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Bundesverwaltungsgericht Urteil D-3307/2024

Kopfdaten
Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung IV
Dossiernummer:D-3307/2024
Datum:22.08.2024
Leitsatz/Stichwort:Vollzug der Wegweisung
Schlagwörter : Wegweisung; Marokko; Beschwerdeführers; Vollzug; Vorinstanz; Wegweisungsvollzug; Recht; Verfügung; Situation; Entscheid; Ziffer; Bundesverwaltungsgericht; Sachverhalt; Familie; Schweiz; Heimatstaat; Akten; Familien; Geschwister; Arbeit; Anhörung; Erdbeben; Person; Verfahren; ändigen
Rechtsnorm: Art. 12 BV ; Art. 25 BV ; Art. 29 BV ; Art. 32 VwVG ; Art. 35 VwVG ; Art. 49 BV ; Art. 52 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 83 AIG ; Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
Müller, Schindler, Auer, Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren [VwVG], Art. 13; Art. 8 BV BVG VwVG, 2019
Entscheid

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung IV D-3307/2024

U r t e i l v o m 2 2 . A u g u s t 2 0 2 4

Besetzung Richter Simon Thurnheer (Vorsitz), Richterin Esther Marti,

Richterin Chrystel Tornare Villanueva; Gerichtsschreiberin Sarah Rutishauser.

Parteien A. , geboren am (…), Marokko,

vertreten durch MLaw Gianluca Schlaginhaufen,

(…),

Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Vollzug der Wegweisung;

Verfügung des SEM vom 24. April 2024 / N (…).

Sachverhalt:

A.

Der Beschwerdeführer – ein marokkanischer Staatsangehöriger – suchte am 24. November 2021 in der Schweiz um Asyl nach. Er wurde dem Bundesasylzentrum (BAZ) der Region Zürich zugewiesen.

B.

Am 30. November 2021 wurde er summarisch zu seiner Person befragt und am 27. Januar 2022 vertieft zu den Asylgründen (nach Art. 26 Abs. 3 AsylG und Art. 29 AsylG; SR 142.31) angehört.

Zur Begründung seines Asylgesuchs sowie zu seinem persönlichen Hintergrund führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, er sei gehörlos und habe eine Sehschwäche. Er habe zunächst anstelle des Schulunterrichts in Marokko im familieneigenen Betrieb gearbeitet und sei alsdann auch in anderen unterschiedlichen Arbeitsstellen tätig gewesen. Als gehörlose Person sei er in seinem Heimatstaat nicht adäquat unterstützt worden. Aufgrund ihrer Familien hätten seine vier gehörlosen sowie sieben hörenden Geschwister in einer besseren Situation gelebt. Seine Aussichten, in Marokko eine zufriedenstellende Arbeit und eine Ehefrau zu finden, seien dagegen schlecht gewesen. Deshalb sei er im Oktober 2019 gemeinsam mit Freunden zwecks Arbeitssuche in die Türkei gereist. Er habe insgesamt mehrere Monate in der Türkei und in Griechenland gearbeitet, sei jedoch aufgrund dortiger Lohnzahlungsprobleme nach Albanien weitergereist. Die Reise in die Schweiz sei wegen verschiedener (behördlicher) Problemen in Udine, Kroatien und Bosnien beschwerlich gewesen (Verhaftung, Rückführung, Busüberfall).

Hinsichtlich seines Gesundheitszustandes gab er an, bedrückt zu sein und manchmal weinen zu müssen. Er reichte beim SEM drei Arztberichte aus der Schweiz vom 9. Dezember 2021, 23. Dezember 2021 und 4. Februar

2022 sowie zwei aus Italien vom 8. November 2021 und 9. November 2021 ein.

C.

Das zunächst eingeleitete Dublin Verfahren wurde mit Verfügung vom

25. Februar 2022 beendet.

D.

Das Asylgesuch des Beschwerdeführers wurde am 4. März 2022 in das

erweiterte Verfahren überwiesen und der Beschwerdeführer mittels Verfügung vom 22. April 2022 dem Kanton Zürich zugeteilt.

E.

Während des Verfahrens tätigte das SEM Abklärungen zum marokkanischen Sozialsystem beziehungsweise betreffend die dortige Situation von Menschen mit Behinderung.

F.

