Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung I |
Dossiernummer: | A-3234/2024 |
Datum: | 26.08.2024 |
Leitsatz/Stichwort: | Verrechnungssteuer |
Schlagwörter : | Erlass; Steuer; Vorinstanz; Einsprache; Verrechnung; Verrechnungssteuer; Verfahren; Recht; Frist; Erlassgesuch; Ordnungs; Verfahrens; Entscheid; Bundesverwaltungsgericht; Urteil; Voraussetzung; Nichteintreten; Einspracheentscheid; Voraussetzungen; BVGer; Forderung; Meldeverfahren; Steuerforderung; Kommentar; Verwirkungsfrist; Verfügung; BEUSCH; Ordnungsfrist |
Rechtsnorm: | Art. 20 VwVG ; Art. 21 VwVG ; Art. 22a VwVG ; Art. 24 VwVG ; Art. 27 OR ; Art. 48 BGG ; Art. 48 VwVG ; Art. 52 VwVG ; Art. 61 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 64 VwVG ; Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | 104 Ia 240; 123 II 385; 124 II 499; 132 V 42; 132 V 74 |
Kommentar: | Müller, Schindler, Auer, Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, Art. 20 OR BV BVG, 2019 |
Abteilung I
A-3234/2024
Besetzung Richter Jürg Steiger (Vorsitz), Richterin Annie Rochat Pauchard, Richter Keita Mutombo,
Gerichtsschreiberin Katharina Meienberg.
Beschwerdeführerin,
gegen
Gegenstand Verrechnungssteuer (Nichteintreten).
Die A. AG (nachfolgend: Steuerpflichtige) mit Sitz in Otelfingen wurde am (…) ins Handelsregister des Kantons Zürich eingetragen (Handelsregisterauszug, act. 1 der Akten der Eidgenössische Steuerverwaltung [nachfolgend: ESTV]). Sie bezweckt gemäss Handelsregisterauszug unter anderem die Ausführung sämtlicher Hochund Tiefbauarbeiten sowie das Erbringen von nationalen und internationalen Transportdienstleistungen.
Die Steuerpflichtige hat am 18. Juli 2021 gegenüber der ESTV für die Steuerperioden 2017 und 2018 jeweils mit einem separaten Formular eine der Verrechnungssteuer unterliegende Leistung von Fr. 61'250.00 (ausmachend einen Verrechnungssteuerbetrag von Fr. 21'437.50) für das Jahr 2017 und von Fr. 61'000.00 (ausmachend einen Verrechnungssteuerbetrag von Fr. 21'350.00) für das Jahr 2018 deklariert (act. 2).
Die ESTV hat mit Zahlungserinnerung vom 20. Juni 2023 betreffend die Steuerperiode 2017 die Verrechnungssteuer in der Höhe von Fr. 21'437.50 und mit Zahlungserinnerung vom 4. Juli 2023 betreffend die Steuerperiode 2018 die Verrechnungssteuer in der Höhe von Fr. 21’350.00 bei der Steuerpflichtigen eingefordert (act. 3). Da die Steuerforderungen von der Steuerpflichtigen nicht beglichen wurden, erfolgte mit Schreiben vom 15. August 2023 eine Mahnung, respektive letzte Zahlungserinnerung (act. 3).
Die ESTV liess die Forderungen daraufhin in Betreibung setzen. Das Betreibungsamt (…) erliess zwei Zahlungsbefehle vom 11. Oktober 2023 (act. 4), wogegen die Steuerpflichtige jeweils Rechtsvorschlag erhob. Die ESTV hob diese mit zwei Entscheiden jeweils vom 16. November 2023 auf (act. 5).
Gegen diese zwei Entscheide vom 16. November 2023 erhob die Steuerpflichtige am 22. Februar 2024 Einsprache, in welcher sie die Steuerforderungen bestritt und beantragte, auf die Forderungen sei zu verzichten (act. 6).
Mit Schreiben vom 12. März 2024 machte die ESTV die Steuerpflichtige darauf aufmerksam, dass sie davon ausgehe, dass die Einsprache
verspätet erfolgt sei und gab ihr die Möglichkeit dazu Stellung zu nehmen (act. 7).
Mit Stellungnahme vom 24. März 2024 stimmte die Steuerpflichtige den Ausführungen der ESTV betreffend die verspätete Einsprache zu, machte im Weiteren materielle Ausführungen zur Forderung und führte insbesondere aus, sie habe bereits mit Schreiben vom 30. März 2022 das Meldeverfahren beantragt. Die Erhebung der Verrechnungssteuer würde vorliegend zu einer unrechtmässigen Doppelbesteuerung führen. Sie beantragte, es sei auf die Erhebung der Forderung zu verzichten. Allenfalls werde der Erlass der Forderung beantragt, da sie (die Steuerpflichtige) seit November 2019 inaktiv sei und kaum mehr über Kapital verfüge (act. 8).
