Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung V |
Dossiernummer: | E-5001/2024 |
Datum: | 26.08.2024 |
Leitsatz/Stichwort: | Vollzug der Wegweisung (beschleunigtes Verfahren) |
Schlagwörter : | Vorinstanz; Verfügung; Wegweisung; Verfahren; Sachverhalt; Kindes; Bundes; Vollzug; Bundesverwaltungsgericht; Verfahrens; Schweiz; Kindeswohl; Abklärung; Dispositiv; Türkei; Eltern; Schule; Familie; Vater; Dispositivziffern; Abklärungen; Sachverhalts; Gericht; Wegweisungsvollzug; Kindeswohls |
Rechtsnorm: | Art. 29 BV ; Art. 35 VwVG ; Art. 48 VwVG ; Art. 49 BV ; Art. 52 VwVG ; Art. 61 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 83 AIG ; Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: |
Abteilung V E-5001/2024
Besetzung Einzelrichterin Barbara Balmelli,
mit Zustimmung von Richterin Nina Spälti Giannakitsas; Gerichtsschreiber Janic Lombriser.
Parteien A. , geboren am (…), Türkei,
vertreten durch Katalin Jakab,
(…),
Beschwerdeführer,
gegen
Vorinstanz.
Gegenstand Vollzug der Wegweisung (beschleunigtes Verfahren); Verfügung des SEM vom 31. Juli 2024 / N (…).
Der Beschwerdeführer reiste am 18. Mai 2024 in die Schweiz ein und suchte gleichentags um Asyl nach.
Die Vorinstanz führte mit dem Beschwerdeführer am 13. Juni 2024 die Erstbefragung für unbegleitete Minderjährige (EB UMA) durch und hörte ihn am 22. Juli 2024 vertieft zu seinen Asylgründen an. Dabei führt der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, er sei Usbeke und in B. aufgewachsen. Er sei vor etwa zwei bis drei Jahren nach dem Erdbeben nach C. umgezogen und habe dort zusammen mit seinen Eltern sowie Geschwistern gelebt. Bis zur achten Klasse habe er die Schule besucht und daneben in B. in einem (…)geschäft sowie in C. in einem (…) gearbeitet. Er sei wegen einer besseren Zukunft aus der Türkei ausgereist. Dort habe er in der Schule Rassismus erlebt, beispielsweise sei er als «Afghane» bezeichnet und im Sportunterricht sowie in den Pausen von anderen Schülern ausgeschlossen worden. Zudem sei es seiner Familie finanziell nicht gut gegangen, da sein Vater seit ungefähr vier Jahren rechtsseitig gelähmt sei und seitdem die Mutter für den Lebensunterhalt der Familie aufkomme. Auch sei er von seinem Vater zur Arbeit gezwungen worden. Der Vater habe ihn und seine Mutter geschlagen, wenn er nicht gearbeitet oder zu wenig Geld verdient habe.
Mit Verfügung vom 31. Juli 2024 verneinte die Vorinstanz die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers, lehnte das Asylgesuch ab, wies ihn aus der Schweiz weg und ordnete den Vollzug der Wegweisung an.
Mit Eingabe vom 9. August 2024 focht der Beschwerdeführer die Verfügung beim Bundesverwaltungsgericht an und beantragt, die Dispositivziffern 3 bis 5 der angefochtenen Verfügung seien aufzuheben, es sei die Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs festzustellen und die Vorinstanz sei anzuweisen, ihn vorläufig aufzunehmen. Eventualiter sei die Sache zur vollständigen Feststellung des Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersuchte er um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung inklusive Verzicht auf Erhebung eines Kostenvorschusses.
Das Gericht bestätigte dem Beschwerdeführer am 13. August 2024 den Eingang der Beschwerde.
Gemäss Art. 31 VGG ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung von Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG zuständig und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – wie auch vorliegend – endgültig (Art. 105 Asylgesetz [AsylG, SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).
Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).
Der Beschwerdeführer ist als Verfügungsadressat zur Beschwerdeführung legitimiert (Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die fristund formgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten (Art. 108 Abs. 1 AsylG und Art. 52 Abs. 1 VwVG).
Zunächst ist festzuhalten, dass die Dispositivziffern 1 und 2 (Verneinung der Flüchtlingseigenschaft und Ablehnung des Asylgesuchs) der angefochtenen Verfügung mangels Anfechtung in Rechtskraft erwachsen sind und nicht Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens bilden.
Mit der Beschwerde beziehungsweise dem ersten Rechtsbegehren wird die Aufhebung der Dispositivziffern 3 (Wegweisung), 4 und 5 (Vollzug der Wegweisung) der Verfügung vom 31. Juli 2024 beantragt. Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich jedoch, dass die verfügte Wegweisung nicht beanstandet wird. Demnach ist sie als solche ebenfalls nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.
