Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung III |
Dossiernummer: | C-587/2024 |
Datum: | 29.07.2024 |
Leitsatz/Stichwort: | Invalidenversicherung (Übriges) |
Schlagwörter : | IVSTA; Verfahren; Verfügung; Bundesverwaltungsgericht; Urteil; Recht; Leistung; Vorinstanz; BVGer; Schweiz; Akten; Verwaltung; Verfahrens; Parteien; Beschwerdeverfahren; Bundesgericht; Rente; Leistungen; Sachverhalt; Entscheid; Unrecht; Rückerstattung; Advokat; Schweizer; Zeitpunkt; Parteientschädigung; Nicolai; Fullin; IV-Stelle |
Rechtsnorm: | Art. 25 ATSG ;Art. 43 ATSG ;Art. 48 BGG ;Art. 48 VwVG ;Art. 52 VwVG ;Art. 61 ATSG ;Art. 62 VwVG ;Art. 63 BV ;Art. 63 VwVG ;Art. 64 VwVG ; |
Referenz BGE: | 121 V 362; 130 V 1; 130 V 445; 131 V 164; 132 V 215; 136 V 376; 143 V 168; 143 V 446; 145 V 231; 146 V 217; 146 V 364 |
Kommentar: |
Abteilung III C-587/2024
Besetzung Richter Beat Weber (Vorsitz),
Richterin Caroline Bissegger, Richterin Caroline Gehring, Gerichtsschreiberin Tanja Jaenke.
Parteien A. , Zustelladresse: c/o B. (Schweiz), vertreten durch lic. iur. Nicolai Fullin, Advokat, Beschwerdeführerin,
gegen
Vorinstanz.
Gegenstand IV, Rückerstattung;
Verfügung der IVSTA vom 22. Dezember 2023.
A. (nachfolgend Versicherte), geboren am (…) 1959, ist indische Staatsangehörige. Im Jahr 1992 reiste sie in die Schweiz ein (vgl. Akten der Vorinstanz im Verfahren C-587/2024 gemäss Aktenverzeichnis vom
23. Februar 2024 [IVSTA3-act.] 7 S. 1; 20 S. 1). Von 1992 bis 1997 hielt sich die Versicherte in (…) auf und von 1997 bis 2002 in (…) (IVSTA3-act. 7
S. 1). Sie absolvierte von Oktober 1994 bis Juni 1998 eine vierjährige Ausbildung an der C. in (…) (IVSTA3-act. 44 S. 1). Am 19. Februar 2002 heiratete die Versicherte D. [Anmerkung des Gerichts: teilweise auch mit «[…]» bezeichnet], der neben der Schweizer Staatsbürgerschaft auch über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügt (IVSTA3-act. 2
S. 1; 131 S. 1; 283; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts [BGer] 8C_660/2018 vom 7. Mai 2019 E. 7.1 in fine). Die Versicherte arbeitete von 1993 bis 2009 in der Schweiz und leistete dabei Beiträge an die schweizerische Alters-, Hinterlassenenund Invalidenversicherung (IVSTA3-act. 47; 233). Zuletzt war sie bei der E. AG in (…) zu 50 % als Haushaltshilfe/Raumpflegerin tätig und ist seit 2. April 2009 zu 100% arbeitsunfähig (IVSTA3-act. 20 S. 5; 31).
Am 12. Februar 2010 meldete sich die Versicherte bei der IV-Stelle F. (nachfolgend IV-Stelle) zum Bezug von Massnahmen für die berufliche Eingliederung an (IVSTA3-act. 20; 22). Mit Verfügung vom
28. Juni 2012 wies die IV-Stelle für Versicherte im Ausland (nachfolgend IVSTA) das Leistungsbegehren der Versicherten mangels eines Wohnsitzes in der Schweiz ab (IVSTA3-act. 79). Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 25. August 2014 im Verfahren B-4464/2012 ab (IVSTA3-act. 95). Mit Urteil vom 4. Mai 2015 hiess das Bundesgericht die gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erhobene Beschwerde im Verfahren 8C_713/2014 teilweise gut und wies die Sache zur korrekten Feststellung des Sachverhalts und zu neuer Verfügung an die IVSTA zurück (IVSTA3-act. 117).