Mit am 26. April 2024 eröffnetem Entscheid vom 24. April 2024 lehnte das SEM unter Verneinung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1) das Asylgesuch des Beschwerdeführers vom 24. November 2021 ab (Ziffer 2) und ordnete seine Wegweisung aus der Schweiz (Ziffer 3) sowie den Vollzug (Ziffer 4) an. Gleichzeitig beauftragte es den zuständigen Kanton mit dem Wegweisungsvollzug (Ziffer 5).

G.

Der Beschwerdeführer erhob mit vom 23. Mai 2024 datierter Eingabe am

24. Mai 2024 (Postaufgabe) gegen den Entscheid des SEM vom 24. April 2024 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Es wurde die Aufhebung von Ziffer 3 des Dispositivs der angefochtenen Verfügung und die Rückweisung der Sache zur rechtsgenüglichen Sachverhaltsabklärung sowie zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz, eventualiter aufgrund Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs die Anordnung der vorläufigen Aufnahme, beantragt. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersuchte er unter Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung in der Person der Rechtsvertretung.

Der Beschwerde lagen nebst einer Vollmacht und der angefochtenen Verfügung eine Fürsorgeabhängigkeitsbestätigung vom 13. Mai 2024 bei.

H.

Mit Schreiben vom 27. Mai 2024 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht den Eingang der Beschwerde.

I.

Der Beschwerdeführer reichte am 25. Juni 2024 einen Zwischenbericht der Psychotherapeutischen Praxis B. vom 14. Juni 2024 ein.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – wie auch vorliegend – endgültig (Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG; Art. 105 AsylG). Der Beschwerdeführer ist als Verfügungsadressat zur Beschwerdeführung legitimiert (Art. 48 VwVG). Auf die fristund formgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten (Art. 105 und 108 Abs. 2 AsylG, Art. 52 Abs. 1 VwVG).

2.

Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG, im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).

3.

Aufgrund der Rechtsbegehren respektive insbesondere der Beschwerdebegründung richtet sich die vorliegende Beschwerde ausschliesslich gegen den angeordneten Vollzug der Wegweisung (Ziffer 4 und 5) und insbesondere nicht gegen die in der Beschwerde ebenfalls genannte Ziffer 3 des Dispositivs der angefochtenen Verfügung (Wegweisung). Gegenstand des Beschwerdeverfahrens bildet demnach die Frage, ob das SEM den Vollzug der Wegweisung zu Recht angeordnet hat (vgl. Art. 44 AsylG i.V.m. Art. 83 Abs. 1-4 AIG). In den übrigen Punkten ist die angefochtene Verfügung mangels Anfechtung mit Ablauf der Beschwerdefrist in Rechtskraft erwachsen.

4.

Gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG wurde auf einen Schriftenwechsel verzichtet.

5.

    1. In der Beschwerde werden als Hauptbegehren (auf Kassation) formelle Rügen erhoben. Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz die Verletzung der Untersuchungspflicht beziehungsweise eine unvollständige Sachverhaltsfeststellung betreffend den Wegweisungsvollzug und eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor.

    2. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 29 VwVG, Art. 32 Abs. 1 VwVG) verlangt, dass die verfügende Behörde die Vorbringen des Betroffenen tatsächlich hört, sorgfältig und ernsthaft prüft

      und in der Entscheidungsfindung berücksichtigt, was sich entsprechend in der Entscheidbegründung niederschlagen muss (vgl. Art. 35 Abs. 1 VwVG). Im Verwaltungsund namentlich im Asylverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz, das heisst die Behörde stellt den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen fest (Art. 6 AsylG i.V.m. Art. 12 VwVG; vgl. Art. 106 Abs. 1 Bst. b AsylG). Für das erstinstanzliche Asylverfahren bedeutet dies, dass das SEM zur richtigen und vollständigen Ermittlung und zur Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts verpflichtet ist und auch nach allen Elementen zu forschen hat, die zugunsten der asylsuchenden Person sprechen. Der Untersuchungsgrundsatz gilt indes nicht uneingeschränkt, zumal er sein Korrelat in der Mitwirkungspflicht des Asylsuchenden findet (Art. 13 VwVG und Art. 8 AsylG; vgl. CHRISTOPH AUER, in: Auer/Müller/Schindler [Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren [VwVG], 2. Aufl. 2019, Art. 12 Rz. 9; BVGE 2012/21

      E. 5.1). Die entscheidende Behörde darf sich trotz des Untersuchungsgrundsatzes in der Regel darauf beschränken, die Vorbringen einer asylsuchenden Person zu würdigen und die von ihr angebotenen Beweise abzunehmen, ohne weitere Abklärungen vornehmen zu müssen (vgl. ausführlicher dazu BVGE 2009/50 E. 10.2.1 S. 734 m.H.a. Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 1995 Nr. 23 E. 5a).

