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Bundesverwaltungsgericht Urteil E-5358/2010

Urteilsdetails des Bundesverwaltungsgerichts E-5358/2010

Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung V
Dossiernummer:E-5358/2010
Datum:27.02.2013
Leitsatz/Stichwort:Asyl und Wegweisung
Schlagwörter : Quot;; Beschwerdeführer; Verfügung; Bundesverwaltungsgericht; Beweis; Verfolgung; Schweiz; Vorbringen; Sinne; Beweismittel; Akten; Beschwerdeführers; Vorinstanz; Flüchtlingseigenschaft; Flucht; Familie; Glaubhaft; Aussage; Widerstandskämpfer; Schilderung; Person; Beschwerdeführern; Recht; Verfahren; Aussagen; Schilderungen; Festnahme; Schwiegermutter
Rechtsnorm: Art. 24 StGB ;Art. 63 VwVG ;Art. 64 VwVG ;Art. 65 VwVG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
Donatsch, Schweizer, Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht I, 2b, Art. 190 DBG, 2008

Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung V E-5358/2010

U r t e i l  v o m  27.  F e b r u a r  2 0 1 3

Besetzung Richter Daniel Willisegger (Vorsitz),

Richter Daniele Cattaneo, Richterin Christa Luterbacher; Gerichtsschreiberin Linda Rindlisbacher.

Parteien A. , geboren am ( ), B. , geboren am ( ), C. , geboren am ( ), D. , geboren am ( ), E. , geboren am ( ), Russland,

alle vertreten durch lic. iur. Christian Wyss, Fürsprecher, ( ),

Beschwerdeführer 1-5,

gegen

Bundesamt für Migration (BFM), Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Gegenstand Asyl und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 23. Juni 2010 / N ( ).

Sachverhalt:

A.

Die Beschwerdeführerinnen 2-3, russische Staatsangehörige und Volkszugehörige der Tschetschenen aus ( ), stellten am 10. Februar 2003 ein erstes Asylgesuch in der Schweiz. Am ( ) brachte die Beschwerdeführerin 2 den Beschwerdeführer 4 zur Welt. Mit Verfügung vom 27. Juni 2003 lehnte das BFM das Asylgesuch ab und verfügte die Wegweisung aus der Schweiz. Eine gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 1. Juni 2007 ab. Am 10. Oktober 2008 reisten die Beschwerdeführer 2-4 kontrolliert nach Moskau/Russland ab.

B.

Am 7. Mai 2010 wurden die Beschwerdeführer bei der illegalen Einreise von Österreich in die Schweiz vom schweizerischen Grenzwachtkorps mit gefälschten spanischen Aufenthaltstiteln aufgegriffen.

C.

Am 10. Mai 2010 reichten die Beschwerdeführer in der Schweiz ein Asylgesuch ein. Am 17. Mai 2010 wurden die Beschwerdeführer 1 und 2 summarisch befragt. Der Beschwerdeführer 1 wurde am 27. Mai 2010 und am 4. Juni 2010, die Beschwerdeführerin 2 am 4. Juni 2010 vertieft zu den Asylgründen angehört.

D.

Mit Verfügung vom 23. Juni 2010 - eröffnet am 25. Juni 2010 - stellte das BFM fest, dass die Gesuchsteller die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllten, lehnte das Asylgesuch ab, wies die Beschwerdeführer aus der Schweiz weg und beauftragte den zuständigen Kanton mit dem Vollzug der Wegweisung.

E.

Die Beschwerdeführer erhoben dagegen am 26. Juli 2010 (Poststempel) beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde und beantragten, es sei die angefochtene Verfügung aufzuheben. Eventualiter seien die Ziffern 4 und 5 der angefochtenen Verfügung aufzuheben und es sei vom Vollzug der Wegweisung abzusehen. In prozessualer Hinsicht beantragten sie, es sei ihnen die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren, der Unterzeichnende als amtlicher Anwalt beizuordnen, auf die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten und eine Nachfrist zum Nachreichen von Beweismitteln einzuräumen.

F.

Am ( ) wurde der Beschwerdeführer 5 in der Schweiz geboren, welcher in das Asylverfahren der Beschwerdeführer 1 bis 4 einbezogen wurde.

G.

