Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung V |
Dossiernummer: | E-3553/2024 |
Datum: | 29.07.2024 |
Leitsatz/Stichwort: | Rechtsverzögerung/Rechtsverweigerung |
Schlagwörter : | Verfahren; Recht; Verfahrens; Vorinstanz; SEM-act; Rechtsverzögerung; Bundesverwaltungsgericht; Verfügung; Beschwerdeführers; Akten; Behandlung; Behörde; Verzögerung; Verfahrensschritt; Verfahrensstandanfrage; Asylgesuch; Rechtsverzögerungsbeschwerde; Person; Entscheid; Richter; Parteien; Beweismittel; Asylverfahren; Gesuch; Beurteilung; Verfahrensschritte; ühren |
Rechtsnorm: | Art. 29 BV ; Art. 48 VwVG ; Art. 50 VVG ; Art. 52 VwVG ; Art. 61 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 64 VwVG ; Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | 130 I 174; 130 I 312; 138 II 513 |
Kommentar: |
Abteilung V E-3553/2024
Besetzung Richterin Gabriela Freihofer (Vorsitz),
Richter Walter Lang, Richter David R. Wenger, Gerichtsschreiber Stefan Trottmann.
Parteien A. , geboren am (…), China (Volksrepublik),
vertreten durch MLaw Lara Märki, Rechtsanwältin,
HEKS RBS AG - Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende Aargau,
(…),
Beschwerdeführer,
gegen
Vorinstanz.
Gegenstand Rechtsverzögerung; N (…).
Der Beschwerdeführer suchte am 21. März 2022 in der Schweiz um Asyl nach (vgl. Akten der Vorinstanz 1136868-[nachfolgend: SEM-act] 1/2).
Am 26. März 2022 fand die Personalienaufnahme (PA) statt (vgl. SEMact. 13/6). Der Beschwerdeführer gelangte am 11. Juli 2022 mit einer Verfahrensstandanfrage an die Vorinstanz (vgl. SEM-act. 14/1). Diese hörte ihn am 18. Juli 2022 zu seinen Asylgründen an und teilte sein Asylgesuch am 25. Juli 2022 dem erweiterten Verfahren zu (vgl. SEM-act. 16/13 und 17/1). Am 9. Februar 2023 reichte der Beschwerdeführer Beweismittel nach und wurde am 31. Mai 2023 ergänzend angehört (vgl. SEM-act. 30/2 und 38/15). Mit Eingabe vom 16. Juni 2023 reichte er erneut Beweismittel nach (vgl. SEM-act. 39/1). Am 31. August 2023 gelangte er mit einer weiteren Verfahrensstandanfrage an die Vorinstanz, welche diese mit E-Mail vom 8. September 2023 beantwortete (vgl. SEM-act. 41/2 und 42/1). Der Beschwerdeführer respektive seine Rechtsvertretung gelangten am
16. November 2023, 21. April 2024 und 29. April 2024 erneut mit Verfahrensstandanfragen an die Vorinstanz (vgl. SEM-act. 43/1, 45/2 und 46/1).
Mit Rechtsverzögerungsbeschwerde vom 5. Juni 2024 gelangte der Beschwerdeführer an das Bundesverwaltungsgericht und beantragt, es sei festzustellen, dass sein Asylverfahren übermässig lange dauere, und die Vorinstanz sei anzuweisen, sein Verfahren ohne weitere Verzögerungen mit einem Asylentscheid abzuschliessen. In prozessualer Hinsicht sei ihm die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren und auf die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten.
Mit Zwischenverfügung vom 11. Juni 2024 hiess die Instruktionsrichterin das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung gut, wies das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung ab und verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Zudem lud sie die Vorinstanz zur Einreichung einer Vernehmlassung ein.
Die Vorinstanz reichte am 26. Juni 2024 ihre Vernehmlassung zu den Akten, welche die Instruktionsrichterin dem Beschwerdeführer am 3. Juli 2024 zur Kenntnisnahme zustellte. Dieser beziehungsweise seine Rechtsvertreterin reichte am 18. Juli 2024 eine Kostennote zu den Akten.
Gemäss Art. 31 VGG ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung von Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG zuständig und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – so auch vorliegend – endgültig (Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG; Art. 105 AsylG [SR 142.31]).