    3. Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz konkret vor, sie habe sich in der Anhörung nicht an die ihr vorgegebenen, abzuklärenden Vorfragen gehalten (Beschwerde, S. 6). Sie habe ungenügend nach den Lebensumständen des Beschwerdeführers gefragt, weshalb die letzten Wohnorte, die Wohnund finanziellen Verhältnisse des Beschwerdeführers und seiner Geschwister wie auch der Zugang des Beschwerdeführers zur Gesundheitsversorgung nicht ausreichend geklärt seien. Dieser Vorwurf zielt ins Leere. Der vorliegende Sachverhalt wurde von der Vorinstanz insgesamt rechtsgenüglich abgeklärt und sie setzte sich hinreichend differenziert mit den zentralen Vorbringen des Beschwerdeführers auseinander. Der Vorwurf in der Beschwerde bezieht sich auf eine rein beispielhafte und nicht abschliessende Aufzählung von empfohlenen Vorfragen in der Anhörung, worauf zudem auch der vom Beschwerdeführer selbst zitierte Wortlaut

      «insbesondere» schliessen lässt. Die dargelegten Musterfragen sind im vorliegenden Fall – wie auch aus nachstehenden Erwägungen (E.) ersichtlich – nicht von unverzichtbarer Notwendigkeit, vielmehr muss sich der Sachverhalt aus der Anhörung gesamthaft erschliessen, was hinsichtlich der Situation des Beschwerdeführers vorliegend zutrifft. Zudem stimmen die Vorwürfe des Beschwerdeführers betreffend die Fragen zu den

      finanziellen Verhältnissen nicht (vgl. A18/20, F35 ff.). Im Weiteren kann der Beschwerdeführer aus der Rüge, die Vorinstanz habe die behauptungsweise negativen Folgen des Erdbebens in Marokko vom September 2023 für sein Familiennetzwerk nicht berücksichtigt (Beschwerde, S. 7), nichts zu seinen Gunsten ableiten. Er hat die angeblichen Konsequenzen des Erdbebens in Marokko, das sich nach seiner Anhörung vom 27. Januar 2022 erst im September 2023 ereignete, bis zum Zeitpunkt des Entscheids bei der Vorinstanz nicht vorgebracht, weshalb ihr diese Rüge nicht vorgeworfen werden kann (vgl. auch nachstehende E. 6.3.2). Ebenso wenig ist der Vorwurf begründet, sie habe die generelle Situation von Menschen mit Behinderung ungenügend abgeklärt beziehungsweise keine fundierte Lagebeschreibung erstellen lassen (Beschwerde, S. 7). Aus den Akten geht hervor, dass die Vorinstanz diesbezügliche Abklärungen tätigte (A38/4, A39/6, A40/4). Sie konnte angesichts der Art der seit Geburt bestehenden körperlichen Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers (Gehörlosigkeit und Sehbehinderung) anhand der beigezogenen Berichte und Artikel sowie der relevanten Informationen zur Situation von Menschen mit Behinderung in Marokko seine individuellen Lebensumstände beziehungsweise die Situation des Beschwerdeführers in Marokko – und damit auch den Wegweisungsvollzug – ausreichend würdigen (A40/4; vgl. vi-Entscheid, Ziff. II/1). Es ist nach dem Gesagten weder eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes, des rechtlichen Gehörs, noch der rechtsgenüglichen Sachverhaltsfeststellung ersichtlich. Aufgrund des Gesagten ist auch eine weitere, ergänzende Anhörung nicht angezeigt.

    4. Die verfahrensrechtlichen Rügen des Beschwerdeführers erweisen sich nach dem Gesagten als unberechtigt. Es besteht daher keine Veranlassung, die Verfügung aus formellen Gründen aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das diesbezügliche Hauptbegehren ist abzuweisen.

6.

    1. Ist der Vollzug der Wegweisung nicht zulässig, nicht zumutbar oder nicht möglich, so regelt das SEM das Anwesenheitsverhältnis nach den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme (Art. 44 AsylG; Art. 83 Abs. 1 AIG [SR 142.20]).

    2. Beim Geltendmachen von Wegweisungsvollzugshindernissen gilt gemäss Praxis des Bundesverwaltungsgerichts der gleiche Beweisstandard wie bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft; das heisst, sie sind zu

beweisen, wenn der strikte Beweis möglich ist, und andernfalls wenigstens glaubhaft zu machen (vgl. BVGE 2011/24 E. 10.2 m.w.H.).