Mit Zwischenverfügung vom 11. August 2010 stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass die Beschwerdeführer den Ausgang des Verfahrens in der Schweiz abwarten können, hiess das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne von Art. 65 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 1968 (VwVG, SR 172.021) gut und verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Weiter forderte es die Beschwerdeführer auf, innert 30 Tagen die in Aussicht gestellten Beweismittel nachzureichen unter der Androhung, dass bei ungenutztem Ablauf der Frist das Verfahren aufgrund der Akten weitergeführt werde. Am 10. September 2010 und am 7. September 2012 reichten die Beschwerdeführer weitere Beweismittel ein.

H.

Auf die Durchführung eines Schriftenwechsels wurde gestützt auf Art. 111a Abs. 1 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG, SR 142.31) verzichtet.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

Gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 (VGG, SR 173.32) ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung von Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG zuständig und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel - wie auch vorliegend - endgültig (vgl. Art. 83 Bst d Ziff. 1 des Bundesgerichtsgesetzes vom

17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]; Art. 105 AsylG). Die Beschwerdeführer sind als Verfügungsadressaten zur Beschwerdeführung legitimiert (Art. 48 VwVG). Auf die fristund formgerecht eingereichte Beschwerde (Art. 108 Abs. 1 AsylG und Art. 52 VwVG) ist einzutreten.

2.

Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).

3.

    1. Die Vorinstanz begründet die angefochtene Verfügung damit, dass die Vorbringen des Beschwerdeführers 1 nicht plausibel seien. Die Aussagen würden nicht den Eindruck hinterlassen, dass er selbst und tatsächlich im Zentrum des Geschehens gestanden habe. Die Schilderungen der Festnahme Mitte ( ) und der Folterungen seien stets pauschal und oberflächlich ausgefallen. Er habe sich in seiner Darstellung lediglich auf eine chronologische Auflistung von äusseren Umständen beschränkt. Es sei deshalb davon auszugehen, dass er die Asylgründe vor dem Hintergrund allgemein bekannter Tatsachen aus Tschtschenien konstruiert und mit eigenen Erfahrungen während einem gewöhnlichen Strafverfahren vermischt habe. Die gelten gemachten - im Übrigen reizlosen und sehr gut verheilten - Narben änderten daran nichts. Diese könnten die behauptete Ursache weder nachweisen noch glaubhaft machen. Die Zweifel würden durch die ebenso vagen und pauschalen Schilderungen betreffend den Angriff auf den Familienrat und die anschliessende Flucht erhärten.

      Die Einschätzung konstruierter Vorbringen werde durch die Aussagen der Beschwerdeführerin 2 bestätigt. Sie habe zu Protokoll gegeben, dass ihrer Schwiegermutter empfohlen worden sei, der Beschwerdeführer 1 solle Inguschetien verlassen, weil die inguschetische Staatsanwaltschaft eine Anfrage bezüglich dessen Festnahme erhalten habe. Weiter habe die Beschwerdeführerin 2 angegeben, dass es vielleicht möglich wäre, über die Schwiegermutter an entsprechende Beweismittel zu gelangen. Dieses als wesentlich einzustufende Vorbringen einer behördlichen Suche habe der Beschwerdeführer 1 jedoch in keiner der Befragungen erwähnt, sondern statt dessen ausgeführt, er habe keine Beweismittel.

      Die Vorbringen der Beschwerdeführer hielten den Anforderungen an die Glaubhaftigkeit nicht stand. Sie seien auch nicht asylrelevant. Aus dem Umstand, dass die mit ihnen verwandten Angehörigen der Familie F. sowie ein Neffe mit dessen vierjährigem Sohn getötet worden seien, könnten die Beschwerdeführer keine Asylrelevanz herleiten.

    2. In der Beschwerde wird dagegen vorgebracht, die Schilderungen des Beschwerdeführers 1 seien konsistent, dicht und stimmig und würden mit den Ausführungen der Beschwerdeführerin 2 im Wesentlichen übereinstimmen. Er habe die Situation detailliert geschildert und äussere sich zu den eigenartigen psychischen Reaktionen, wenn man plötzlich das eigene Leben vor Augen sieht und nicht nur die grosse Bedrohung.

Nach dem Erlebten habe er Techniken entwickelt, um die Gefühle zu verbergen oder zu verdrängen. Narben zeugten von der gewaltsamen Behandlung. Aus der Tatsache, dass er sich nach der Freilassung nicht in Spitalpflege begeben habe, sondern sich möglichst weit entfernen wollte, lasse sich nicht schliessen, die Verletzungen seien nicht anlässlich der Festnahme und des Verhörs entstanden.

