Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung VI |
Dossiernummer: | F-4802/2024 |
Datum: | 05.09.2024 |
Leitsatz/Stichwort: | Zuweisung der Asylsuchenden an die Kantone |
Schlagwörter : | Kanton; Schutz; Mutter; Gewährung; Bundesverwaltungsgericht; Abhängigkeit; Gesuch; Abhängigkeitsverhältnis; Urteil; Verfahren; Beziehung; Verfügung; Person; Pflege; Akten; Vorinstanz; Zuweisung; Kantone; Schweiz; Schutzes; Wegweisung; Unzulässigkeit; Kantonszuweisung; Prozessführung; Rechtsverbeiständung; Schutzsuchenden; Verbindung; Einheit |
Rechtsnorm: | Art. 13 BV ; Art. 52 VwVG ; Art. 65 VwVG ; Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | 147 I 268 |
Kommentar: |
Abteilung VI F-4802/2024
Besetzung Einzelrichter Basil Cupa,
mit Zustimmung von Richterin Aileen Truttmann; Gerichtsschreiber Lukas Schmid.
Parteien A. ,
Beschwerdeführerin, gegen
Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.
Gegenstand Zuweisung der Schutzbedürftigen an die Kantone (Status S); Verfügung des SEM vom 24. Juni 2024.
Die ukrainische staatsangehörige A.
(geb. 2002, nachfolgend:
Beschwerdeführerin) stellte am 16. Mai 2024 in der Schweiz ein Gesuch um Gewährung des vorübergehenden Schutzes.
Mit Verfügung vom 24. Juni 2024 – gleichentags eröffnet – lehnte die Vorinstanz das Gesuch um Gewährung des vorübergehenden Schutzes ab, wies die Beschwerdeführerin dem Kanton Zürich zu und beauftragte diesen mit dem Vollzug der Wegweisung.
Dagegen erhob die Beschwerdeführerin mit Eingabe vom 18. Juli 2024 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Sie beantragte, ihr sei in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids vorübergehender Schutz zu gewähren; eventualiter sei die Unzulässigkeit, Unzumutbarkeit und Unmöglichkeit des Wegweisungsvollzugs festzustellen und ihr sei die vorläufige Aufnahme zu gewähren. Des Weiteren sei die Kantonszuweisung aufzuheben und sie sei dem Kanton Wallis zuzuweisen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersuchte sie um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Rechtsverbeiständung sowie um Befreiung von der Kostenvorschusspflicht. Im Übrigen sei die aufschiebende Wirkung der Beschwerde wiederherzustellen.
Mit Urteil D-4592/2024 vom 7. August 2024 wies die dafür zuständige Abteilung IV des Bundesverwaltungsgerichts die Beschwerde in Bezug auf die Gewährung des vorübergehenden Schutzes respektive die Gewährung der vorläufigen Aufnahme mangels Unzulässigkeit, Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit des Wegweisungsvollzugs ab.
Das Bundesverwaltungsgericht beurteilt auf Beschwerde hin Verfügungen des SEM betreffend Kantonszuweisung und Kantonswechsel von Schutzsuchenden (Art. 27 Abs. 3 i.V.m. Art. 72 und Art. 107 Abs. 1 AsylG [SR 142.31]; Art. 105 AsylG i.V.m. Art. 31 ff. VGG).
Das Rechtsmittelverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht richtet sich nach dem VwVG, soweit das AsylG oder das VGG nichts anderes bestimmen (Art. 6 AsylG).
Die Beschwerdeführerin ist als Verfügungsadressatin zur Ergreifung des Rechtsmittels legitimiert. Die Beschwerde wurde fristund formgerecht eingereicht (Art. 105 und Art. 108 Abs. 6 AsylG i.V.m. Art. 37 VGG sowie Art. 48 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 VwVG).
Die Beschwerde erweist sich als offensichtlich unbegründet, weshalb sie im Verfahren einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise einer zweiten Richterin (Art. 111 Bst. e AsylG), ohne Durchführung eines Schriftenwechsels und mit summarischer Begründung, zu behandeln ist (Art. 111a Abs. 1 und 2 AsylG).