Mit Einspracheentscheid vom 22. April 2024 trat die ESTV auf die Einsprache nicht ein (Ziff. 1). Auf das Gesuch um Erlass der Verrechnungssteuer trat die ESTV ebenfalls nicht ein (Ziff. 2). Zur Begründung führte sie aus, die Einsprache vom 22. Februar 2024 gegen die beiden Entscheide vom 16. November 2023 seien klarerweise verspätet erfolgt. Der angebliche Antrag auf Meldeverfahren sei sodann nicht Gegenstand des angefochtenen Entscheids betreffend Rechtsöffnung gewesen, weshalb dieser nicht beurteilt werden könne. Es sei aber ohnehin fraglich, ob diesbezüglich die formellen Voraussetzungen erfüllt gewesen seien. Auf das Erlassgesuch sei ebenfalls nicht einzutreten, da ein Gesuch um Erlass der Verrechnungssteuer bei einem derart weit fortgeschrittenen Verfahren verspätet bzw. ausgeschlossen sei. Darüber hinaus wäre das Erlassgesuch – auch bei rechtzeitiger Einreichung – abzuweisen gewesen, da die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.
Gegen diesen Einspracheentscheid der ESTV (nachfolgend auch: Vorinstanz) vom 22. April 2024 erhebt die Steuerpflichtige (nachfolgend: Beschwerdeführerin) mit Eingabe vom 22. Mai 2024 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht und beantragt den Verzicht auf die Forderungen und den Rückzug der Betreibungen. Eventualiter werde der Erlass der Forderungen (zzgl. Verzugszins und Betreibungskosten) beantragt.
Mit Vernehmlassung vom 13. Juni 2024 beantragt die Vorinstanz die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde. Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Einspracheentscheid. Ergänzend führt die Vorinstanz aus, es erscheine fraglich, ob das angebliche Gesuch um Meldung statt Entrichtung der Verrechnungssteuer von ihr als solches hätte
entgegengenommen werden müssen. Dieses erfülle die Voraussetzungen klarerweise nicht. Die Beschwerdeführerin habe dieses Gesuch trotz wiederholter Eintreibungshandlungen erst wieder im Einspracheverfahren geltend gemacht.
Auf die weiteren Vorbringen der Verfahrensbeteiligten sowie die Akten wird
– sofern und soweit dies für den vorliegenden Entscheid wesentlich ist – im Rahmen der folgenden Erwägungen eingegangen.
Das Bundesverwaltungsgericht beurteilt gemäss Art. 31 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 (VGG, SR 173.32) Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 1968 (VwVG, SR 172.021), sofern keine Ausnahme nach Art. 32 VGG gegeben ist. Eine solche liegt hier nicht vor. Der angefochtene Einspracheentscheid stellt eine Verfügung nach Art. 5 VwVG dar. Die Vorinstanz ist eine Behörde im Sinne von Art. 33 VGG. Das Bundesverwaltungsgericht ist demnach für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde sachlich zuständig.
Das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht richtet sich nach dem VwVG, soweit das VGG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG). Die Beschwerdeführerin ist als Adressatin der angefochtenen Verfügung vom
22. April 2024 von dieser betroffen. Sie ist damit zur Beschwerdeerhebung berechtigt (Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die im Übrigen fristund formgerecht (Art. 50 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 VwVG) eingereichte Beschwerde ist demnach einzutreten.
Die ESTV hat in ihrem Einspracheentscheid vom 22. April 2024 auf Nichteintreten, sowohl betreffend die Einsprache vom 22. Februar 2024 als auch betreffend das im Rahmen der Stellungnahme zur Einsprache gestellte Erlassgesuch vom 24. März 2024 erkannt.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist derjenige, auf dessen Begehren bzw. Rechtsmittel nicht eingetreten worden ist, befugt, durch die ordentliche Beschwerdeinstanz überprüfen zu lassen, ob dieser Nichteintretensentscheid zu Recht ergangen ist (anstelle vieler: BGE 124 II 499
E. 1 mit weiteren Hinweisen). Allerdings kann in einer Beschwerde gegen einen Nichteintretensentscheid nur geltend gemacht werden, die Vorinstanz habe zu Unrecht das Bestehen der Eintretensvoraussetzungen verneint. Damit wird der Streitgegenstand auf die Eintretensfrage vor der Einspracheinstanz beschränkt, deren Verneinung als Verletzung von Bundesrecht mit Beschwerde gerügt werden kann (BGE 132 V 74 E. 1.1; vgl. auch statt vieler: Urteil des BVGer A-1471/2006 und A-1472/2006 vom 3. März 2008 E. 1.2).
