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Bundesverwaltungsgericht Urteil E-5359/2024

Kopfdaten
Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung V
Dossiernummer:E-5359/2024
Datum:04.09.2024
Leitsatz/Stichwort:Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren - Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG)
Schlagwörter : Beschwerde; Kroatien; Beschwerdeführers; Mitgliedstaat; Dublin-III-VO; Asylgesuch; Recht; Verfügung; Schweiz; Verfahren; Sachverhalt; Urteil; Person; Bundes; Gesundheitszustand; Behandlung; Bundesverwaltungsgericht; Behörde; Wegweisung; Prüfung; Schutz; Überstellung; Sachverhalts; Begründung; Berichte
Rechtsnorm: Art. 13 BV ; Art. 48 VwVG ; Art. 52 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 65 VwVG ;
Referenz BGE:139 I 330; 143 III 65; 144 I 11
Kommentar:
Entscheid

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung V E-5359/2024

U r t e i l v o m 4 . S e p t e m b e r 2 0 2 4

Besetzung Einzelrichterin Regina Derrer,

mit Zustimmung von Richter Basil Cupa; Gerichtsschreiberin Eliane Hochreutener.

Parteien A. , geboren am (…), Türkei,

vertreten durch MLaw Mara Todeschini,

(…),

Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren - Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG); Verfügung des SEM vom 20. August 2024 / N (…).

Sachverhalt:

A.

Der Beschwerdeführer reichte am 2. Juli 2024 in der Schweiz ein Asylgesuch ein. Ein Abgleich seiner Fingerabdrücke mit der europäischen Fingerabdruck-Datenbank (Eurodac) ergab, dass er am (…) Juni 2024 in Kroatien um Asyl ersucht hatte. Am 8. Juli 2024 wurde die ZEMIS Direkterfassung der Personalien für Asylsuchende («Protokoll Personalienaufnahme») ausgefüllt.

B.

Am 9. Juli 2024 ersuchte das SEM die kroatischen Behörden um Wiederaufnahme des Beschwerdeführers gemäss Art. 18 Abs. 1 Bst. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO).

C.

Das SEM gewährte dem Beschwerdeführer am 12. Juli 2024 in Anwesenheit seiner damaligen Rechtsvertretung gestützt auf Art. 5 Dublin-III-VO das rechtliche Gehör zur allfälligen Zuständigkeit Kroatiens für die Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens, zur Wegweisung in diesen Dublin-Mitgliedstaat, zum beabsichtigten Nichteintretensentscheid sowie zu seinem Gesundheitszustand.

D.

Mit Schreiben vom 18. Juli 2024 ersuchte das Zivilstandsamt B. das SEM zwecks Ehevorbereitungsverfahrens um Einsichtnahme in das Asyldossier des Beschwerdeführers.

E.

Die kroatischen Behörden hiessen das Gesuch des SEM vom 9. Juli 2024 um Wiederaufnahme des Beschwerdeführers gemäss Art. 18 Abs. 1 Bst. b Dublin-III-VO am 20. Juli 2024 gut.

F.

Eine Anfrage des SEM an Medic-Help des Bundesasylzentrums

C.

betreffend den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers

vom 20. August 2024 wurde gleichentags beantwortet.

G.

Mit Verfügung vom 20. August 2024 (eröffnet am 21. August 2024) trat das SEM auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers nicht ein, ordnete seine Überstellung nach Kroatien an und forderte ihn auf, die Schweiz am Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist zu verlassen.

H.

Mit Rechtsmitteleingabe vom 27. August 2024 gelangte der Beschwerdeführer an das Bundesverwaltungsgericht mit den Anträgen, die vorinstanzliche Verfügung vom 20. August 2024 sei aufzuheben und das SEM sei anzuweisen, auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers einzutreten und in der Schweiz ein materielles Asylverfahren durchzuführen. Eventualiter sei die Verfügung aufzuheben und die Sache zur rechtsgenüglichen Sachverhaltsabklärung und Neubeurteilung an das SEM zurückzuweisen. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen und die Vollzugsbehörde sei vorsorglich und superprovisorisch anzuweisen, von einer Überstellung nach Kroatien abzusehen, bis das Bundesverwaltungsgericht über die Erteilung der aufschiebenden Wirkung entschieden habe. Es sei ihm die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren und auf die Erhebung eines Kostenvorschusses sei zu verzichten.

