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Bundesverwaltungsgericht Urteil E-5720/2016

Urteilsdetails des Bundesverwaltungsgerichts E-5720/2016

Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung V
Dossiernummer:E-5720/2016
Datum:26.09.2016
Leitsatz/Stichwort:Wegweisung und Wegweisungsvollzug (Beschwerde gegen Wiedererwägungsentscheid)
Schlagwörter : Bundesverwaltungsgericht; Wiedererwägung; Beschwerdeführende; Beschwerdeführenden; Verfügung; Beweismittel; Vorinstanz; Wiedererwägungsgesuch; Recht; Wegweisung; Bericht; Urteil; Verfahren; Kosovo; Bundesverwaltungsgerichts; Vollzug; Eingabe; Sinne; Tatsache; Schweiz; Sklerose; Praxis; Wiedererwägungsverfahren; Tatsachen; Ausländer
Rechtsnorm: Art. 111 BV ;Art. 49 BV ;Art. 52 VwVG ;Art. 63 VwVG ;Art. 66 VwVG ;Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:127 V 353
Kommentar:
-

Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung V E-5720/2016

U r t e i l  v o m  2 6.  S e p t e m b e r  2 0 1 6

Besetzung Einzelrichterin Muriel Beck Kadima,

mit Zustimmung von Richter Daniele Cattaneo; Gerichtsschreiberin Alexandra Püntener.

Parteien A. , geboren am ( ), B. , geboren am ( ), Kosovo,

beide vertreten durch lic. iur. Marcel Zirngast, Rechtsanwalt, ( ),

Beschwerdeführende,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Wegweisung und Wegweisungsvollzug (Nichteintreten auf Wiedererwägungsgesuch);

Verfügung des SEM vom 13. September 2016 / N ( ).

Sachverhalt:

A.

Die Beschwerdeführenden suchten am 2. November 2014 in der Schweiz um Asyl nach. Mit Verfügung vom 4. Dezember 2014 wurden die Asylgesuche abgelehnt, die Beschwerdeführenden aus der Schweiz weggewiesen und der Vollzug der Wegweisung angeordnet. Eine gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde wurde mit Urteil E-7289/2014/E-7293/2014 vom Bundesverwaltungsgericht am 28. Juni 2016 abgewiesen.

B.

Mit Eingabe vom 2. September 2016 reichten die Beschwerdeführenden durch ihren Rechtsvertreter beim SEM ein Wiedererwägungsgesuch ein und beantragten die Gewährung der vorläufigen Aufnahme. Dabei machten sie geltend, es könne neu dokumentiert werden, dass eine angemessene Behandlung und Pflege der an Multipler Sklerose leidenden Beschwerdeführerin im Kosovo nicht möglich sei. Dies gehe aus einer Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH), Kosovo: Behandlung von Multipler Sklerose, vom 31. August 2016, hervor. Damit sei davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Wegweisung in den Kosovo mit einer existenziellen Beeinträchtigung ihrer Gesundheit zu rechnen habe. Sie könne weder ausreichend medikamentös behandelt werden, noch könne ihrer Pflegebedürftigkeit ausreichend begegnet werden. Der Vollzug der Wegweisung sei daher unzumutbar.

C.

Mit Verfügung vom 13. September 2016 - eröffnet am 14. September 2016

- trat das SEM auf das Wiedererwägungsgesuch nicht ein und erklärte die Verfügung vom 4. Dezember 2014 als rechtskräftig und vollstreckbar. Einer allfälligen Beschwerde gegen diesen Entscheid komme keine aufschiebende Wirkung zu.

D.

Mit Eingabe vom 19. September 2016 erhoben die Beschwerdeführenden durch ihren Rechtsvertreter beim Bundesverwaltungsgericht dagegen Beschwerde und beantragten die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Anweisung an die Vorinstanz, auf das Wiedererwägungsgesuch vom 2. September 2016 einzutreten. Eventualiter sei die Eingabe vom

2. September 2016 als Revisionsgesuch entgegenzunehmen, wobei auf den Vollzug der Wegweisung der Beschwerdeführenden zu verzichten und deren vorläufige Aufnahme in der Schweiz anzuordnen sei.

In verfahrensrechtlicher Hinsicht wurde um vorsorgliche Aussetzung des Vollzugs der Wegweisung sowie um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege unter Beiordnung des unterzeichnenden Rechtsvertreters als amtlicher Rechtsbeistand und um Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses ersucht. Auf die Begründung wird in den nachfolgenden Erwägungen eingegangen.

E.