Gegen das unrechtmässige Verweigern oder Verzögern einer anfechtbaren Verfügung kann bei der Beschwerdeinstanz, die für die Behandlung einer Beschwerde gegen eine ordnungsgemäss ergangene Verfügung zuständig wäre, Beschwerde geführt werden (Art. 46a VwVG; vgl. dazu auch MARKUS MÜLLER, in: Auer/Müller/Schindler [Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren [VwVG], 2. Aufl. 2018, Rz. 3 zu Art. 46a). Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zur Beurteilung der vorliegenden Rechtsverzögerungsbeschwerde zuständig.
Rechtsverzögerungsbeschwerden richten sich gegen den Nichterlass einer anfechtbaren Verfügung. Die Beschwerdelegitimation setzt voraus, dass bei der zuständigen Behörde zuvor ein Begehren um Erlass einer Verfügung gestellt wurde und Anspruch darauf besteht. Ein solcher Anspruch liegt dann vor, wenn einerseits eine Behörde nach dem anzuwendenden Recht verpflichtet ist, in Verfügungsform zu handeln, und wenn andererseits die gesuchstellende Person nach Art. 6 in Verbindung mit Art. 48 Abs. 1 VwVG Parteistellung beanspruchen kann (vgl. BVGE 2008/15 E. 3.2 m.w.H.).
Der Beschwerdeführer suchte am 21. März 2022 um Asyl nach. Über dieses Gesuch hat das SEM in Form einer anfechtbaren Verfügung zu befinden, wobei eine solche bis anhin nicht ergangen ist. Der Beschwerdeführer ist daher zur Beschwerdeführung legitimiert.
Gegen das unrechtmässige Verzögern einer Verfügung kann grundsätzlich jederzeit Beschwerde geführt werden (Art. 50 Abs. 2 VVG). Dennoch steht der Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung nicht völlig im Belieben der beschwerdeführenden Person. Der Grundsatz von Treu und Glauben bildet hier eine Grenze.
Der Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung ist vorliegend nicht zu beanstanden.
Die beschwerdeführende Person muss darlegen, dass sie zur Zeit der Beschwerdeerhebung ein schutzwürdiges – mithin aktuelles und praktisches – Interesse an der Vornahme der verzögerten Amtshandlung respektive der Feststellung einer entsprechenden Rechtsverzögerung hat (vgl. MOSER/BEUSCH/KNEUBÜHLER/KAYSER, Prozessieren vor dem Bundesverwaltungsgericht, 3. Aufl. 2022, Rz. 5.23).
Das schutzwürdige Interesse des Beschwerdeführers an der Vornahme der allenfalls verzögerten Amtshandlung manifestiert sich einerseits in den bei den Akten liegenden Eingaben, mit denen er um beförderliche Verfahrenserledigung gebeten hat. Andererseits ergibt es sich aus der Tatsache, dass das SEM bis anhin noch nicht in der Sache verfügt hat.
Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, soweit das VGG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG).
Die Prüfungsbefugnis des Bundesverwaltungsgerichts beschränkt sich hier auf die Frage, ob die Vorinstanz das Rechtsverzögerungsverbot verletzt hat. Im Falle einer Gutheissung der Beschwerde weist es die Sache mit verbindlichen Weisungen an die Vorinstanz zurück (Art. 61 Abs. 1 VwVG). Hingegen ist das Gericht nicht dazu befugt, sich dazu zu äussern, wie gegebenenfalls ein unrechtmässig verzögerter Entscheid inhaltlich hätte ausfallen sollen, da es – Spezialkonstellationen vorbehalten – nicht anstelle der untätig gebliebenen Behörde entscheiden darf, andernfalls der Instanzenzug verkürzt und möglicherweise Rechte der Verfahrensbeteiligten verletzt würden (vgl. BVGE 2008/15 E. 3.1.2 m.w.H.).
Das Verbot der Rechtsverzögerung ergibt sich als Teilgehalt aus der allgemeinen Verfahrensgarantie von Art. 29 Abs. 1 BV. Danach hat jede Person Anspruch auf eine Beurteilung ihrer Sache innert angemessener Frist (sog. Beschleunigungsgebot). Diese Verfassungsgarantie gilt für alle Sachbereiche und alle Akte der Rechtsanwendung (vgl. BGE 130 I 174 E. 2.2 m.w.H.).