Aufgrund der Besonderheit des Einspracheverfahrens als verwaltungsinternes Verfahren ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung mit Einschränkungen zulässig, dass der Verfahrensgegenstand im Einspracheentscheid – im Vergleich zum Erstentscheid – auf andere Streitfragen wie Steuernachforderungen (innerhalb der gleichen Steuerperioden) ausgedehnt wird (BGE 123 II 385 E. 2, nicht publiziert; betreffend die Mehrwertsteuer Urteile des BVGer A-1145/2011 vom 28. September 2011 E. 1 4 2 und A-7745/2010 vom 9. Juni 2011 E. 3.2, betreffend die Verrechnungssteuer Urteil des BVGer A-1542/2006 vom 30. Juni 2008 E. 1.4.2; zum Ganzen: Urteil des BVGer A-2468/2011 vom 5. Juni 2012 E. 6.4.1).
Beim vorliegenden Verfahren hat sich das Bundesverwaltungsgericht somit auf die Frage zu beschränken, ob die Vorinstanz zu Recht auf die Einsprache vom 22. Februar 2024 und das Erlassgesuch vom 24. März 2024 nicht eingetreten ist. Soweit die Beschwerdeführerin mit ihrem Hauptbegehren auf Verzicht der Erhebung, respektive Nichtbestehens der Verrechnungssteuerschuld einen materiellen Antrag stellt, kann demnach auf die Beschwerde nicht eingetreten werden.
1.4 Gemäss Art. 61 Abs. 1 VwVG entscheidet die Beschwerdeinstanz in der Sache selbst oder weist diese ausnahmsweise mit verbindlichen Weisungen an die Vorinstanz zurück. Ein solcher Rückweisungsentscheid rechtfertigt sich vor allem dann, wenn weitere Tatsachen festgestellt werden müssen und ein umfassendes Beweisverfahren durchzuführen ist, im Übrigen aber auch, wenn die Vorinstanz einen Nichteintretensentscheid gefällt und folglich keine materielle Prüfung vorgenommen hat (statt vieler: Urteil des BVGer A-2900/2014 vom 29. Januar 2015 E. 1.5; MOSER/BEUSCH/KNEUBÜHLER/KAYSER, Prozessieren vor dem Bundesverwaltungsgericht, 3. Aufl. 2022., Rz. 3.195).
Der Bund erhebt eine Verrechnungssteuer auf dem Ertrag beweglichen Kapitalvermögens (Art. 132 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 [BV, SR 101] und Art. 1 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 13. Oktober 1965 über die Verrechnungssteuer [Verrechnungssteuergesetz, VStG, SR 642.21]). Gegenstand der Verrechnungssteuer sind unter anderem die Zinsen, Renten, Gewinnanteile und sonstigen Erträge der von einem Inländer ausgegebenen Aktien, Stammanteile an Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Genossenschaftsanteile, Partizipationsscheine und Genussscheine (Art. 4 Abs. 1 Bst. b VStG).
Steuerpflichtig ist nach Art. 10 Abs. 1 VStG der Schuldner der steuerbaren Leistung. Diese ist bei Auszahlung, Überweisung, Gutschrift oder Verrechnung – unter Vorbehalt der Zulässigkeit des Meldeverfahrens – ohne Rücksicht auf die Person des Gläubigers um den Steuerbetrag zu kürzen; bei Kapitalerträgen um 35 % (Art. 13 Abs. 1 Bst. a i.V.m. Art. 14 Abs. 1 VStG). Die Verrechnungssteuer auf den übrigen Kapitalerträgen wird 30 Tage nach Entstehen der Steuerforderung (Art. 12 VStG) fällig (Art. 16 Abs. 1 Bst. c VStG). Die Fälligkeit der Steuer gemäss Art. 16 Abs. 1 Bst. c VStG bestimmt den Zeitpunkt, in dem der Steuerpflichtige leisten muss und von dem an die ESTV verlangen kann, dass die Steuerforderung erfüllt werde (W. ROBERT PFUND, Die eidgenössische Verrechnungssteuer,
I. Teil, 1971, Art. 16 N. 1.1 mit weiteren Hinweisen). Es handelt sich hierbei aber nicht um eine Zahlungsfrist, denn die Steuer ist unaufgefordert und spätestens bis zum Zeitpunkt der Fälligkeit zu entrichten (MICHAEL BEUSCH, in: Zweifel et al. [Hrsg.], Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Bundesgesetz über die Verrechnungssteuer, 3. Aufl. 2024 [hiernach: VStG-Kommentar], zu Art. 16 N. 6; PFUND, a.a.O., Art. 16 N. 1.3; Urteil des BVGer A-2637/2016 vom 7. April 2017 E. 2.6).