I.

Am 29. August 2024 ordnete die Instruktionsrichterin einen superprovisorischen Vollzugsstopp an.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG (SR 142.31) nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

    2. Die Beschwerde ist zulässig (Art. 105 AsylG; Art. 31 ff. VGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen (Legitimation [Art. 48 Abs. 1 VwVG], Frist [Art. 108 Abs. 3 AsylG] und Form [Art. 52 Abs. 1 VwVG]) sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.

    1. Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige oder

      unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG). Bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, mit denen es das SEM ablehnt, das Asylgesuch auf seine Begründetheit hin zu überprüfen (Art. 31a Abs. 1–3 AsylG), ist die Beurteilungskompetenz der Beschwerdeinstanz grundsätzlich auf die Frage beschränkt, ob die Vorinstanz zu Recht auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 3.1 und 2012/4 E. 2.2, je m.w.H.).

    2. Die Beschwerde erweist sich als offensichtlich unbegründet, weshalb sie im Verfahren einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise einer zweiten Richterin (Art. 111 Bst. e AsylG), ohne Durchführung eines Schriftenwechsels und mit summarischer Begründung, zu behandeln ist (Art. 111a Abs. 1 und 2 AsylG).

3.

    1. In formeller Hinsicht rügt der Beschwerdeführer, dass das SEM seine Pflicht zur vollständigen und richtigen Sachverhaltsermittlung sowie seine Begründungspflicht verletzt habe. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, das SEM habe darauf verzichtet, eine konkrete Einzelfallprüfung vorzunehmen und sich mit der aktuellen Berichterstattung zu Kroatien auseinanderzusetzen. Es berichte standardmässig vom Fehlverhalten einzelner Mitarbeitenden der kroatischen Sicherheitskräfte, würdige jedoch weder die konkreten Vorbringen des Beschwerdeführers und die vorhandenen Informationen zu seiner Situation noch seinen Gesundheitszustand, insbesondere die psychischen Folgen des in Kroatien Erlebten, rechtsgenüglich. Zudem habe es seine gesundheitliche Situation nicht vollumfänglich abgeklärt. Es sei verkannt worden, dass er misshandelt worden sei und deshalb Schwierigkeiten habe, mit dem Erlebten umzugehen. Es würden weder eine medizinische Diagnose noch ärztliche Berichte vorliegen. Diese formellen Rügen sind vorab zu prüfen, da sie unter Umständen geeignet sein könnten, eine Kassation der vorinstanzlichen Verfügung zu bewirken (vgl. KÖLZ/HÄNER/BERTSCHI, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3. Aufl. 2013, Rz. 1156 m.w.H.).

    2. Im Asylverfahren – wie in anderen Verwaltungsverfahren – gilt der Untersuchungsgrundsatz (Art. 12 VwVG i.V.m. Art. 6 AsylG). Demnach hat die Behörde von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen, die für das Verfahren notwendigen Unterlagen zu beschaffen, die rechtlich relevanten Umstände abzuklären und ordnungsgemäss darüber Beweis zu führen (vgl. BVGE 2012/21 E. 5.1. m.w.H.).

      Gemäss Art. 29 VwVG haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör, welches als Mitwirkungsrecht alle Befugnisse umfasst, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam zur Geltung bringen kann (vgl. BGE 144 I 11 E. 5.3; BVGE 2009/35 E. 6.4.1). Mit dem Gehörsanspruch korreliert die Pflicht der Behörden, die Vorbringen tatsächlich zu hören, ernsthaft zu prüfen und in ihrer Entscheidfindung angemessen zu berücksichtigen. Die Begründung muss so abgefasst sein, dass sie eine sachgerechte Anfechtung ermöglicht. Nicht erforderlich ist, dass sich die Begründung mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt (vgl. BGE 143 III 65 E. 5.2).