Nach weiteren Abklärungen der IV-Stelle zum Wohnsitz der Versicherten wies die IVSTA das Leistungsbegehren der Versicherten mit Verfügung vom 21. Juli 2017 erneut aufgrund des fehlenden Wohnsitzes in der Schweiz ab (IVSTA3-act. 147 f.). Hiergegen erhob die Versicherte, vertreten durch Advokat Nicolai Fullin, Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht, welche mit Urteil vom 21. August 2018 im Verfahren C-5216/2017
abgewiesen wurde (IVSTA3-act. 165). Am 5. September 2018 hiess das Bundesverwaltungsgericht ein Erläuterungsgesuch der Versicherten gut und ergänzte das Dispositiv des Urteils vom 21. August 2018 (IVSTA3act. 167). Die gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erhobene Beschwerde hiess das Bundesgericht mit Urteil vom 7. Mai 2019 im Verfahren 8C_660/2018 (zwischenzeitlich publiziert als BGE 145 V 231) teilweise gut, hob das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. August 2018 sowie die Verfügung der IVSTA vom 21. Juli 2017 auf und wies die Sache zu neuem Entscheid an die IVSTA zurück (IVSTA3-act. 186). Zur Begründung führte das Bundesgericht in Erwägung 10.1 aus, die Versicherte habe als Ehefrau eines in Deutschland wohnhaften Schweizers unter den gleichen Voraussetzungen wie eine Schweizer Bürgerin Anspruch auf eine Invalidenrente.
Die IVSTA setzte das Bundesgerichtsurteil im Verwaltungsverfahren folgendermassen um:
Mit drei Verfügungen vom 6. Mai 2021 sprach die IVSTA der Versicherten vom 1. August 2010 bis zum 31. Juli 2011 eine halbe IV-Rente
(Wartekonto: Fr. 3’016.–), vom 1. August 2011 bis zum 31. März 2012 eine ganze IV-Rente (Wartekonto: Fr. 4'048.–) und ab dem 1. April 2012 eine Dreiviertelsrente der IV (Wartekonto: 42'388.–; Saldo Juni 2021: Fr. 392.–) zu (IVSTA3-act. 236-238). Diese Verfügungen erwuchsen unangefochten in Rechtskraft.
Mit drei weiteren Verfügungen vom 23. Juni 2021 sprach die IVSTA der Versicherten Verzugszinsen auf die mit Verfügungen vom 6. Mai 2021 gewährten Rentennachzahlungen zu (vgl. Akten der Vorinstanz im Verfahren C-3746/2021 gemäss Aktenverzeichnis vom 1. September 2021 [IVSTA-act.] 127-129).
Hiergegen erhob die Versicherte eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht, welche unter der Fallnummer C-3746/2021 in der Geschäftsliste geführt wird (vgl. Akten im Beschwerdeverfahren C-3746/2021 [BVGer-act.] 1).
Bedingungen für die Auszahlung der Rente rückwirkend für die Zeiträume vom 10. April 2011 bis zum 20. November 2013, vom 29. August 2015 bis
zum 20. November 2016 und ab dem 19. November 2019 auf (IVSTA3act. 296). Den Akten ist diesbezüglich zu entnehmen, dass die IVSTA die Rentenzahlungen bereits im Dezember 2021 – jedoch offenbar ohne dass in jenem Zeitpunkt diesbezüglich eine Verfügung erlassen worden wäre – eingestellt und in der Folge auch nicht mehr aufgenommen hat (IVSTA3act. 247 f.; 253; 255; 257; 259; 263; 272 ff.).
Hiergegen erhob die Versicherte am 27. September 2023 eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht, welche unter der Fallnummer C-5240/2023 in der Geschäftsliste geführt wird (vgl. Akten im Beschwerdeverfahren C-5240/2023 [BVGer2-act.] 1).