Das Bundesverwaltungsgericht verfügte am 20. September 2016 gestützt auf Art. 56 VwVG die sofortige einstweilige Aussetzung des Wegweisungsvollzugs.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Nachdem gemäss Lehre und Praxis Wiedererwägungsentscheide grundsätzlich wie die ursprüngliche Verfügung auf dem ordentlichen Rechtsmittelweg weitergezogen werden können, ist das Bundesverwaltungsgericht für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde zuständig. Es entscheidet auf dem Gebiet des Asyls - in der Regel und auch vorliegend - endgültig (Art. 105 AsylG [SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

    2. Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht. Die Beschwerdeführenden haben am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, sind durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und haben ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Sie sind daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 2 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.

Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG, im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).

3.

Über offensichtlich begründete Beschwerden wird in einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise einer zweiten Richterin entschieden (Art. 111 Bst. e AsylG). Wie nachstehend aufgezeigt, handelt es sich vorliegend um eine solche, weshalb der Beschwerdeentscheid nur summarisch zu begründen ist (Art. 111a Abs. 2 AsylG).

4.

Gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG wurde vorliegend auf die Durchführung eines Schriftenwechsels verzichtet.

5.

    1. Das Wiedererwägungsverfahren ist im Asylrecht spezialgesetzlich geregelt (vgl. Art. 111b ff. AsylG). Ein entsprechendes Gesuch ist dem SEM innert 30 Tagen nach Entdeckung des Wiedererwägungsgrundes schriftlich und begründet einzureichen; im Übrigen richtet sich das Verfahren nach den revisionsrechtlichen Bestimmungen von Art. 66-68 VwVG (Art. 111b Abs. 1 AsylG).

    2. In seiner praktisch relevantesten Form bezweckt das Wiedererwägungsgesuch die Änderung einer ursprünglich fehlerfreien Verfügung an eine nachträglich eingetretene erhebliche Veränderung der Sachlage (vgl. BVGE 2014/39 E. 4.5 m.w.H.). Falls die abzuändernde Verfügung unangefochten blieb oder ein eingeleitetes Beschwerdeverfahren mit einem blossen Prozessentscheid abgeschlossen wurde, können auch Revisionsgründe einen Anspruch auf Wiedererwägung begründen. Ein solchermassen als qualifiziertes Wiedererwägungsgesuch zu bezeichnendes Rechtsmittel war und ist grundsätzlich nach den Regeln des Revisionsverfahrens zu behandeln. Massgeblich ist vorliegend Art. 66 Abs. 2 Bst. a VwVG, wonach nebst anderem dann Revisionsgründe vorliegen, wenn eine Partei neue erhebliche Tatsachen oder Beweismittel vorbringt.

    3. Beweismittel im revisionsrechtlichen Sinn sind neu, wenn sie entweder die neu erfahrenen erheblichen Tatsachen belegen oder geeignet sind, Tatsachen zu belegen, die zwar im früheren Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil der gesuchstellenden Person unbewiesen geblieben sind (vgl. BGE 127 V 353 E. 5b, S. 358). Nachträglich entstandene Beweismittel können auf dem Weg des Wiedererwägungsgesuchs bei der verfügenden

Behörde - vorliegend dem SEM - eingereicht werden (vgl. Art. 111b AsylG; BVGE 2013/22 E. 6 - 13).

6.

Vorliegend handelt es sich bei dem zusammen mit dem Wiedererwägungsgesuch sowie im vorliegenden Beschwerdeverfahren eingereichten Bericht des SFH vom 31. August 2016 um ein Beweismittel, das nach dem Urteil vom 28. Juni 2016 entstanden ist. Zudem machen die Beschwerdeführenden geltend, aufgrund dieses Berichts, der sich auf aktuelle fachkundige Abklärungen vor Ort stütze, müsse der Vollzug der Wegweisung als unzumutbar im Sinne von Art. 83 Abs. 4 Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (Ausländergesetz, AuG, SR 142.20) bezeichnet werden. Sie berufen sich damit sinngemäss auf den Revisionsgrund der Einreichung nachträglich entstandener erheblicher Beweismittel, welche geeignet sind, Tatsachen zu belegen, die zwar im früheren Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil der gesuchstellenden Person unbewiesen geblieben sind (vgl. E. 5.3 hievor).

7.