    3. Was die allgemeine Situation von Asylsuchenden in Kroatien sowie auch die konkreten Erlebnisse des Beschwerdeführers in diesem Staat anbelangt, hat das SEM, entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers, den für das vorliegende Verfahren massgeblichen Sachverhalt insbesondere im Rahmen des Dublingesprächs vom 12. Juli 2024 und seiner aus der angefochtenen Verfügung ersichtlichen Abklärungen rechtsgenüglich erhoben. Auch hat es sich in der angefochtenen Verfügung vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten im kroatischen Asylsystem mit den konkreten Vorbringen des Beschwerdeführers rechtsgenüglich auseinandergesetzt und sich zu den ihm offenstehenden Möglichkeiten, sich dort gegen ungerechte oder rechtswidrige Behandlung zu wehren und ein Asylgesuch einzureichen, geäussert. Der Umstand, dass sich das SEM bei seinen Erwägungen auf andere als die vom Beschwerdeführer als opportun erachteten Quellen gestützt hat respektive zu einer anderen Einschätzung der Lage kommt als der Beschwerdeführer, ändert daran nichts.

      Auch was den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers anbelangt, ist die Sachverhaltsabklärung des SEM nicht zu beanstanden. Anlässlich des Dublingesprächs machte er geltend, psychisch gehe es ihm «überhaupt» nicht gut, da er schlimme Dinge erlebt habe. Er sei unsicher, belastet, erschöpft und müde. Er habe Beschwerden, da er (…) operiert worden sei. In der Türkei sei er wegen (…) behandelt worden. Weiter machte das SEM ihn anlässlich des Dublingesprächs ausdrücklich darauf aufmerksam, er könne sich bei medizinischen Problemen an Medic-Help wenden, die Kontaktaufnahme liege in seiner eigenen Verantwortung (A16 S. 2). Aus den Akten ergibt sich sodann, dass er am 5. August 2024 bei Medic-Help vorstellig wurde. Er äusserte, dass er an allgemeiner Schwäche und Müdigkeit leide, stressbedingt viel rauche und Medic-Help ärztliche Berichte zukommen lassen werde. Zur Behandlung seiner Beschwerden erhielt er für fünf

      Tage D. (A23). Der Antwort der Medic-Help vom 20. August 2024 ist zu entnehmen, dass er aktuell nicht in medizinischer Behandlung sei, keine Medikamente benötige, der Bitte, über seinen Gesundheitszustand ein Feedback zu geben, nicht nachgekommen sei, und auch trotz anderslautender Zusicherung keine ärztlichen Berichte eingereicht habe (A23). Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass es dem Beschwerdeführer bekannt war, dass er jederzeit die Möglichkeit und im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht auch die Obliegenheit gehabt hätte, weitere Arzttermine zu vereinbaren oder ärztliche Berichte einzureichen, was er indes nicht getan hat. Es ist nicht Aufgabe des SEM, von Amtes wegen weitere Abklärungen zu seinem Gesundheitszustand zu tätigen. Es liegen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte vor, die darauf schliessen liessen, er könne sich aufgrund einer Traumatisierung nicht zu seiner gesundheitlichen Situation äussern, gab er doch am Schluss des Dublingesprächs an, er würde sich jetzt gut fühlen (A16 S. 2). Im Übrigen lässt sich auch aus dem IstanbulProtokoll keine Pflicht zur Einholung eines nach dessen Standards verfassten Berichts ableiten, zumal das Protokoll lediglich Empfehlungen abgibt, welche keine rechtliche Verpflichtung zur Umsetzung implizieren (vgl. ausführlich Urteil des BVGer D-3714/2022 vom 7. Februar 2023 E. 3.4.1). Für das SEM bestand somit kein Anlass, weitere Abklärungen in Bezug auf den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers vorzunehmen. Im Übrigen hat das SEM in der angefochtenen Verfügung den sich aus den Akten ergebenden medizinisch relevanten Sachverhalt berücksichtigt und sich auch mit den einzelnen gesundheitlichen Problemen des Beschwerdeführers auseinandergesetzt. Schliesslich äusserte sich das SEM auch in rechtsgenüglicher Weise zur medizinischen Versorgungslage in Kroatien, wobei es insbesondere auf die dortige psychosoziale Versorgung und Angebote von Nichtregierungsorganisationen einging.