Da bei Treffen des Familienclans Widerstandskämpfer teilgenommen hätten, seien vorsorglich Fluchtwege und Fluchtfahrzeuge vorbereitet worden, weshalb es nicht unwahrscheinlich sei, dass viele Familienmitglieder fliehen und in Sicherheit gebracht werden konnten.

4.

Gemäss Art. 7 AsylG muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen, wer um Asyl nachsucht. Das Bundesverwaltungsgericht prüft in einem ersten Schritt die Glaubhaftigkeit der Vorbringen des Beschwerdeführers 1 (E. 5) und in einem zweiten Schritt deren Asylrelevanz (E. 6).

5.

    1. Glaubhaft gemacht ist die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 7 AsylG, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält (Abs. 2). Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet, oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden (Abs. 3).

      Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Vorbringen dann glaubhaft, wenn sie genügend substanziiert, in sich schlüssig und plausibel sind; sie dürfen sich nicht in vagen Schilderungen erschöpfen, in wesentlichen Punkten nicht widersprüchlich sein oder der inneren Logik entbehren und auch nicht den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung widersprechen. Glaubhaftmachung bedeutet - im Gegensatz zum strikten Beweis - ein reduziertes Beweismass. Eine Behauptung gilt bereits als glaubhaft gemacht, wenn sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dargetan ist. Für die Glaubhaftmachung reicht es demgegenüber nicht aus, wenn der Inhalt der Vorbringen zwar möglich ist, aber in Würdigung der gesamten Aspekte wesentliche und überwiegende Umstände gegen die vorgebrachte Sachverhaltsdarstellung sprechen. Entscheidend ist im Sinne einer Gesamtwürdigung, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht; dabei ist auf eine objektivierte Sichtweise abzustellen (vgl. zum Ganzen BVGE 2010/57 E. 2.2 und 2.3 und Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D- 859/2010 vom 10. Oktober 2011 E. 3.2).

    2. Vorliegend steht unbestrittenermassen fest, dass der Beschwerdeführer 1 mit Widerstandskämpfern verwandt ist und mehrere Verwandte deshalb getötet wurden. Es ist bekannt, dass in Tschetschenien gegen Widerstandskämpfer und Verwandte zum Teil rigoros vorgegangen wird. Weiter ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer 1 am Anfang der Anhörung fragte, ob er sich "kurz und bündig ausdrücken" dürfe, weil es "eine grosse Geschichte gebe", wenn er alles erzählen soll. Vor diesem Hintergrund dürfen an die Detailliertheit der Aussagen keine überspannten Anforderungen gestellten werden.

      Betreffend die Schilderung der Festnahme, Verhöre und Folterungen im ( ) hat der Beschwerdeführer 1 sich indes keineswegs auf eine chronologische Auflistung äusserer Umständen beschränkt, wie die Vorinstanz annimmt. Zwar trifft zu, dass die Ausführungen relativ nüchtern ausfielen. Daraus allein lässt sich aber nicht schliessen, das Erzählte sei nicht selbst erlebt, weil Betroffene auf prägende Erlebnisse sehr unterschiedlich reagieren. Der Beschwerdeführer 1 führt zur Erklärung an, er habe Techniken entwickelt, um Gefühle zu verbergen oder zu verdrängen, was angesichts der mehrjährigen Gefangenschaft nicht weiter erstaunt.

      Entgegen der Auffassung der Vorinstanz weisen die Schilderungen zahlreiche Realitätskennzeichen wie die direkte Wiedergabe von Gesprächen, die Beschreibung innerer Vorgänge und nebensächlicher Einzelheiten auf. So gab der Beschwerdeführer 1 an, dass ein Eimer mit Wasser und ein leerer Eimer im Raum standen (BFM-Akten B11/12 A2 oben). Weiter führt er aus, die Nische ("eine Art Käfig"; B10/10 A41) sei zuerst mit chlorhaltigem Wasser übergossen worden, bevor die Peiniger ihn nach dem ersten Verhör wieder dort hinein geworfen hätten (B11/12 A2 unten). Seine Vorbringen hinterlassen auch sonst einen durchaus echten, lebensnahen und - unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse in der Herkunftsregion - einen glaubhaften Eindruck. Die Aussagen sind differenziert (z.B. B11/12 A7: "hier am Arm habe ich drei Narben, diese drei unteren sind während der Verhaftung entstanden, die obere in der Haft") und detailgenau, auch was die eigene Wahrnehmung anbelangt (z.B. B11/12 A9: "ich erinnere mich daran, weil ich beim Anblick der Wunde die darunterliegende Sehne gesehen habe, was mich damals beeindruckt

      hat"). Die Ausführungen lassen sich nicht als pauschal bezeichnen, sondern der Beschwerdeführer 1 hat durchaus konkret, anschaulich und bildhaft ausgesagt (B11/12 A18: "in diesem Moment, als mit der Pistole auf mich gezielt wurde, lief mir mein bisheriges dreissigjähriges Leben wie ein Fotofilm vor meinen Augen vorbei. Es war erstaunlich, dass man sich an so vieles erinnern kann. Es lief ein Bild nach dem anderen vor den Augen ab"). Für die Glaubhaftigkeit sprechen schliesslich die zahlreichen körperlichen Folterspuren.