7.

    1. Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den Heimat-, Herkunftsoder einen Drittstaat entgegenstehen (Art. 83 Abs. 3 AIG).

    2. Da der Beschwerdeführer, wie rechtskräftig erstellt ist, die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllt, ist das flüchtlingsrechtliche Rückschiebungsverbot von Art. 33 Abs. 1 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30) und Art. 5 AsylG nicht anwendbar. Die Zulässigkeit des Vollzuges beurteilt sich vielmehr nach den allgemeinen verfassungsund völkerrechtlichen Bestimmungen (Art. 25 Abs. 3 BV; Art. 3 des Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe [FoK, SR 0.105]; Art. 3 EMRK).

      Weder aus den Aussagen des Beschwerdeführers noch aus den Akten ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass er für den Fall einer Ausschaffung in den Heimatstaat dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer nach Art. 3 EMRK oder Art. 1 FoK verbotenen Strafe oder Behandlung ausgesetzt wäre. Auch die allgemeine Menschenrechtssituation im Heimatstaat lässt den Wegweisungsvollzug zum heutigen Zeitpunkt nicht als unzulässig erscheinen. Aus der seit Geburt bestehenden körperlichen Behinderung lassen sich ebenfalls keine völkerrechtliche Vollzugshindernisse ableiten, zumal er damit bis zur Ausreise in Marokko lebte und arbeitete, wie seine ebenfalls dort befindlichen taubstummen Geschwister.

    3. Nach dem Gesagten ist der Vollzug der Wegweisung sowohl im Sinne der landesals auch der völkerrechtlichen Bestimmungen zulässig.

7.4

      1. Gemäss Art. 83 Abs. 4 AIG kann der Vollzug für Ausländerinnen und Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimatoder Herkunftsstaat aufgrund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage konkret gefährdet sind. Wird eine konkrete Gefährdung festgestellt, ist – unter Vorbehalt von Art. 83 Abs. 7 AIG – die vorläufige Aufnahme zu gewähren.

      2. In Marokko herrscht kein Krieg, Bürgerkrieg oder eine Situation allgemeiner Gewalt, aufgrund derer die Zivilbevölkerung als konkret gefährdet bezeichnet werden müsste. Der Wegweisungsvollzug dorthin ist daher grundsätzlich zumutbar (vgl. Urteil des BVGer E-2757/2024 vom 16. Mai 2024 E. 8.3.2 m.w.H.).

      3. Auch in individueller Hinsicht erweist sich der Wegweisungsvollzug als zumutbar. Wie von der Vorinstanz korrekterweise festgehalten, handelt es sich beim Beschwerdeführer um einen 36-jährigen Mann mit zahlreichen Familienangehörigen und Verwandten im Heimatstaat, mit denen er in gutem Kontakt steht und die ihn bei einer Rückkehr bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft und gegebenenfalls mit einer Unterkunft unterstützen können (A18/20, F34), auch wenn sie – wie vom Beschwerdeführer vorgebracht – aus ärmlichen Verhältnissen stammen. Aus den Angaben des Beschwerdeführers geht die gegenseitige Unterstützung in der Familie als Gepflogenheit hervor, zumal er die Situation seiner Geschwister als besser empfindet, weil sie verheiratet sind und Familie haben, die sich umeinander kümmern. Beispielsweise wird die Mutter von seinem in Spanien lebenden Bruder finanziell unterstützt und es darf angenommen werden, dieser könne – nebst den anderen elf Geschwistern – auch dem Beschwerdeführer allfällige Unterstützung gewähren (A18/20, F36, F59). Demgemäss vermag auch die in der Beschwerde aufgrund des Erdbebens in Marokko vom September 2023 nicht belegte Behauptung des kaputten Hauses der Mutter in Quarzazate etwas zu ändern. Selbst wenn das Haus der Mutter in seinem Geburtsort Quarzazate durch das Erdbeben zerstört worden sein sollte, nannte der Beschwerdeführer als letzten Wohnsitz – wie auch als Arbeitsstelle – vor seiner Ausreise Agadir, das rund 350 Kilometer von Quarzazate entfernt liegt. Dort war das Erdbeben nur leicht spürbar; hauptsächlich davon betroffene Provinzen waren Al Haouz und Taroudant (A10/5, Ziff. 1.07 und 2.01, A18/20, F26); vgl. auch https://www.nzz.ch/panorama/rund-18-millionen-menschen-direkt-vondem-erdbeben-betroffen-das-ganze-ausmass-der-katastrophe-wird-erstlangsam-klar-ld.1755451, zuletzt abgerufen am 13. August 2024). Zudem lebte der heute 36-jährige Beschwerdeführer vor der Ausreise seit vielen Jahren nicht mehr bei der Mutter, sah diese gar einmal zwei Jahre lang überhaupt nicht, sondern wohnte unter anderem acht Autostunden von ihr entfernt in einer Wohngemeinschaft mit zwei Freunden, im Haushalt mit anderen Freunden, in einem unbenutzten Bus beziehungsweise reiste mit der Fussballmannschaft umher (Tanger, Casablanca; A18/20, F25 f.). Andererseits wohnen zehn seiner elf Geschwister mit ihren Familien in Marokko, ebenso zwei Onkel und Tanten (A18/20, F30, F36, F42, F46 ff.). Es

