegenden Verwaltungsbeschwerde unverzüglich darzulegen, welche Gerichtspersonen mit der Behandlung der vorliegenden Sache betraut werden. Gleichzeitig habe das Gericht mit geeigneten Mitteln zu belegen, dass diese Gerichtspersonen tatsächlich zufällig ausgewählt wurden.
Weiter sei die Verfügung des SEM vom 15. September 2016 aufzuheben und die Sache sei zur Feststellung des vollständigen und richtigen rechtserheblichen Sachverhaltes und zur Neubeurteilung ans SEM zurückzuweisen. Eventuell sei die Verfügung aufzuheben und das SEM anzuweisen, auf das Asylgesuch einzutreten. Die Verfügung sei aufzuheben und es sei die Zuständigkeit der Schweiz für die Beurteilung seines Asylgesuches festzustellen. Eventuell sei die Verfügung aufzuheben und es sei die Unzulässigkeit oder die Unzumutbarkeit des Wegeweisungsvollzuges festzustellen.
In prozessualer Hinsicht sei der vorliegenden Verwaltungsbeschwerde im Sinne einer vorsorglichen Massnahme die aufschiebende Wirkung zu erteilen. Das SEM und die zuständige kantonale Behörde seien anzuweisen, während des Beschwerdeverfahrens von Handlungen zum Vollzug der Wegweisung nach Ungarn abzusehen.
Am 29. September 2016 setzte die Instruktionsrichterin den Vollzug der Überstellung einstweilen aus.
Mit Zwischenverfügung vom 4. Oktober 2016 gewährte die Instruktionsrichterin der Beschwerde die aufschiebende Wirkung und stellte fest, dass der Beschwerdeführer das Verfahren in der Schweiz abwarten dürfe. Sie gab das Spruchgremium bekannt, verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses und forderte den Beschwerdeführer auf, einen ärztlichen Bericht einzureichen.
Am 29. November 2016 ging beim Gericht ein Arztbericht vom 16. November 2016 ein. Dieser wurde dem Beschwerdeführer am 29. November 2016 zur Stellungnahme zugestellt. Am 7. Dezember 2016 antwortete der Beschwerdeführer.
Mit Zwischenverfügung vom 9. Dezember 2015 wies die Instruktionsrichterin den Antrag auf amtliche Abklärung des psychischen Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers ab und setzte Frist zur Einreichung eines ärztlichen Berichts. Innert erstreckter Frist reichte er keinen Bericht ein.
Gemäss Art. 31 VGG ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung von Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG zuständig und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel - wie auch vorliegend
- endgültig (vgl. Art. 83 Bst d Ziff. 1 BGG; Art. 105 AsylG [SR 142.31]). Der Beschwerdeführer ist als Verfügungsadressat zur Beschwerdeführung legitimiert (Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die fristund formgerecht eingereichte Beschwerde (Art. 108 Abs. 2 AsylG, Art. 52 VwVG) ist einzutreten.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
Bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, mit denen es das SEM ablehnt, das Asylgesuch auf seine Begründetheit hin zu überprüfen (Art. 31a Abs. 1-3 AsylG), ist die Beurteilungskompetenz der Beschwerdeinstanz grundsätzlich auf die Frage beschränkt, ob die Vorinstanz zu Recht auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist (BVGE 2011/9 E. 5, BVGE 2012/4 E. 2.2 m.w.H.).
Die Beschwerde erweist sich - wie nachfolgend ausgeführt - als offensichtlich begründet und ist im Verfahren einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise einer zweiten Richterin (Art. 111 Bst. e AsylG) und mit summarischer Urteilsbegründung zu behandeln (Art. 111a Abs. 2 AsylG).
Gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG wurde vorliegend auf einen Schriftenwechsel verzichtet.
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil D-7853/2015 vom
31. Mai 2017 die Entwicklung der Situation für Asylsuchende in Ungarn eingehend analysiert; insbesondere für jene, die in Anwendung der DublinIII-VO nach Ungarn überstellt werden.
In diesem Urteil (vorgesehen zur Publikation als Referenzurteil) hat das Gericht das Vorhandensein zahlreicher Unzulänglichkeiten im ungarischen System festgestellt, welche namentlich den Zugang zum Asylverfahren sowie die Unterbringung der Asylsuchenden in den Transitzonen betreffen.