Von einer Rechtsverzögerung im Sinne des Gesetzes ist nach Lehre und Praxis auszugehen, wenn behördliches Handeln zwar nicht (wie bei einer formellen Rechtsverweigerung) grundsätzlich infrage steht, aber die Behörde nicht innert der Frist handelt, die nach der Natur der Sache objektiv noch als angemessen erscheint. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist im Einzelfall unter Berücksichtigung der gesamten Umstände zu beurteilen. In Betracht zu ziehen sind dabei namentlich die Komplexität der Sache, das Verhalten der betroffenen Beteiligten und der Behörden, die Bedeutung des Verfahrens für die betroffene Partei sowie einzelfallspezifische Entscheidungsabläufe (vgl. zum Ganzen BGE 130 I 312
E. 5.1 und 5.2 m.w.H.). Ein Verschulden der Behörde an der Verzögerung wird nicht vorausgesetzt (vgl. BGE 138 II 513 E. 6.4; 107 Ib 160 E. 3c; 103 V 190 E. 5c). Spezialgesetzliche Behandlungsfristen sind bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer zu berücksichtigen (vgl. zum Ganzen etwa das Urteil des BVGer E-1438/2018 vom 5. April 2018 E. 3.2 m.w.H.).
Der Beschwerdeführer verweist zur Begründung seiner Beschwerde darauf, dass er sich nun seit mehr als zwei Jahren in der Schweiz aufhalte. Seit dem letzten Verfahrensschritt, über den er in Kenntnis gesetzt worden sei, sei mehr als ein Jahr vergangen. Der letzte für das Asylverfahren relevante Verfahrensschritt, nämlich die Beweismitteleingabe vom 16. Juni 2023, liege wiederum ein Jahr zurück. Objektiv seien keine weiteren Verfahrensschritte erkennbar, welche eine Verzögerung rechtfertigten. Die Vorinstanz habe ihn jedenfalls nicht über weitere Verfahrensschritte in Kenntnis gesetzt, weshalb davon auszugehen sei, dass sämtliche Abklärungen in der vergangenen Zeit erfolgt seien oder zumindest mit der notwendigen Beförderlichkeit bereits hätten erfolgen können und der Asylentscheid spruchreif sei. Zudem habe die Vorinstanz seit einem Jahr keine Schreiben von ihm beantwortet. Angesichts dessen sei vorliegend von einer übermässig langen Verfahrensdauer auszugehen. Das Beschleunigungsgebot gemäss Art. 29 Abs. 1 BV sei aufgrund der unverhältnismässig langen Verfahrensdauer missachtet worden, weshalb sich die Rechtsverzögerungsbeschwerde als begründet erweise. Die Beschwerde sei demnach gutzuheissen und die Vorinstanz anzuweisen, sein Asylgesuch vom
21. März 2022 rasch zu behandeln und einem Entscheid zuzuführen beziehungsweise allenfalls erforderliche Abklärungen umgehend an die Hand zu nehmen.
Die Vorinstanz führte in der Vernehmlassung aus, sie sei sich bewusst, dass das Asylverfahren des Beschwerdeführers bereits eine längere Zeit dauere. Die nach wie vor aussergewöhnlich hohe Anzahl von Pendenzen der Asylund Schutzgesuche führe leider dazu, dass die Behandlung der Gesuche länger als üblich dauere. Im vorliegenden Fall werde zeitnah ein Entscheid gefällt.
Eingangs ist festzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht Kenntnis von der hohen Arbeitslast beim SEM hat und es grundsätzlich als nachvollziehbar und unvermeidbar erachtet, dass nicht alle Verfahren innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Behandlungsfristen abgeschlossen werden können (vgl. i.c. Art. 37 Abs. 4 AsylG), sondern länger dauern, insbesondere dann, wenn sich noch Abklärungsmassnahmen aufdrängen. Das SEM darf und muss Priorisierungen vornehmen (Art. 37b AsylG), was – gerade unter Berücksichtigung der ausserordentlichen Situation im Zuge der Ukraine-Krise – unweigerlich zur Überschreitung gewisser Behandlungsfristen führen kann (vgl. etwa Urteile des BVGer E-1189/2024 vom 21. Mai 2024 E. 6.4.1 und D-4765/2022 vom 14. Dezember 2022 E. 4.2.1).