Mit Vorbescheid vom 1. November 2023 informierte die IVSTA die Versicherte über ihre Absicht, die zu Unrecht bezahlten Leistungen im Zeitraum vom 1. Dezember 2019 bis zum 30. November 2021 in der Höhe von total Fr. 9'356.– zurückzufordern (IVSTA3-act. 298). Nachdem die Versicherte offenbar am 29. November 2023 einen Einwand – der in den von der Vorinstanz eingereichten Akten jedoch nicht enthalten ist – gegen die Rückforderung erhoben hatte, verfügte die IVSTA am 22. Dezember 2023 die Rückerstattung des Betrags von Fr. 9’356.– (IVSTA3-act. 299).
Am 26. Januar 2024 erhob die Versicherte (nachfolgend Beschwerdeführerin), nach wie vor vertreten durch Advokat Nicolai Fullin, Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht gegen die Verfügung vom 22. Dezember 2023 und stellte die folgenden Rechtsbegehren (vgl. Akten im Beschwerdeverfahren C-587/2024 [BVGer3-act.] 1):
«1.Es sei die Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 22. Dezember 2023 aufzuheben, und es sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin den von der Beschwerdegegnerin rückgeforderten Betrag von CHF 9'356.00 nicht schuldet.
Es sei das vorliegende Verfahren bis zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren C–5240/2023 zu sistieren, eventualiter seien die beiden Verfahren zu vereinigen.
Es sei der Beschwerdeführerin die unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung mit dem unterzeichneten Advokaten als Rechtsvertreter zu bewilligen.
Unter o/e-Kostenfolge.»
Mit Zwischenverfügung vom 1. Februar 2024 hiess der Instruktionsrichter das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung sowie der unentgeltlichen Verbeiständung gut und ordnete der Beschwerdeführerin Advokat Nicolai Fullin als amtlich bestellten Anwalt bei (BVGer3act. 2 Dispositiv-Ziffern 1 und 2).
Ebenfalls mit Zwischenverfügung vom 1. Februar 2024 wies der Instruktionsrichter das Sistierungsgesuch der Beschwerdeführerin ab und stellte einen späteren Entscheid über den Eventualantrag einer Verfahrensvereinigung in Aussicht (BVGer3-act. 2 Dispositiv-Ziffern 3 und 4).
Die IVSTA (nachfolgend auch Vorinstanz) stellte in ihrer Vernehmlassung vom 1. März 2024 den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen und die angefochtene Verfügung zu bestätigen (BVGer3-act. 4).
Replikweise hielt die Beschwerdeführerin am 22. April 2024 an ihrer Beschwerde fest (BVGer3-act. 6).
Mit Schreiben vom 24. Mai 2024 teilte die Vorinstanz mit, aus der Replik der Beschwerdeführerin würden sich keine relevanten neuen Gesichtspunkte ergeben, weshalb an den Anträgen festgehalten werde (BVGer3act. 8).
Am 29. Mai 2024 schloss der Instruktionsrichter den Schriftenwechsel ab und stellte der Beschwerdeführerin die Eingabe der Vorinstanz vom
24. Mai 2024 zur Kenntnisnahme zu (BVGer3-act. 9).
In der Folge reichte die Beschwerdeführerin am 3. Juni 2024 eine weitere Stellungnahme ein (BVGer3-act. 10).
Mit Instruktionsverfügung vom 5. Juni 2024 stellte der Instruktionsrichter der Vorinstanz die Stellungnahme der Beschwerdeführerin vom 3. Juni 2024 zur Kenntnis zu (BVGer3-act. 11).
Auf die weiteren Ausführungen der Parteien sowie auf die eingereichten Unterlagen wird – soweit erforderlich – in den nachstehenden Erwägungen eingegangen.
Das Bundesverwaltungsgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob die Prozessvoraussetzungen erfüllt sind und ob auf eine Beschwerde einzutreten ist (Art. 7 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren [Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG, SR 172.021]; BVGE 2016/15 E. 1; 2014/4 E. 1.2).