      Schliesslich liegen keine unvereinbaren Widersprüche in den Ausführungen des Beschwerdeführers 1 und der Beschwerdeführerin 2 vor. Der Ehemann gab anlässlich der Anhörung nämlich zu Protokoll, man habe seiner Mutter gesagt, sie solle dafür sorgen, dass er nicht in Inguschetien bleibe (BFM-Akten 11/12 A40). Auch wenn er dabei nicht ausdrücklich auf die Staatsanwaltschaft Bezug nimmt, stimmt die Aussage im Kern mit jener der Beschwerdeführerin 2 überein. Diese sagte aus, der Schwiegermutter sei empfohlen worden, den Beschwerdeführer 1 (Sohn bzw. Ehemann) ausserhalb Inguschetien zu bringen, weil die Staatsanwaltschaft eine Anfrage bezüglich seiner Festnahme erhalten hatte (BFM-Akten 12/7 A3). Das habe ihr die Schwiegermutter erzählt, die es von ( ), die im Innenministerium arbeiteten, erfahren habe (BFM-Akten 12/7 A18). Die Vorinstanz stellt sodann zwar richtig fest, dass es nach Aussage der Frau "vielleicht möglich wäre, über die Schwiegermutter an ein entsprechendes Beweismittel zu gelangen" (angefochtene Verfügung, S. 4). Das steht jedoch nicht im Widerspruch dazu, dass der Mann zu Beginn der Anhörung auf die allgemeine Frage nach weiteren Dokumenten und Beweismitteln zur Antwort gab: "Nein, ich habe keine weiteren [Beweismittel], ich konnte nichts beschaffen" (BFM-Akten, A4). Vor Bundesverwaltungsgericht ist das Vorbringen der behördlichen Suche durch einen Originalbeleg mit Übersetzung bestätigt worden (Gerichtsakten, act. 7 [dort erwähnte Beilage 4, im Original nachgereicht]).

    3. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Vorinstanz überspannte Anforderungen an das Glaubhaftmachen im Sinne von Art. 7 AsylG gestellt, Realkennzeichen verkannt und damit Bundesrecht verletzt hat. Aufgrund der glaubhaften Ausführungen des Beschwerdeführers erübrigt sich, auf die ins Recht gelegte Beweismittel näher einzugehen.

6.

    1. Nach Lehre und Praxis setzt die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 3 AsylG voraus, dass die asylsuchende Person ernsthafte Nachteile von bestimmter Intensität erlitten hat beziehungsweise solche im Fall einer Rückkehr in den Heimatstaat befürchten muss. Die Nachteile müssen gezielt und aufgrund bestimmter Verfolgungsmotive drohen oder zugefügt worden sein. Ausgangspunkt für die Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft ist die Frage, ob im Zeitpunkt der Ausreise eine Verfolgung oder eine begründete Furcht vor einer solchen bestand. Die Verfolgungsfurcht muss im Zeitpunkt des Asylentscheides noch bestehen, d.h. aktuell sein. Veränderungen der objektiven Situation im Heimatstaat zwischen Ausreise und Asylentscheid sind deshalb zugunsten und zulasten der Asylsuchenden zu berücksichtigen. Die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt zudem voraus, dass die betroffene Person einer landesweiten Verfolgung ausgesetzt ist und sich nicht in einem anderen Teil ihres Heimatstaates in Schutz bringen kann. (vgl. BVGE 2010/57 E. 2 und die dort genannten Zitate und Literaturhinweise).

      Begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 AsylG liegt vor, wenn ein konkreter Anlass zur Annahme besteht, letztere hätte sich - aus der Sicht im Zeitpunkt der Ausreise - mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zeit verwirklicht oder werde sich - aus heutiger Sicht - mit ebensolcher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zukunft verwirklichen. Es müssen somit hinreichende Anhaltspunkte für eine konkrete Bedrohung vorhanden sein, die bei jedem Menschen in vergleichbarer Lage Furcht vor Verfolgung und damit den Entschluss zur Flucht hervorrufen würden. Dabei hat die Beurteilung einerseits aufgrund einer objektivierten Betrachtungsweise zu erfolgen und ist andererseits durch das von der betroffenen Person bereits Erlebte und das Wissen um Konsequenzen in vergleichbaren Fällen zu ergänzen. Wer bereits staatlichen Verfolgungsmassnahmen ausgesetzt war, hat objektive Gründe für eine stärker ausgeprägte (subjektive) Furcht (vgl. BVGE 2010/57 E. 2.5).

    2. Aufgrund der glaubhaften Vorbringen des Beschwerdeführers 1 ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:

      Der Beschwerdeführer 1 wurde am ( ) wegen Schädigung der Wirtschaft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Am ( ) wurde er bedingt entlassen. Danach baute er sich ( ) in G. auf. Im ( ) wurde er von der ORB 2 (zweite operationelle Untersuchungsbehörde) festgenommen,

      nachdem er verwandte Widerstandskämpfer in seinem Haus aufgenommen und verpflegt hatte. Er wurde während eines Tages befragt und gefoltert. Die Ältesten des Familienclans konnten seine Freilassung bewirken. Danach begab er sich mit den Beschwerdeführern 2 bis 4 zunächst nach H. , Inguschetien, zu seiner Mutter. Aufgrund von Hinweisen, dass er auch in Inguschetien gesucht werde, begab er sich in das Gebiet von Moskau. Nachdem sein Vater und sein Onkel sich mit ORB-2- Leuten unterhalten und diese ihnen zugesichert hatten, dass der Beschwerdeführer 1 nicht mehr behelligt würde, kehrte er in seine Heimatstadt zurück. Im ( ) 2010 wurde ein Familientreffen organisiert. Ziel des Treffens war es, die Familienangehörigen davon zu überzeugen, mit dem Widerstandskampf aufzuhören. Im Verlauf des Gespräches wurde das Haus gestürmt. Ein Cousin des Beschwerdeführers 1 wurde getötet, ihm selbst gelang die Flucht.

      Durch Folter hat der Beschwerdeführer 1 gezielte, flüchtlingsrechtlich relevante staatliche Verfolgungsmassnahmen erlitten, die angesichts ihrer Intensität offensichtlich als erhebliche Nachteile im Sinne von Art. 3 Abs. 2 AsylG zu qualifizieren sind. Die Peinigungen wurden ihm zugefügt, weil er verwandte Widerstandskämpfer unterstützt hat. Der Beschwerdeführer 1 erfüllte damit im Zeitpunkt der Ausreise aus dem Heimatstaat die Flüchtlingseigenschaft. Letztlich ist der Zeitpunkt des Asylentscheides massgeblich, weshalb zu prüfen ist, ob die Furcht vor einer absehbaren Verfolgung (noch) begründet ist.

    3. In Tschetschenien leben immer noch Verwandte des Beschwerdeführers 1, die sich im Widerstandskampf befinden. Nach seinen Aussagen gelten Verwandte von Widerstandskämpfern, die umgekommen sind, als potentielle Rächer. Die Verfolgungsgefahr zeigt sich auch darin, dass eine Hausstürmung mit Todesfolgen stattfand, obschon der Beschwerdeführer 1 nach der ersten Inhaftierung freigelassen wurde und das ORB 2 seinem Vater zugesichert hatte, es werde keine Behelligungen mehr geben. Unter diesen Umständen muss von einer begründeten Verfolgungsfurcht ausgegangen werden, die nach wie vor aktuell ist.

    4. Eine Fluchtalternative innerhalb der Russischen Föderation lässt sich vorliegend nicht annehmen. Eine solche kann einem Asylsuchenden entgegengehalten werden, wenn er am Zufluchtsort voraussichtlich wirksamen Schutz vor unmittelbarer und mittelbarer staatlicher Verfolgung findet. In einer Einzelfallprüfung und unter Berücksichtigung des länderspezifischen Kontextes ist zu beurteilen, ob einer betroffenen Person ange-

sichts der sich konkret abzeichnenden Lebenssituation am Zufluchtsort zugemutet werden kann, sich dort niederzulassen und eine neue Existenz aufzubauen (vgl. BVGE 2011/51 E. 8.5.1. S. 18 und E. 8.6. S. 20). Eine wirksame Schutzgewährung erscheint insbesondere dann nicht gegeben, wenn die betroffene Person in ihrer Heimatregion - wie hier - von Organen der Zentralgewalt und damit unmittelbar staatlich verfolgt worden ist, da diesfalls ein Wegzug in einen anderen Landesteil solche Nachstellungen regelmässig nicht effektiv zu unterbinden vermag (vgl. zum Ganzen auch EMARK 1996 Nr. 1). Da dem Beschwerdeführer 1 keine sichere Fluchtalternative zur Verfügung steht, erfüllt er die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 3 AsylG.