Über offensichtlich begründete Beschwerden wird in einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise einer zweiten Richterin entschieden (Art. 111 Bst. e AsylG). Wie nachstehend aufgezeigt wird, handelt es sich um ein solches Rechtsmittel, weshalb das Urteil nur summarisch zu begründen ist (Art. 111a Abs. 2 AsylG).
Gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG wurde auf die Durchführung eines Schriftenwechsels verzichtet.
Ist der Vollzug der Wegweisung nicht zulässig, nicht zumutbar oder nicht möglich, so regelt das SEM das Anwesenheitsverhältnis nach den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme (Art. 44 AsylG; Art. 83 Abs. 1 AIG [SR 142.20]).
Gemäss Art. 83 Abs. 4 AIG kann der Vollzug für Ausländerinnen und Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimatoder Herkunftsstaat aufgrund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage konkret gefährdet sind. Wird eine konkrete Gefährdung festgestellt, ist – unter Vorbehalt von Art. 83 Abs. 7 AIG – die vorläufige Aufnahme zu gewähren.
Sind von einem allfälligen Wegweisungsvollzug Kinder betroffen, so bildet im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung das Kindeswohl einen Gesichtspunkt von gewichtiger Bedeutung. Unter dem Aspekt des Kindeswohls im Sinne von Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (KRK, SR 0.107) sind bei der Prüfung der Zumutbarkeit des Vollzugs sämtliche Umstände einzubeziehen und zu würdigen, die im Hinblick auf eine Wegweisung wesentlich erscheinen. Dabei können namentlich folgende Kriterien im Rahmen einer gesamtheitlichen Beurteilung von Bedeutung sein: Alter und Reife des Kindes, Abhängigkeiten, Art (Nähe, Intensität, Tragfähigkeit) seiner Beziehungen, Eigenschaften seiner Bezugspersonen (insbesondere Unterstützungsbereitschaft und
-fähigkeit), Stand und Prognose bezüglich Entwicklung/Ausbildung, sowie der Grad der erfolgten Integration bei einem längeren Aufenthalt in der Schweiz (vgl. dazu BVGE 2009/51 E. 5.6; 2009/28 E. 9.3.2). Bei unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden ist das SEM zudem verpflichtet abzuklären, ob sie zu ihren Eltern oder anderen Angehörigen zurückgeführt werden können und ob diese in der Lage sind, ihre Bedürfnisse abzudecken (vgl. BVGE 2021 VI/3 E. 11.5.2, m.w.H.).
In der Rechtsmitteleingabe rügt der Beschwerdeführer in formeller Hinsicht, die Vorinstanz habe den Sachverhalt nicht vollständig erstellt. Sie habe es hinsichtlich des Kindeswohls unterlassen, spezifische Abklärungen seiner persönlichen und finanziellen Situation in der Türkei vorzunehmen. Es fehlten konkrete, personenbezogene Abklärungen zu seiner allfälligen Wohnund Lebenssituation als Minderjähriger.
Der Untersuchungsgrundsatz gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des Asylverfahrens (vgl. Art. 12 VwVG i.V.m. Art. 6 AsylG). Demnach hat die Behörde von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Die Sachverhaltserstellung ist unvollständig, wenn nicht alle für den Entscheid rechtswesentlichen Sachumstände berücksichtigt werden (vgl. KÖLZ/HÄNER/BERTSCHI, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3. Aufl. 2013,
N. 1043). Ferner sind die Behörden gemäss Art. 35 Abs. 1 VwVG verpflichtet, schriftliche Verfügungen zu begründen. Diese Begründungspflicht stellt eine Konkretisierung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) dar.
In der angefochtenen Verfügung führt die Vorinstanz aus, der Beschwerdeführer habe in der Türkei die Schule besucht und seine Familie durch seine Arbeit in einem (…)geschäft in B. und in einem (…) in C. finanziell unterstützt. Dies zeige trotz seines jungen Alters einen gewissen Grad an Selbständigkeit und Reife. Weiter erhalte sein Vater aufgrund seiner Behinderung eine finanzielle Unterstützung durch den türkischen Staat. Auch habe sein Bruder die Ausreisekosten übernommen und die Familie bei der Bezahlung der Wohnungsmiete finanziell unterstützt. Des Weiteren gehöre die Familienwohnung einem Cousin. Somit verfüge der Beschwerdeführer über ein tragfähiges soziales Netz, auf dessen Unterstützung er zur Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz zählen könne. Er könne weiterhin die Schule besuchen oder den lokalen Gegebenheiten entsprechend eine Ausbildung absolvieren. Sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht spreche nichts gegen eine Rückkehr zu seinen Eltern und in sein vertrautes Umfeld. Schliesslich habe er die Türkei erst vor sieben bis zehn Monaten verlassen und lebe erst knapp zweieinhalb Monate in der Schweiz, womit keine Verwurzelung und keine fortgeschrittene Integration oder Bindung an die Schweiz bestehe.