Gemäss Art. 31 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG, SR 173.32) in Verbindung mit Art. 32 und Art. 33 Bst. d VGG sowie Art. 69 Abs. 1 Bst. b des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG, SR 831.20) ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung der vorliegenden Beschwerde zuständig.
Das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht richtet sich gemäss Art. 37 VGG grundsätzlich nach VwVG. Vorbehalten bleiben gemäss Art. 3 Bst. dbis VwVG die besonderen Bestimmungen des Bundesgesetzes vom
6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG, SR 830.1). Nach den allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln finden diejenigen Verfahrensregeln Anwendung, welche im Zeitpunkt der Beschwerdebeurteilung in Kraft stehen (BGE 130 V 1 E. 3.2).
Als direkte Adressatin ist die Beschwerdeführerin von der angefochtenen Verfügung berührt und sie kann sich auf ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung berufen (Art. 59 ATSG; Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die eingereichte Beschwerde ist, nachdem die Pflicht zu Leistung eines Kostenvorschusses infolge der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege entfallen ist (vgl. Art. 69 Abs. 1bis und 2 IVG i.V.m. Art. 63 Abs. 4 VwVG; BVGer3-act. 2), einzutreten (Art. 60 ATSG; Art. 52 Abs. 1 VwVG).
Zum Beschwerdeverfahren ist Folgendes festzuhalten:
Das Bundesverwaltungsgericht prüft die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich der Überschreitung oder des Missbrauchs des Ermessens, die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und die Unangemessenheit (Art. 49 VwVG).
Gemäss dem Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen ist das Bundesverwaltungsgericht nicht an die Begründung der Begehren der Parteien gebunden (Art. 62 Abs. 4 VwVG). Es kann die Beschwerde auch aus anderen als den geltend gemachten Gründen gutheissen oder den angefochtenen Entscheid im Ergebnis mit einer Begründung bestätigen, die von jener der Vorinstanz abweicht (vgl. BVGE 2013/46 E. 3.2).
Sowohl das Verwaltungsverfahren wie auch der erstinstanzliche Sozialversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht (vgl. Art. 43 Abs. 1 ATSG; Art. 61 Bst. c ATSG; Art. 12 VwVG). Danach hat die Verwaltung und im Beschwerdeverfahren das Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des erheblichen Sachverhalts zu sorgen (vgl. BGE 136 V 376 E. 4.1.1). Sofern das Gesetz nicht etwas Abweichendes vorsieht, gilt im Sozialversicherungsrecht der Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 143 V 168 E. 2; 138
V 218 E. 6).
Nachfolgend ist zunächst das anwendbare materielle Recht und der zeitlich massgebende Sachverhalt zu bestimmen:
Die Beschwerdeführerin ist indische Staatsangehörige und mit einem Schweizer Bürger verheiratet (vgl. oben Bst. A). Gemäss Bundesgerichtsurteil 8C_660/2018 vom 7. Mai 2019 haben sowohl die Beschwerdeführerin als auch ihr Ehemann Wohnsitz in Deutschland. Da das Bundesverwaltungsgericht im Urteil C-5240/2023 vom 29. Juli 2024 überdies festgestellt hat, dass sich hieran nichts geändert habe, liegt offensichtlich ein grenzüberschreitender Sachverhalt mit Bezug zur EU vor (vgl. dazu BGE 145 V 231 E. 7.1; 143 V 81 E. 8.3). Damit gelangen das Freizügigkeitsabkommen vom 21. Juni 1999 (FZA, SR 0.142.112.681) und die Regelwerke der Gemeinschaft zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäss Anhang II des FZA, insbesondere die für die Schweiz am 1. April 2012 in Kraft getretenen Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 (SR 0.831.109.268.1) und Nr. 987/2009 (SR 0.831.109.268.11), zur Anwendung. Seit dem 1. Januar 2015 sind auch die durch die Verordnungen (EU) Nr. 1244/2010, Nr. 465/2012 und Nr. 1224/2012 erfolgten Änderungen in den Beziehungen zwischen der Schweiz und den EU-Mitgliedstaaten anwendbar.