    4. Die formellen Rügen des Beschwerdeführers sind damit unbegründet. Es liegt weder eine Verletzung der Begründungspflicht noch der Pflicht zur vollständigen und richtigen Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts vor. Demnach besteht keine Veranlassung, die Sache zur weiteren Sachverhaltsabklärung und Neubeurteilung an das SEM zurückzuweisen. Das diesbezügliche Eventualbegehren ist abzuweisen.

4.

Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsuchende in einen Drittstaat ausreisen können, der für die Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist (Art. 31a

Abs. 1 Bst. b AsylG). In diesem Fall verfügt das SEM in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und ordnet den Vollzug an (Art. 44 AsylG).

5.

    1. Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III der Dublin-III-VO vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Kann kein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat (Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO).

    2. Gemäss ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weisen das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Kroatien keine systemischen Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 zweiter und dritter Satz Dublin-III-VO auf (Referenzurteil des BVGer E-1488/2020 vom

22. März 2023 E. 9.5). Demnach sind Dublin-Überstellungen nach Kroatien grundsätzlich sowohl in "take charge" (Aufnahme) als auch in "take back" (Wiederaufnahme)-Verfahren zulässig. Die in der Beschwerde genannten Berichte, die teilweise zeitlich nach dem Referenzurteil datieren, vermögen daran nichts zu ändern.

6.

    1. Abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO kann jeder Mitgliedstaat beschliessen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist (Art. 17 Abs. 1 erster Satz Dublin-III-VO). Dieses sogenannte Selbsteintrittsrecht ist zwingend auszuüben, wenn die Überstellung der betroffenen Person in den an sich zuständigen Mitgliedstaat zu einer Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Schweiz führen würde (BVGE 2015/9 E. 8.2.1). Gemäss Art. 29a Abs. 3 der Asylverordnung 1 vom

      11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) kann zudem das SEM das Asylgesuch «aus humanitären Gründen» auch dann behandeln, wenn dafür gemäss Dublin-III-VO ein anderer Staat zuständig wäre. Bei dieser Entschei-

      dung darf das Bundesverwaltungsgericht sein eigenes Ermessen nicht an Stelle desjenigen des SEM setzen (BVGE 2015/9 E. 7.6 und E. 8.1 in fine).

    2. Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe in Kroatien nie ein Asylgesuch stellen wollen und die Fingerabdrücke seien ihm unter polizeilicher Gewalt abgenommen worden. Er sei für eine Nacht in Gewahrsam genommen worden, habe sich dort nackt ausziehen müssen und seitens der kroatischen Behörden Gewalt und unmenschliche Behandlung erfahren.

      Auch unter Berücksichtigung der Behauptung des Beschwerdeführers anlässlich des Dublin-Gesprächs, er habe in Kroatien Gewalt und unmenschliche Behandlung erfahren, ist nicht davon auszugehen, Kroatien verstosse systematisch gegen seine völkerund gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen gegenüber Personen in der Situation des Beschwerdeführers. Die vom Beschwerdeführer während seines kurzzeitigen Aufenthalts in Kroatien geltend gemachten Erlebnisse rechtfertigen es nicht, davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit Opfer einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK, Art. 3 FoK oder Art. 4 EU-Grundrechtecharta wird. Im Falle einer Rücküberstellung würde er nämlich nicht als Neuankömmling behandelt, sondern direkt in die dortigen Asylstrukturen aufgenommen. Bei einem allfälligen Fehlverhalten der Polizei oder einer vorübergehenden Einschränkung der ihm zustehenden Aufnahmebedingungen könnte er sich im Übrigen nötigenfalls an die kroatischen Behörden wenden und seine Rechte auf dem Rechtsweg einfordern. Des Weiteren steht ihm die Möglichkeit offen, die vor Ort tätigen karitativen Organisationen zu kontaktieren. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers, er sei in Kroatien zur Abgabe seiner Fingerabdrücke gezwungen worden, ist entgegenzuhalten, dass sich die Abnahme der Fingerabdrücke von illegal einreisenden ausländischen Personen und Asylsuchenden auf Art. 14 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Eurodac-Verordnung) stützt.