7.

    1. Gemäss Art. 53 AsylG wird Flüchtlingen kein Asyl gewährt, wenn sie wegen verwerflicher Handlungen dessen unwürdig sind oder wenn sie die innere oder die äussere Sicherheit der Schweiz verletzt haben oder gefährden. Unter den Begriff der «verwerflichen Handlungen» fallen nach konstanter Praxis Straftaten, die dem Verbrechensbegriff des Strafrechts entsprechen (vgl. BVGE 2011/10, E. 6 mit zahlreichen Hinweisen). Verbrechen im Sinne von Art. 10 Abs. 2 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs vom 21. Dezember 1937 (StGB, SR 311.0) sind Straftaten, die mit einer Strafe von mehr als 3 Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind.

    2. Der Beschwerdeführer 1 wurde wegen Schädigung der Wirtschaft am ( ) verurteilt. Sein Cousin und dessen Freund wurden in Moskau kontrolliert und die Behörden kamen zum Schluss, dass ein Teil des Geldes gefälscht gewesen sei. Der Beschwerdeführer 1, dem die Beteiligung an einem Falschgeld-Schmuggel zur Last gelegt wurde, sagte aus, er sei in die Sache hingezogen worden, ohne damit etwas zu tun zu haben (BFMAkten, B11/12 A12).

Aufgrund der Akten lässt sich nicht ausmachen, dass der Beschwerdeführer 1 wegen einer Fälschungshandlung verurteilt worden wäre. Die inkriminierte Tat ist unter schweizerischem Strafrecht nach Art. 242 StGB zu würdigen ("In Umlaufsetzen falschen Geldes"). Da der Straftatbestand als Vergehen ausgestaltet ist, brauchen die näheren Umstände der Verurteilung nicht weiter untersucht werden, weil sie keine Asylunwürdigkeit im Sinne von Art. 53 AsylG nach sich zieht. Dem Beschwerdeführer 1 ist demnach in der Schweiz Asyl zu erteilen.

8.

Die Beschwerdeführerin 2 (Ehegattin) macht keine eigenen Fluchtgründe geltend. Sie und die minderjährigen Kinder (Beschwerdeführer 2-5) sind ohne Weiteres als Flüchtlinge anzuerkennen (Art. 51 Abs. 1 AsylG).

9.

Zusammenfassend ergibt sich, dass die Voraussetzungen von Art. 3 und 7 AsylG in der Person des Beschwerdeführers 1 erfüllt sind. Die Beschwerde ist gutzuheissen, die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen, den Beschwerdeführern 1-5 in der Schweiz Asyl zu gewähren.

10.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung ist abzuweisen, weil die Bestellung eines amtlichen Anwaltes zur Wahrung der Parteirechte nicht notwendig war und in der Beschwerde auch nicht näher begründet wird (Art. 65 Abs. 2 VwVG). Den obsiegenden Beschwerdeführern ist in Anwendung von Art. 64 Abs. 1 VwVG und Art. 8 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine Entschädigung für die ihnen notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen. Der Rechtsvertreter hat keine Kostennote eingereicht. Aufgrund der Akten (Art. 14 Abs. 2 VGKE) ist die Parteientschädigung unter Berücksichtigung der massgeblichen Bemessungsfaktoren (vgl. Art. 8 ff. VGKE) auf Fr. 2'400.- (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer) festzusetzen. Die Vorinstanz ist in Anwendung von Art. 64 Abs. 2 VwVG anzuweisen, den Beschwerdeführern diesen Betrag als Parteientschädigung zu entrichten.

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung des BFM vom

17. März 2009 aufgehoben.

2.

Das BFM wird angewiesen, den Beschwerdeführern 1-5 Asyl zu gewähren.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4.

Das BFM wird angewiesen, den Beschwerdeführern für das Verfahren vor Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'400.- (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer) auszurichten.

5.

Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführenden, das BFM und die zuständige kantonale Behörde.

Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:

Daniel Willisegger Linda Rindlisbacher

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