        gibt keine Anhaltspunkte in den Akten oder in den Beschwerdeausführungen, dass andere Familienmitglieder in einer existenzbedrohenden Weise oder überhaupt vom Erdbeben betroffen wären, und es kann angenommen werden, dass sie einander (ohnehin) weiterhin unterstützen. Es ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Marokko wiederum in der Lage ist, eine wirtschaftliche Lebensgrundlage zu schaffen, da er nebst der Mitarbeit im Familienbetrieb auch bereits mehrere Arbeitsstellen ausgeübt hat (Reinigungsarbeiten, Platzanweiser, Parkwächter) und selbst zwecks Arbeit im Ausland (Pflücker, A18/20, S. 1) tätig war. Es besteht kein Anspruch auf denselben Lebensstandard wie in der Schweiz beziehungsweise lässt sich aus einem vergleichsweisen weniger hohen Lebensstandard im Heimatstaat keine Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs ableiten. Bei einer Rückkehr nach Marokko ist, wie nachfolgend zu sehen sein wird, nicht von einer existenzbedrohenden Lage auszugehen.

      4. Von einer Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs aus medizinischen Gründen ist nur dann auszugehen, wenn eine Rückkehr eine drastische und lebensbedrohende Verschlechterung des Gesundheitszustandes nach sich ziehen würde (vgl. dazu ausführlicher BVGE 2011/50 E. 8.3

        S. 1003 f. und 2009/2 E. 9.3.2 S. 21). An der Anhörung hatte der Beschwerdeführer angegeben, es gehe ihm soweit gut, er brauche aber Hilfe für seine Augen und seine Magenprobleme. Aufgrund des langen Laufens und der Kälte habe er auch Rückensowie Fussschmerzen. Sollte er keine diesbezügliche Hilfe erhalten, wäre er betrübt. Gemäss den Akten ist der Beschwerdeführer gehörlos und auf dem linken Auge blind; auf dem rechten Auge hat er eine Sichtweite von zwei bis drei Metern. Beispielsweise kann er Strassenschilder nur mit einer Brille erkennen, sich jedoch innerhalb eines Raumes mit den Distanzen zu Recht finden (A18/20, F15, F20, F55). Im Weiteren kann er sich verständigen, indem er die marokkanische, die internationale und teilweise die türkische sowie deutschschweizer Gebärdensprache beherrscht (A18/20, F5, F52; Beilage act. 3). Die Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs im Sinne der Rechtsprechung ist demgemäss aus seiner körperlichen Beeinträchtigung nicht ersichtlich, zumal er in Marokko erfolgreich Fussball spielte und Karate ausübte (A18/20, F26 f.). Auf Beschwerdeebene reichte der Beschwerdeführer einen Zwischenbericht der Psychotherapeutischen Praxis B. vom 14. Juni 2024 (Beilage act. 3) ein, aus dem hervorgeht, dass er – nach Eröffnung des negativen Asylentscheides vom 24. April 2024 – seit Mai 2024 in psychotherapeutischer Behandlung ist. Vorher habe er einmal während knapp eines Jahres regelmässige Gespräche mit einem Psychologen geführt,