In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgeblich, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 143 V 446 E. 3.3; 139 V 335 E. 6.2; 138 V 475 E. 3.1).
Deshalb finden die Vorschriften Anwendung, die spätestens beim Erlass der Verfügung vom 22. Dezember 2023 in Kraft standen; weiter aber auch Vorschriften, die zu jenem Zeitpunkt bereits ausser Kraft getreten waren, die aber für die Beurteilung allenfalls früher entstandener Leistungsansprüche von Belang sind.
Am 1. Januar 2022 sind die Änderung vom 19. Juni 2020 des IVG und des ATSG (Weiterentwicklung der IV; AS 2021 705; BBl 2020 5535; Botschaft
des Bundesrates vom 15. Februar 2017 [BBl 2017 2535]) sowie die Ände-
rungen der IVV vom 3. November 2021 (AS 2021 706) in Kraft getreten. Weil in zeitlicher Hinsicht – vorbehältlich besonderer übergangsrechtlicher Regelungen – grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgeblich sind, die bei der Erfüllung des rechtlich zu ordnenden oder zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 146 V 364 E. 7.1; 144 V 210 E. 4.3.1), sind die Leistungsansprüche für die Zeit ab 1. Januar 2022 nach den neuen Normen zu prüfen. Soweit Ansprüche zu prüfen sind, die noch vor dem 1. Januar 2022 entstanden sind, kommen für die Zeit bis zum Rechtswechsel noch die bis 31. Dezember 2021 geltenden Normen zur Anwendung (vgl. BGE 130 V 445).
Das Sozialversicherungsgericht stellt bei der Beurteilung einer Streitsache in der Regel auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verwaltungsverfügung (hier: 22. Dezember 2023) eingetretenen Sachverhalt ab (BGE 132 V 215 E. 3.1.1; 130 V 445 E. 1.2). Tatsachen, die jenen Sachverhalt seither verändert haben, sollen im Normalfall Gegenstand einer neuen Verwaltungsverfügung sein (BGE 121 V 362 E. 1b; Urteil des BGer 8C_136/2017 vom 7. August 2017 E. 3). Immerhin sind indes Tatsachen, die sich erst später verwirklichen, soweit zu berücksichtigen, als sie mit dem Streitgegenstand in engem Sachzusammenhang stehen und geeignet sind, die Beurteilung im Zeitpunkt des Verfügungserlasses zu beeinflussen (BGE 121 V 362 E. 1b; Urteile des BGer 8C_95/2017 vom 15. Mai 2017 E. 5.1 und 9C_24/2008 vom 27. Mai 2008 E. 2.3.1).
Anfechtungsobjekt und damit Begrenzung des Streitgegenstandes des vorliegenden Beschwerdeverfahrens (vgl. BGE 131 V 164 E. 2.1) bildet die Verfügung vom 22. Dezember 2023, mit der die Vorinstanz die Leistungen im Zeitraum vom 1. Dezember 2019 bis zum 30. November 2021 in der Höhe von Fr. 9'356.– zurückfordert. Streitig und vom Bundesverwaltungsgericht zu prüfen ist damit die Zulässigkeit dieser Rückforderung.
Mit Verfügung vom 28. August 2023 hob die IVSTA die der Beschwerdeführerin zuvor zugesprochene Rente rückwirkend für die Zeiträume vom
10. April 2011 bis zum 20. November 2013, vom 29. August 2015 bis zum
20. November 2016 und ab dem 19. November 2019 auf. Diese Verfügung wurde – wie erwähnt (vgl. oben Bst. B.c.c) – ebenfalls beim Bundesverwaltungsgericht angefochten. Die entsprechende Beschwerde wird im konnexen Verfahren C-5240/2023 gleichzeitig mit dem vorliegenden Verfahren behandelt. Einer Vereinigung der beiden Verfahren bedarf es demnach nicht, weshalb der diesbezügliche Eventualantrag der Beschwerdeführerin abzuweisen ist.