Aufgrund der vorinstanzlichen Akten ist festzustellen, dass das SEM seit der Anhörung nach Art. 29 AsylG / Ergänzenden Anhörung im erweiterten Verfahren (vgl. SEM-act. 38/15) vom 31. Mai 2023 – bis auf ein Antwortschreiben auf eine Verfahrensstandanfrage (vgl. SEM-act. 41/2 f.) – keine (verfahrensrelevanten) Schritte unternommen hat. Zwar reichte der Beschwerdeführer am 16. Juni 2023 als Beweismittel ein Referenzschreiben ein (vgl. SEM-act. 39/1 f.). Aufgrund des Umfangs von lediglich rund einer Seite ist aber nicht davon auszugehen, diese Eingabe sei für die Verzögerung des Verfahrens im vorliegenden Ausmass mitverantwortlich. Weder wurden die Verfahrensstandanfragen des Beschwerdeführers respektive von dessen Rechtsvertreterin vom 16. November 2023, 21. April 2024 und 29. April 2024 (vgl. SEM-act. 43/1, 45/2 und 46/1) durch die Vorinstanz beantwortet, noch sind vom 16. November 2023 bis zur Einreichung der Beschwerde vom 5. Juni 2024 aus dem Aktenverzeichnis Verfahrensschritte ersichtlich. Ein solches Vorgehen ist mit den rechtlichen Ansprüchen des Beschwerdeführers (vgl. Art. 29 Abs. 1 BV; hierzu zuvor E. 4.1) nicht zu vereinbaren. Der pauschale Verweis auf die hohe Anzahl von Pendenzen ändert daran ebenso wenig wie die Tatsache, dass am 2. Juli 2024 durch die Vorinstanz Verfahrensschritte vorgenommen wurden, zumal sich daraus noch keine Hinweise entnehmen lassen, dass in absehbarer Zeit ein Entscheid gefällt wird.
Angesichts der vorliegenden Umstände ist in einer Gesamtbetrachtung festzustellen, dass die Dauer des Asylverfahrens des Beschwerdeführers als unangemessen lang zu erachten ist. Die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Rüge, dem SEM sei bei der Behandlung seines Asylgesuchs eine Rechtsverzögerung vorzuwerfen, ist daher als gerechtfertigt zu erachten.
Folglich ist die Beschwerde gutzuheissen. Das SEM ist zudem anzuweisen, das Asylgesuch des Beschwerdeführers ohne weitere Verzögerung zu behandeln und das betreffende Verfahren zum Abschluss zu bringen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 2 und 3 VwVG i.V.m. Art. 37 VGG).
Gemäss Art. 64 Abs. 1 VwVG kann die Beschwerdeinstanz der ganz oder teilweise obsiegenden Partei von Amtes wegen oder auf Begehren eine Entschädigung für die ihr erwachsenen notwendigen und verhältnismässig hohen Kosten zusprechen (vgl. für die Grundsätze der Bemessung der Parteientschädigung ausserdem Art. 7 ff. des Reglements über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 21. Februar 2008 [VGKE, SR 173.320.2]).
Die rubrizierte Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers macht in der zu den Akten gereichten Kostennote einen Aufwand von Fr. 633.50 geltend. Der geltend gemachte zeitliche Aufwand von insgesamt 125 Minuten und der Stundenansatz von Fr. 300.– sind nicht zu beanstanden. Ebenfalls erscheinen die geltend gemachten Kosten für Auslagen von Fr. 8.50 angemessen. Gestützt auf die in Betracht zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 9–13 VGKE) ist das SEM anzuweisen, dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung in der Höhe von Fr. 634.– (inkl. Auslagen) auszurichten.
(Dispositiv nächste Seite)
Die Beschwerde wird gutgeheissen.
Das SEM wird angewiesen, das Asylgesuch des Beschwerdeführers ohne weitere Verzögerungen zu behandeln und das betreffende Verfahren zum Abschluss zu bringen.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Das SEM wird angewiesen, dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung in der Höhe von Fr. 634.– zu entrichten.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer und das SEM.
Die vorsitzende Richterin: Der Gerichtsschreiber:
Gabriela Freihofer Stefan Trottmann
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