    1. Die Vorinstanz begründete ihren Nichteintretensentscheid damit, die in BVGE 2013/22 aufgezeigte Praxis des Bundesverwaltungsgerichts finde vorliegend keine Anwendung. So sei der Bericht der SFH vom 31. August 2016 nicht als neues Beweismittel im ursprünglichen Sinne einzustufen, da er sich auf dieselbe Situation beziehe, wie das Bundesverwaltungsgericht bei seinem Urteil vom 28. Juni 2016. Hierfür spreche in erster Linie die geringe Zeitspanne zwischen Urteilsfällung und Erstellung des Berichts. Es werde darin auch keine zwischenzeitliche Veränderung der Situation geltend gemacht, „wodurch sich dieser gegen die Beurteilung der Lage zum Zeitpunkt der Urteilsfällung des Bundesverwaltungsgerichts“ richte. Somit würden keine Gründe angeführt, die erstinstanzlich im Rahmen eines Wiedererwägungsverfahrens oder erneuten Asylverfahrens zu beurteilen wären. Die Eingabe falle damit nicht in die Zuständigkeit des SEM, sondern sei als Revisionsgesuch an das Bundesverwaltungsgericht zu richten.

    2. In der Rechtsmitteleingabe wird dazu eingewendet, es sei aufgrund des aktuellen Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin und deren Pflegebedürftigkeit ein Bericht der SFH vom 31. August 2016 vorgelegt worden, der sich auf aktuelle, fachkundige Abklärungen vor Ort zur Behandelbarkeit von Multipler Sklerose im Kosovo äussere. Die Vorinstanz räume in der angefochtenen Verfügung zwar ein, dass sie gemäss der Praxis des

Bundesverwaltungsgerichts bei der Einreichung nachträglich entstandener Beweismittel, die eine vorbestandene, unbewiesen gebliebene und nun beweisbare Tatsache betreffen, wiedererwägungsweise erstinstanzlich eine materielle Prüfung vorzunehmen hätte. Dass diese Praxis gemäss SEM vorliegend nicht anzuwenden sei, weil es sich beim Bericht der SFH nicht um ein neues Beweismittel im ursprünglichen Sinne handle, sei indessen nicht nachvollziehbar. So stütze sich der Bericht auf ganz neue und aktuelle Abklärungen vor Ort vom August 2016.

8.

Das Bundesverwaltungsgericht teilt die Einschätzung der Vorinstanz nicht, wonach es sich beim eingereichten Bericht der SFH vom 31. August 2016 nicht um ein - im revisionsrechtlichen Sinn - neues Beweismittel handle, weil sich dieses auf dieselbe Situation wie im Zeitpunkt des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Juni 2016 beziehe und lediglich erst zwei Monate später erstellt worden sei. Im Gegenteil handelt es sich dabei, wie von den Beschwerdeführenden zutreffend ausgeführt, um ein neues Beweismittel im revisionsrechtlichen Sinne, mit welchem eine vorbestandene Situation - vorliegend die fehlende medizinische Behandlungsmöglichkeit einer Multiplen Sklerose im Kosovo - anders beurteilt werden soll. Da es nachträglich entstanden ist, haben die Beschwerdeführenden ihre Eingabe vom 2. September 2016 zu Recht als Wiedererwägungsgesuch an die Vorinstanz gerichtet (vgl. BVGE 2013/22 E. 12.3).

9.

Daraus ergibt sich, dass das SEM zu Unrecht auf das Wiedererwägungsgesuch der Beschwerdeführenden vom 2. September 2016 nicht eingetreten ist. Die angefochtene Verfügung ist daher aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen, das Wiedererwägungsverfahren wieder aufzunehmen und fortzusetzen. Dabei wird es zu prüfen haben, ob das neue, nachträglich entstandene Beweismittel auch erheblich und damit geeignet ist, zu einem anderen, für die Beschwerdeführenden günstigeren Ergebnis zu führen.

10.

Mit dem vorliegenden Entscheid werden die übrigen Anträge der Beschwerdeführenden gegenstandslos.

11.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG).

Den vertretenen Beschwerdeführerenden ist angesichts ihres Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 VGKE eine Entschädigung für die ihnen notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen. Es wurde keine Kostennote zu den Akten gereicht, weshalb die notwendigen Parteikosten aufgrund der Akten zu bestimmen sind (Art. 14 Abs. 2 in fine VGKE). Die von der Vorinstanz auszurichtende Parteientschädigung wird in Anwendung der genannten Bestimmungen und unter Berücksichtigung der massgeblichen Bemessungsfaktoren demnach von Amtes wegen pauschal auf insgesamt Fr. 770.- (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuerzuschlag) festgelegt.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2.

Die angefochtene Verfügung wird aufgehoben. Das SEM wird angewiesen, das Wiedererwägungsverfahren wieder aufzunehmen und fortzusetzen.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.

4.

Das SEM wird angewiesen, den Beschwerdeführenden für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 770.- auszurichten.

5.

Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführenden, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

Die Einzelrichterin: Die Gerichtsschreiberin:

Muriel Beck Kadima Alexandra Püntener

Versand:

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