Gemäss Art. 27 Abs. 3 AsylG in Verbindung mit Art. 21 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) weist das SEM die Asylsuchenden respektive die Schutzsuchenden den Kantonen zu und trägt dabei den schützenswerten Interessen der Kantone und der betroffenen Personen Rechnung.
Der Zuweisungsentscheid von Schutzsuchenden (Status S) kann gemäss Art. 27 Abs. 3 Satz 3 AsylG in Verbindung mit Art. 72 AsylG – letztere geht als Spezialbestimmung der allgemeinen Regel von Art. 106 Abs. 1 AsylG vor (Art. 106 Abs. 2 AsylG) – nur mit der Begründung angefochten werden, er verletze den Grundsatz der Einheit der Familie (vgl. Art. 13 Abs. 1 BV; Art. 8 Ziff. 1 EMRK; vgl. Urteil des BVGer F-5128/2023 vom
10. Januar 2024 E. 1.4). Werden andere Gründe vorgebracht, ist wegen Unzulässigkeit auf das Rechtsmittel nicht einzutreten (siehe einlässlich dazu BVGE 2009/54 E. 1.3.1; 2008/47 E. 1.2, E. 1.3.2 f. m.w.H. auf grund-
und menschenrechtliche Aspekte; jüngst [nicht publ.] Urteil des BVGer F-5001/2023 vom 5. Januar 2024).
Der Begriff der «Einheit der Familie» im Sinne von Art. 27 Abs. 3 AsylG in Verbindung mit Art. 72 AsylG wird im Asylgesetz einheitlich verwendet und entspricht dem Schutzbereich von Art. 8 EMRK (vgl. BVGE 2008/47
E. 4.1). Er umfasst in erster Linie die Kernfamilie, also die Ehegatten und deren minderjährige Kinder sowie die in dauernder eheähnlicher Gemeinschaft zusammenlebenden Personen (vgl. Art. 1a Bst. e AsylV 1). Andere familiäre Verhältnisse fallen in den Schutzbereich von Art. 8 Ziff. 1 EMRK,
sofern eine genügend nahe, echte und tatsächlich gelebte Beziehung besteht. Hinweise für solche Beziehungen sind das Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt, eine finanzielle Abhängigkeit, speziell enge familiäre Bande, regelmässige Kontakte oder die Übernahme von Verantwortung für eine andere Person. Bei hinreichender Intensität sind auch Beziehungen zwischen nahen Verwandten, namentlich solche von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern oder unter Geschwistern wesentlich. In diesem Fall setzt die Berufung auf Art. 8 EMRK aber ein über die üblichen familiären Beziehungen beziehungsweise emotionalen Bindungen hinausgehendes, besonderes Abhängigkeitsverhältnis voraus (BGE 147 I 268 E. 1.2.3;
144 II 1 E. 6.1; 137 I 154 E. 3.4.2; 135 I 143 E. 3.1; je m.w.H.).
Zu prüfen ist, ob ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der Rechtsprechung zwischen der erwachsenen Beschwerdeführerin und ihrer Mutter besteht.
Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis kann sich unabhängig vom Alter, namentlich aus besonderen Betreuungsoder Pflegebedürfnissen wie bei körperlichen oder geistigen Behinderungen und schwerwiegenden Krankheiten ergeben. Zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern soll ein Abhängigkeitsverhältnis indessen nicht leichthin angenommen werden. Allerdings genügt allein das Vorliegen eines Pflegeund Betreuungsbedürfnisses nicht. Erforderlich ist zusätzlich, dass die betreffende Pflegeund Betreuungsleistung unabdingbar von (anwesenheitsberechtigten) Angehörigen erbracht werden muss (vgl. Urteil des BGer 2C_253/2023 vom 21. August 2023 E. 1.4 m.w.H.).
Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie leide an schweren Depressionen sowie posttraumatischer Belastungsund Angststörung. Ihre Beschwerden seien hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass sie in Deutschland mehrfach Opfer von Übergriffen – darunter auch Vergewaltigung – geworden sei. Für die Stabilität ihres psychischen Zustands und ihre Genesung sei sie auf die Anwesenheit und Unterstützung ihrer im Kanton Wallis lebenden Mutter angewiesen, von der sie bereits in den vergangenen Monaten trotz physischer Distanz finanziell unterstützt worden sei.
Die Beschwerdeführerin ist erst rund ein halbes Jahr nach ihrer Mutter aus der Ukraine geflohen und hat sich anschliessend weitere 19 Monate lang ohne ihre Mutter in Deutschland aufgehalten. Aus den Akten geht hervor, dass die Beschwerdeführerin bei Beantragung des Schutzstatus S in der Schweiz auf dem Zusatzblatt für die Kantonszuweisung selbst angab,
sie wolle aufgrund ihrer Deutschkenntnisse einem deutschsprachigen Kanton zugewiesen werden. Als Wunschkanton gab sie den Kanton Bern an, weil dort eine Bekannte wohne. Eine Erwähnung des im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Abhängigkeitsverhältnisses zu ihrer Mutter findet sich in den Gesuchsunterlagen vom 24. Juni 2024 nicht, was angesichts des Berichts (…) vom 18. Juli 2024 wenig überrascht. Dem Bericht zufolge habe sich im Rahmen von mehreren Treffen zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer Mutter herausgestellt, dass in der Beziehung zwischen den beiden bereits in der Ukraine Konflikte geherrscht hätten. Die Beschwerdeführerin berichtet von körperlicher Gewalt ihr gegenüber durch ihre Mutter. Die Mutter dagegen gibt an, dass die Beschwerdeführerin seit dem Jahr 2017 unter Verhaltensstörungen mit Reizbarkeit und wiederkehrenden depressiven Episoden leide. Dem Bericht zufolge habe sich die Stimmung der Beschwerdeführerin verschlechtert und sie habe Suizidgedanken, seit sie bei ihrer Mutter in der Schweiz lebe.
Während die Beschwerdeführerin geltend macht, die Nähe zu ihrer Mutter würde ihren psychischen Zustand verbessern, lässt die medizinische Aktenlage auf das genaue Gegenteil schliessen. Auch wollte die Beschwerdeführerin anfangs noch einem deutschsprachigen Kanton zugewiesen werden, nun beantragt sie dagegen die Zuweisung in einen vorwiegend französischsprachigen Kanton, obwohl sie den Akten zufolge kein Französisch spricht. Gesamthaft ist das Verhalten der Beschwerdeführerin widersprüchlich. Darüber hinaus ist weder aus den Akten ersichtlich noch vermag die Beschwerdeführerin nachvollziehbar darzutun, inwiefern spezifische Pflegeoder Betreuungsleistungen nur von ihrer Mutter erbracht werden können. Ein Abhängigkeitsverhältnis ist klar zu verneinen.
Im Ergebnis kann sich die Beschwerdeführerin nicht auf den Grundsatz der Einheit der Familie berufen. Die Beschwerde ist abzuweisen.
Mit heutigem Entscheid wird das Gesuch um Gewährung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gegenstandslos.
Die Gesuche um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und amtlichen Rechtsverbeiständung (Art. 65 Abs. 1 und 2 VwVG) sind zufolge Aussichtslosigkeit abzuweisen.
Bei diesem Verfahrensausgang würde die unterliegende Beschwerdeführerin grundsätzlich kostenpflichtig. Die Verfahrenskosten können aber ganz oder teilweise erlassen werden, wenn Gründe in der Sache oder in der Person der Partei es als unverhältnismässig erscheinen lassen, diese der Partei aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 in fine VwVG i.V.m. Art. 6 Bst. b des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben, womit auf die Auferlegung von Verfahrenskosten zu verzichten ist.
Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet in der vorliegenden Angelegenheit endgültig (Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).
(Dispositiv nächste Seite)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Die Gesuche um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und amtlichen Rechtsverbeiständung werden abgewiesen.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerin, die Vorinstanz und die kantonale Migrationsbehörde.
Der Einzelrichter: Der Gerichtsschreiber:
Basil Cupa Lukas Schmid
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