In rechtlicher Hinsicht ist Folgendes festzuhalten:
Unrechtmässig bezogene Leistungen sind zurückzuerstatten. Wer Leistungen in gutem Glauben empfangen hat, muss sie nicht zurückerstatten, wenn eine grosse Härte vorliegt (Art. 25 Abs. 1 ATSG). Gemäss Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ATSG erlischt der Rückforderungsanspruch gemäss der vom
1. Januar 2003 bis 31. Dezember 2020 in Kraft gestandenen Fassung (AS 2002 3376) mit dem Ablauf eines Jahres und gemäss der seit dem 1. Januar 2021 in Kraft stehenden Fassung (AS 2020 5137) mit Ablauf von drei Jahren, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung. Bei den genannten Fristen handelt es sich um von Amtes wegen zu beachtende Verwirkungsfristen (BGE 146 V 217 E. 2.1,
140 V 521 E. 2.1 und 138 V 74 E. 4.1, je m.H.; Urteil des BGer
8C_843/2018 vom 22. Januar 2018 E. 3.2 m.H.).
Mangels besonderer Übergangsvorschriften – es besteht lediglich eine übergangsrechtliche Bestimmung, wonach für im Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Fassung von Art. 25 Abs. 2 ATSG vom 1. Januar 2021 beim erstinstanzlichen Gericht hängige Beschwerden das bisherige Recht gilt (vgl. Art. 82a ATSG) – ist aufgrund der allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln vorliegend zu beachten, dass für bis Ende 2020 zu Unrecht ausgerichtete Leistungen eine relative einjährige Verwirkungsfrist und für ab dem Jahr 2021 unrechtmässig ausgerichtete Leistungen eine solche von drei Jahren zur Anwendung gelangt (vgl. dazu Urteil des Bundesverwaltungsgerichts [BVGer] C-557/2022 vom 20. März 2023 E. 4.1).
Die Festlegung einer (allfälligen) Rückerstattung von Leistungen erfolgt in einem mehrstufigen Verfahren: In einem ersten Entscheid ist über die Frage der Unrechtmässigkeit des Bezuges der Leistung zu befinden (in der Regel mittels Wiedererwägung oder Revision, vgl. Art. 53 ATSG bzw. Art. 17 ATSG). Daran schliesst sich zweitens der Entscheid über die Rückerstattung an, in dem zu beantworten ist, ob – bei der festgestellten Unrechtmässigkeit des Leistungsbezugs – eine rückwirkende Korrektur gemäss Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG erfolgt. Die Rechtsprechung lässt es allerdings zu, dass über die Unrechtmässigkeit des Leistungsbezuges und über die allfällige sich daraus ergebende Rückerstattungspflicht gemeinsam entschieden wird (vgl. Urteil des BGer 9C_564/2009 vom 22. Januar 2010 E. 6.4; UELI KIESER, Rückforderung unrechtmässig bezogener Leistungen von Dritten, in: Sozialversicherungsrechtstagung 2010, 2011,
S. 224). Schliesslich ist drittens, auf entsprechendes Gesuch hin, über den Erlass der zurückzuerstattenden Leistung gemäss Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG zu entscheiden (vgl. UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 4. Aufl. 2020, Art. 25 Rz. 21), dies jedoch erst, wenn die Rechtsbeständigkeit der Rückerstattungsforderung feststeht (Urteil des BGer 9C_466/2014 vom 2. Juli 2015 E. 3.1 m.H.; vgl. auch Art. 4 Abs. 4 der Verordnung vom 11. September 2002 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSV, SR 830.11]).