Das Gericht hat sich insbesondere mit dem am 28. März 2017 in Kraft getretenen ungarischen Rechtsakt T/13976 über „die Änderung mehrerer Gesetze zur Verschärfung des Asylverfahrens in der Überwachungszone der ungarischen Grenze“ befasst. Es hat festgestellt, dass die Umsetzung dieses Aktes, welcher rückwirkend auf sämtliche laufenden Asylverfahren anwendbar ist und eine wesentliche Verschärfung der ungarischen Gesetzgebung mit sich bringt, zahlreiche Unsicherheiten und Fragen nach sich zieht. Es könne daher namentlich nicht mit Sicherheit ermittelt werden, ob Asylsuchende, die nach Ungarn überstellt werden, als nicht aufenthaltsberechtigte Personen angesehen und deshalb in sogenannte „Prätransit“-Zonen abgeschoben werden, oder ob sie als asylsuchende Personen betrachtet werden, deren Gesuche in den Transitzonen zu behandeln sind.
Angesichts der zahlreichen Unsicherheiten, die diese neue Gesetzesänderung hinsichtlich des Verfahrenszugangs und der Aufnahmebedingungen mit sich gebracht habe, sei es dem Bundesverwaltungsgericht gemäss dem derzeitigen Stand der Dinge nicht möglich, das Vorliegen systemischer Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung sowie die Fragen im Zusammenhang mit tatsächlichen Gefahren („real risk“), denen Asylsuchende bei einer Überstellung nach Ungarn ausgesetzt sein könnten, abschliessend zu beurteilen. Folglich hat es die angefochtene Verfügung aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an das Staatssekretariat für Migration zurückgewiesen. Es obliege der erstinstanzlichen Behörde, sämtliche Sachverhaltselemente zusammenzutragen, die zur Beurteilung dieser wesentlichen Fragen erforderlich seien, und es sei nicht die Aufgabe der Beschwerdeinstanz, komplexe ergänzende Abklärungen vorzunehmen. Das Bundesverwaltungsgericht würde sonst mit einem Sachentscheid seine Zuständigkeit überschreiten und die betroffene Partei um den gesetzlich vorgesehenen Instanzenzug bringen (vgl. insbesondere Erwägung 13 des Urteils).
Mit derselben Begründung, wie sie vorstehend dargelegt wurde, ist es dem Gericht vorliegend nicht möglich, die Vorbringen der Beschwerde vom
28. September 2016 zu beurteilen. Die angefochtene Verfügung ist folglich aufzuheben und die Sache zur vollständigen Sachverhaltsfeststellung sowie zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Beschwerde ist also gutzuheissen, ohne dass auf die weiteren Anträge und Beschwerdevorbringen eingegangen werden müsste.
Bei diesem Ausgang des Beschwerdeverfahrens sind keine Verfahrenskosten aufzuerlegen (vgl. Art. 63 Abs. 1 VwVG).
Obsiegende Parteien haben Anspruch auf eine Parteientschädigung für die ihnen erwachsenen notwendigen Kosten (Art. 64 Abs. 1 VwVG, Art. 7 Abs. 1 und 4 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]).
Der Rechtsvertreter hat keine Kostennote eingereicht. Auf entsprechende Nachforderung kann verzichtet werden, da der notwendige Vertretungsaufwand aufgrund der Akten zuverlässig abgeschätzt werden kann. Unter Berücksichtigung der massgebenden Berechnungsfaktoren (Art. 8, Art. 9 und 11 VGKE) ist die Parteientschädigung auf Fr. 1‘500.- (inkl. Auslagen) festzusetzen. Die Vorinstanz ist anzuweisen, dem Beschwerdeführer diesen Betrag als Parteientschädigung zu entrichten.
(Dispositiv nächste Seite)
Die Beschwerde wird gutgeheissen.
Die Verfügung vom 15. September 2016 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Das SEM wird angewiesen, dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 1‘500. auszurichten.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.
Die Einzelrichterin: Die Gerichtsschreiberin:
Barbara Balmelli Evelyn Heiniger
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