    3. Was den medizinischen Sachverhalt anbelangt, so kann eine zwangsweise Rückweisung von Personen mit gesundheitlichen Problemen nur ausnahmsweise einen Verstoss gegen Art. 3 EMRK darstellen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die betroffene Person sich in einem fortgeschrittenen oder terminalen Krankheitsstadium und bereits in Todesnähe befindet, oder wenn eine schwerkranke Person durch die Abschiebung - mangels angemessener medizinischer Behandlung im Zielstaat - mit einem realen Risiko konfrontiert würde, einer ernsten, raschen und

      unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu werden, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führen würde (vgl. BVGE 2011/9 E. 7 und Urteil des EGMR Paposhvili gegen Belgien vom 13. Dezember 2016, Grosse Kammer, Nr. 41738/10, §§ 180-193, bestätigt durch Urteil des EGMR Savran gegen Dänemark vom 7. Dezember 2021, Grosse Kammer, Nr. 57467/15, §§ 121 ff.).

      Die erwähnten medizinischen Probleme (vgl. vorangehend E. 3.3) sind aufgrund der Aktenlage nicht derart schwerwiegend, dass davon ausgegangen werden müsste, der Beschwerdeführer könnte nicht auch in Kroatien adäquat (weiter-)behandelt werden. So steht in Kroatien grundsätzlich eine durchaus ausreichende medizinische Infrastruktur zur Verfügung (vgl. insbes. Referenzurteil E-1488/2020 a.a.O. E. 10.2, statt vieler das Urteil BVGer E-2952/2023 vom 31. Mai 2023 E. 7.3, je m.w.H.). Nebst den staatlichen Einrichtungen bestehen in Kroatien auch Angebote von Nichtregierungsorganisationen für die psychische Betreuung (vgl. Urteil des BVGer F-4417/2024 vom 18. Juli 2024 E. 8.3.3). Es kann davon ausgegangen werden, dass dem Beschwerdeführer in Kroatien eine angemessene medizinische Versorgung und insbesondere auch eine psychiatrische und/oder psychologische Therapie zur Verfügung stehen wird (vgl. statt vieler: Urteil des BVGer F-663/2023 vom 17. Januar 2024 E. 4.3 m.w.H.). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass ihm dort nach einer Überstellung eine allenfalls erforderliche medizinische Behandlung von Krankheiten und schweren psychischen Störungen verweigert würde, zumal die Mitgliedstaaten zur Erbringung entsprechender Leistungen verpflichtet sind (vgl. Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates 2013/33/EU vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen [Aufnahmerichtlinie]). Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass eine allfällige Suizidalität gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung kein Vollzugshindernis darstellt (vgl. Urteil des BGer 2C_856/2015 vom 10. Oktober 2015

      E. 3.2.1). Anzumerken bleibt, dass das SEM dem Gesundheitszustand des Beschwerdeführers im Rahmen der Überstellungsmodalitäten Rechnung getragen hat.

    4. Der Beschwerdeführer macht geltend, aufgrund seiner Beziehung zu seiner Verlobten, welche seit zwanzig Jahren in der Schweiz lebe und mittlerweile über eine B-Bewilligung verfüge, und der eingeleiteten Ehevorbereitung sei die Schweiz für die Prüfung seines Asylgesuchs zuständig. Er und seine Verlobte würden gemäss eigenen Aussagen seit ungefähr 2002

      eine gelebte, langjährige und dauerhafte Beziehung führen und hätten schon in der Türkei zusammengelebt. Bereits die Prüfung des Ehevorbereitungsverfahrens vom Jahr 2019 habe ergeben, dass eine Eheschliessung möglich sei. Dass sie über viele Jahre eine Fernbeziehung hätten führen müssen, sei äusseren Umständen geschuldet.