        vordergründig über Fluchterfahrungen, Kindheitserlebnisse und aktuelle Schwierigkeiten, wovon jedoch keine Unterlagen, Vorberichte oder eine Einschätzung der zuständigen Fachpersonen zu erhalten seien. Im Wesentlichen werden im eingereichten Bericht die bisherigen körperlichen Beeinträchtigungen (somatische Diagnosen) sowie neu – vom Fachpsychologen – medizinische Hauptdiagnosen, wie eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und eine hochbis mittelgradige, depressive Episode sowie als Nebendiagnosen eine Angststörung sowie eine frühkindliche Entwicklungsstörung im Sprechen und der Sprache, genannt. Ungeachtet dessen, dass diese neuen medizinischen Diagnosen nicht von einem Arzt gestellt wurden, ist nicht davon auszugehen, die vorgebrachten gesundheitlichen Probleme des Beschwerdeführers würden im Falle des Vollzugs der Wegweisung nach Marokko eine drastische Verschlechterung seines Gesundheitszustandes nach sich ziehen. Eine solche ist auch gemäss den bei der Vorinstanz und auf Beschwerdeebene eingereichten Arztberichten nicht zu erwarten, da sie nebst der Taubstummheit und der Sehbehinderung bestätigen, dass bei ihm keine sonstigen Krankheiten bestehen (A14/4, 16/2, 23/3; Beilage act. 3). Eine allfällig weitere psychologische Behandlung kann der Beschwerdeführer auch in seinem Heimatstaat in Anspruch nehmen. So verfügt Marokko generell über ein gut entwickeltes Gesundheitssystem und vor allem in städtischen Zentren über eine genügende Anzahl von Einrichtungen, die psychiatrische oder psychologische Therapien anbieten (vgl. etwa das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts [BVGer] D-2963/2020 vom 13. März 2024 E. 7.1.5.3 m.w.H.). Es ist kein unzumutbares Vollzugshindernis ersichtlich.

      5. Demzufolge sind die Hinweise des Beschwerdeführers auf ärmliche Verhältnisse, erlebte Schikanen, allgemeine Statistiken und die Behindertenrechtskonvention (Beschwerde, S. 8 ff.) unbehelflich.

      6. Nach dem Gesagten erweist sich der Vollzug der Wegweisung nach Marokko auch als zumutbar.

    1. Schliesslich obliegt es dem Beschwerdeführer, sich bei der zuständigen Vertretung des Heimatstaates die für eine Rückkehr notwendigen Reisedokumente zu beschaffen (vgl. Art. 8 Abs. 4 AsylG und dazu auch BVGE 2008/34 E. 12), weshalb der Vollzug der Wegweisung auch als möglich zu bezeichnen ist (Art. 83 Abs. 2 AIG).

    2. Zusammenfassend hat die Vorinstanz den Wegweisungsvollzug zu Recht als zulässig, zumutbar und möglich bezeichnet. Eine Anordnung der vorläufigen Aufnahme fällt somit ausser Betracht (Art. 83 Abs. 1–4 AIG).

8.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung Bundesrecht nicht verletzt und auch sonst nicht zu beanstanden ist (Art. 106 Abs. 1 AsylG und Art. 49 VwVG). Die Beschwerde ist abzuweisen.

9.

    1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten dem unterliegenden Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung ist angesichts des Umstandes, dass sich seine Beschwerde als nicht zum vornherein aussichtslos erweist und aufgrund der Akten von seiner prozessualen Bedürftigkeit auszugehen ist (Fürsorgeabhängigkeitsbestätigung, Beschwerdebeilage 3), antragsgemäss gutzuheissen.

    2. Die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung umfasst den Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Das entsprechende Gesuch ist allerdings mit dem vorliegenden Direktentscheid gegenstandslos geworden (Art. 63 Abs. 4 VwVG).

    3. Demgemäss ist auch das Gesuch um amtliche Rechtsverbeiständung mit der Rechtsvertreterin gutzuheissen. Es wurde keine Kostennote zu den Akten gereicht, indessen lässt sich der notwendige Vertretungsaufwand aufgrund der Aktenlage zuverlässig abschätzen, weshalb auf die Einholung einer solchen verzichtet werden kann (Art. 14 Abs. 2 in fine VGKE). Unter Berücksichtigung der massgebenden Bemessungsfaktoren (Art. 9–13 VGKE) ist zulasten der Gerichtskasse ein amtliches Honorar von insgesamt Fr. 1’050.– (inkl. Auslagen und allfälliger MwSt.) zuzusprechen.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.

Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

3.

Der amtlichen Rechtsvertreterin wird ein amtliches Honorar zulasten der Gerichtskasse in der Höhe von Fr. 1’050.– zugesprochen.

4.

Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:

Simon Thurnheer Sarah Rutishauser

Versand:

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