Vorliegend hat die Vorinstanz im Rahmen des in Erwägung 6.2 beschriebenen mehrstufigen Verfahrens zwar in einem ersten Schritt die der Beschwerdeführerin zuvor zugesprochene Rente rückwirkend für die Zeiträume vom 10. April 2011 bis zum 20. November 2013, vom 29. August
2015 bis zum 20. November 2016 und ab dem 19. November 2019 aufgehoben. Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen diese Verfügung mit Urteil vom 29. Juli 2024 im Verfahren C-5240/2023 gutgeheissen und die Verfügung vom 28. August 2023 aufgehoben. Damit entfällt die der Anordnung einer Rückerstattung zugrunde liegende Unrechtmässigkeit des Leistungsbezugs. Entsprechend ist vorliegend die Beschwerde vom 26. Januar 2024 gutzuheissen und die Verfügung vom 22. Dezember 2023 ersatzlos aufzuheben.
Zu befinden bleibt über die Verfahrenskosten und allfällige Parteientschädigungen.
Das Beschwerdeverfahren ist kostenpflichtig (Art. 69 Abs. 1bis i.V.m. Art. 69 Abs. 2 IVG), wobei die Verfahrenskosten grundsätzlich der unterliegenden Partei auferlegt werden (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Der obsiegenden Beschwerdeführerin sind keine Verfahrenskosten aufzuerlegen. Der Vorinstanz sind ebenfalls keine Verfahrenskosten aufzuerlegen (vgl. Art. 63 Abs. 2 VwVG).
Die obsiegende, durch Advokat Nicolai Fullin vertretene Beschwerdeführerin hat gemäss Art. 64 Abs. 1 VwVG in Verbindung mit Art. 7 ff. des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) Anspruch auf eine Parteientschädigung zu Lasten der Verwaltung, womit der subsidiäre Anspruch auf eine Entschädigung aus der mit Zwischenverfügung vom
31. Januar 2024 bewilligten unentgeltlichen Rechtsverbeiständung entfällt (vgl. KAYSER/ALTMANN, Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren [VwVG], 2. Aufl. 2019, Art. 65 Rz. 82).
Da keine Kostennote eingereicht wurde, ist die Entschädigung aufgrund der Akten festzusetzen (Art. 14 Abs. 2 Satz 2 VGKE). Unter Berücksichtigung des Verfahrensausgangs, des gebotenen und aktenkundigen Aufwands, der Bedeutung der Streitsache und der Schwierigkeit des vorliegend zu beurteilenden Verfahrens ist eine Parteientschädigung von Fr. 1’400.– (inkl. Auslagen, ohne Mehrwertsteuer [vgl. dazu auch Urteil des BVGer C-6173/2009 vom 29. August 2011 m.H.]) gerechtfertigt. Die Parteientschädigung ist von der Vorinstanz nach Eintritt der Rechtskraft des vorliegenden Urteils zu leisten.
Der Eventualantrag der Beschwerdeführerin auf Vereinigung des Beschwerdeverfahrens C-587/2024 mit dem Beschwerdeverfahren C-5240/2023 wird abgewiesen.
Die Beschwerde vom 26. Januar 2024 wird gutgeheissen und die Verfügung vom 22. Dezember 2023 aufgehoben.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Der Beschwerdeführerin wird eine Parteientschädigung von Fr. 1’400.– zugesprochen. Die Parteientschädigung ist von der Vorinstanz nach Eintritt der Rechtskraft des vorliegenden Urteils zu leisten.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerin, die Vorinstanz und das Bundesamt für Sozialversicherungen.
Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:
Beat Weber Tanja Jaenke
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen nach Eröffnung beim Bundesgericht, Schweizerhofquai 6, 6004 Luzern, Beschwerde in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten geführt werden (Art. 82 ff., 90 ff. und 100 BGG). Die Frist ist gewahrt, wenn die Beschwerde spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht eingereicht oder zu dessen Handen der Schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung übergeben worden ist (Art. 48 Abs. 1 BGG). Die Rechtsschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift zu enthalten. Der angefochtene Entscheid und die Beweismittel sind, soweit sie die beschwerdeführende Partei in Händen hat, beizulegen (Art. 42 BGG).
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