      Hat eine antragstellende Person Familienangehörige, die in ihrer Eigenschaft als Begünstigte internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt sind, so ist dieser Mitgliedstaat gemäss Art. 9 Dublin-IIIVO für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun. Als Familienangehörige gelten gemäss Art. 2 Bst. g Dublin-III-VO der Ehegatte des Antragsstellers oder sein nicht verheirateter Partner, der mit ihm eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare. Praxisgemäss ist für die Beurteilung, ob jemand als Familienangehöriger im Sinne von Art. 9 Dublin-III-VO in Verbindung mit Art. 2 Bst. g Dublin-III-VO gilt, auf die Rechtsprechung zu den von Art. 8 EMRK erfassten familiären Beziehungen zurückzugreifen (vgl. anstatt vieler Urteil des BVGer D- 2343/2023 vom 4. Mai 2023 E. 5.2 m.H.).

      Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung erwächst Ausländerinnen und Ausländern gestützt auf den in Art. 8 EMRK (und Art. 13 Abs. 1 BV) gewährleisteten Schutz des Familienlebens ein potenzieller Anspruch auf Aufenthalt in der Schweiz, wenn eine nahe, echte und tatsächlich gelebte Familienbande zu nahen Verwandten (sogenannte Kernfamilie) besteht, die über ein gefestigtes Anwesenheitsrecht in der Schweiz verfügen (vgl. BGE 139 I 330 E. 2.1; 135 I 143 E. 1.3.1 und 3.1; 130 II 281 E. 3.1). Das

      SEM hat richtigerweise festgestellt, dass diese Voraussetzungen vorliegend nicht erfüllt sind. Der Beschwerdeführer hält sich erst seit dem 2. Juli 2024 in der Schweiz auf und hat seine Partnerin zuvor 20 Jahre lang nicht gesehen. Im Übrigen reichte er auch keine Unterlagen ein, welche belegen, dass er – wie von ihm behauptet – bereits in der Türkei mit seiner Verlobten zusammengelebt hat und im Jahr 2019 nicht habe aus der Türkei ausreisen können, weil er wegen einer Ausreisesperre habe untertauchen müssen und inhaftiert worden sei. Damit ist nicht von einer nach Art. 8 EMRK geschützten nahen, echten und tatsächlich gelebten Beziehung auszugehen, die unter die Definition von Art. 2 Bst. g Dublin-III-VO fällt.

      Schliesslich verletzt die angefochtene Verfügung auch das Recht des Beschwerdeführers auf Eheschliessung (Art. 14 BV) nicht, da es ihm freisteht, das hängige Ehevorbereitungsverfahren aus dem Ausland weiterzuverfolgen (vgl. Art. 62 ff. der Zivilstandsverordnung vom 28. April 2004 [ZStV, SR 211.112.2]).

    5. Das SEM hat somit das Selbsteintrittsrecht von Art. 17 Dublin-III-VO sowie Art. 29a Abs. 3 AsylV 1 zu Recht nicht ausgeübt. Weder ist die Schweiz völkerrechtlich verpflichtet, auf das Asylgesuch einzutreten, noch sind humanitäre Gründe ersichtlich, welche einen Selbsteintritt nahelegen würden.

7.

Zusammenfassend ist das SEM zu Recht auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers nicht eingetreten und hat die Wegweisung nach Kroatien angeordnet.

8.

    1. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen. Mit dem vorliegenden Urteil fällt der am 29. August 2024 angeordnete Vollzugsstopp dahin. Das Gesuch um Erteilung der aufschiebenden Wirkung ist gegenstandslos geworden.

    2. Wie sich aus den vorstehenden Erwägungen ergibt, waren die Begehren von Anfang an als aussichtslos zu bezeichnen, weshalb das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung (Art. 65 Abs. 1 VwVG) abzuweisen ist.

    3. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Verfahrenskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG) und auf insgesamt Fr. 750.– festzusetzen (Art. 1 ff. des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]).

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.

Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung wird abgewiesen.

3.

Die Verfahrenskosten von Fr. 750.– werden dem Beschwerdeführer auferlegt. Dieser Betrag ist innert 30 Tagen ab Versand des Urteils zugunsten der Gerichtskasse zu überweisen.

4.

Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

Die Einzelrichterin: Die Gerichtsschreiberin:

Regina Derrer Eliane Hochreutener

Versand:

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