Das Bundesverwaltungsgericht kommt zum Schluss, dass sich der Sachverhalt vorliegend als nicht vollständig erstellt erweist. Dabei stehen für das Gericht die fehlenden Abklärungen hinsichtlich des Kindeswohls im
Vordergrund. Der Beschwerdeführer ist minderjährig (Jahrgang 20[…]) und ohne Eltern oder andere Erziehungsberechtigte in die Schweiz eingereist. Diesen Umstand hat die Vorinstanz in ihrer Begründung zur Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs indessen nicht ausreichend Rechnung getragen. Insbesondere sind den Erwägungen der angefochtenen Verfügung nicht hinlänglich konkrete Hinweise darauf zu entnehmen, dass die Vorinstanz die Situation des minderjährigen Beschwerdeführers unter dem Blickwinkel des Kindeswohls rechtsgenüglich gewürdigt und im Rahmen einer gesamtheitlichen Beurteilung sämtlicher vorerwähnter Kriterien (vgl.
E. 5.3) einbezogen hätte, die im Hinblick auf einen Wegweisungsvollzug wesentlich erscheinen. Die hierzu gemachte vorinstanzliche Schlussfolgerung, wonach der Beschwerdeführer nach einer Rückkehr zurück in die Schule gehen sowie bei den Eltern wohnen könne und somit in C. über ein tragfähiges Beziehungsnetz verfüge, genügt einer ausreichenden Prüfung der obgenannten Kriterien nicht. Insbesondere ist von der Vorinstanz konkret abzuklären, ob der Beschwerdeführer durch Angehörige beziehungsweise – wenn dies nicht möglich oder mit dem Kindeswohl nicht vereinbar ist – anderweitig empfangen, untergebracht und betreut werden kann. Dies umso mehr, als der Beschwerdeführer geltend macht, von seinem Vater geschlagen worden zu sein. Diese konkreten Abklärungen müssen vor Erlass einer Wegweisungsverfügung vorgenommen beziehungsweise eingeholt werden, damit sie einer gerichtlichen Überprüfung offenstehen; entsprechende Sachverhaltselemente sind Voraussetzung und Teil der anfechtbaren Verfügung. Nach dem Gesagten steht fest, dass die Vorinstanz den rechtserheblichen Sachverhalt nicht vollständig ermittelt und der ihr obliegenden Begründungspflicht nicht genügend nachgekommen ist, womit sie den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt hat.
Gemäss Art. 61 Abs. 1 VwVG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht in der Sache selbst oder weist diese ausnahmsweise mit verbindlichen Weisungen an die Vorinstanz zurück. Eine Kassation und Rückweisung an die Vorinstanz ist insbesondere angezeigt, wenn weitere Tatsachen festgestellt werden müssen und ein umfassendes Beweisverfahren durchzuführen ist. Die in diesen Fällen fehlende Entscheidungsreife kann grundsätzlich zwar auch durch die Beschwerdeinstanz selbst hergestellt werden, wenn dies im Einzelfall aus prozessökonomischen Gründen angebracht erscheint; sie muss dies aber nicht (vgl. BVGE 2012/21 E. 5). Im vorliegenden Fall ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, zumal die Erstellung des Sachverhalts weiterer Abklärungen bedarf.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen. Die Dispositivziffern 4 und 5 der Verfügung vom 31. Juli 2024 (Vollzug der Wegweisung) sind aufzuheben und die Sache ist zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Angesichts dieses Verfahrensausgangs erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit den weiteren Beschwerdevorbringen; diese werden jedoch integraler Bestandteil des wiederaufzunehmenden erstinstanzlichen Verfahrens und entsprechend werden sie von der Vorinstanz mitzuberücksichtigen sein.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Verfahrenskosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 VwVG).
Dem Beschwerdeführer ist keine Parteientschädigung zuzusprechen, weil es sich bei seiner Rechtsvertreterin um eine zugewiesene unentgeltliche Rechtsvertretung im Sinn von Art. 102h AsylG handelt, deren Leistungen vom Bund nach Massgabe von Art. 102k AsylG entschädigt werden (vgl. auch Art. 102k Abs. 1 Bst. d und Art. 111ater AsylG).
Die Anträge um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses erweisen sich damit als gegenstandlos.
(Dispositiv nächste Seite)
Die Beschwerde wird gutgeheissen.
Die Dispositivziffern 4 und 5 der Verfügung vom 31. Juli 2024 werden aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Es wird keine Parteientschädigung ausgerichtet.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, die Vorinstanz und die kantonale Migrationsbehörde.
Die Einzelrichterin: Der Gerichtsschreiber:
Barbara Balmelli Janic Lombriser
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