Nach Art. 42 Abs. 1 und 2 VStG können Verfügungen und Entscheide der ESTV innert 30 Tagen nach der Eröffnung mit Einsprache angefochten werden. Diese ist schriftlich bei der ESTV einzureichen, hat einen bestimmten Antrag zu enthalten und die zu seiner Begründung dienenden Tatsachen anzugeben.
Im Verfügungsund Rechtsmittelverfahren nach dem VStG sind die Vorschriften des VwVG mit Ausnahme der Art. 12 bis 19 und 30 bis 33 anwendbar (Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Bst. a i.V.m. Art. 2 Abs. 1 VwVG). Somit
kommen auf Verfügungen der ESTV die entsprechenden Bestimmungen des VwVG zur Fristberechnung und -einhaltung zur Anwendung (Art. 20 ff. VwVG).
Berechnet sich eine Frist nach Tagen und bedarf sie der Mitteilung an die Parteien, so beginnt sie an dem auf ihre Mitteilung folgenden Tage zu laufen (Art. 20 Abs. 1 VwVG). Schriftliche Eingaben müssen spätestens am letzten Tage der Frist der Behörde eingereicht oder zu deren Handen der schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung übergeben werden (Art. 21 Abs. 1 VwVG). Gesetzliche oder behördliche Fristen, die nach Tagen bestimmt sind, stehen (unter anderem) vom 18. Dezember bis und mit dem 2. Januar still (Art. 22a Abs. 1 Bst. c VwVG).
Wird eine Einspracheoder Beschwerdefrist verpasst, ohne dass rechtzeitig ein gesetzlicher Wiederherstellungsgrund nachgewiesen wurde (vgl. Art. 24 Abs. 1 VwVG), so ist die zuständige Behörde verpflichtet, einen Nichteintretensentscheid zu fällen (vgl. Urteile des BGer 2C_699/2012 vom 22. Oktober 2012 E. 5.1, 2C_606/2007 vom 5. November 2007 E. 3.2).
Der Steuererlass gehört nicht zur Steuerveranlagung, sondern zum Steuerbezug (bzw. Steuervollstreckung). Ein Erlass kann damit nur erfolgen, wenn die Veranlagung abgeschlossen ist und eine rechtskräftig festgesetzte Steuer vorliegt. Im Erlassverfahren zu prüfen ist ausschliesslich, ob die gesetzlich statuierten Erlassvoraussetzungen erfüllt sind (BEUSCH/RAAS, VStG-Kommentar, Art. 18 N 2). Gemäss Art. 18 VStG kommt ein Erlass dabei nur in Frage, wenn die Steuerforderung bei der Aufwertung sanierungshalber abgeschriebener Beteiligungsrechte oder bei der Einlösung anlässlich einer Sanierung ausgegebener Genussscheine entstanden ist und der Steuerbezug eine offenbare Härte gegen den Empfänger der steuerbaren Leistung bedeuten würde. Art. 18 VStG enthält mit diesen Anforderungen eine der restriktivsten Regelungen betreffend Steuererlass auf Bundesebene (BEUSCH/RAAS, VStG-Kommentar, N 11 zu Art. 18).
Der Steuererlass gemäss Art. 18 VStG ist nach Art. 27 Abs.1 der Verordnung vom 19. Dezember 1966 über die Verrechnungssteuer (VStV, SR 642.211) spätestens mit der Abrechnung über die fällig gewordene Steuer der ESTV einzureichen.
Das schweizerische Recht unterscheidet zwischen Ordnungsund Verwirkungsfristen. Verwirkungsfristen zeichnen sich dadurch aus, «dass ein materielles oder prozessuales Recht erlischt, wenn die erforderliche Handlung nicht innerhalb der Frist vorgenommen wird» (URS PETER CAVELTI, in: Auer/Müller/Schindler [Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, 2. Aufl. 2019, Vor Art. 20-24 N 11; Urteil des BVGer A-3454/2010 vom 19. August 2011 E. 2.3.1) Verwirkungsfristen können in der Regel weder unterbrochen noch gehemmt oder erstreckt werden (HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht,
8. Aufl., 2020, N 782). Ordnungsfristen weisen hingegen den Charakter einer reinen Ordnungsvorschrift auf (Urteil des BVGer A-3454/2010 vom
19. August 2011 E. 2.3.1). Das Nichteinhalten führt nicht zum Untergang des betreffenden Rechts. Gelten sie für Behörden, kann die Überschreitung einer Ordnungsvorschrift beispielsweise wegen Rechtsverweigerung bzw. Rechtsverzögerung beanstandet werden. Richten sie sich an Privatpersonen, haben diese die Folgen der aus der Nichtbeachtung der Ordnungsvorschrift resultierenden Verfahrensverzögerungen selbst zu tragen. Sowohl die Verletzung von Verwirkungsfristen als auch diejenige von Ordnungsfristen können administrative Sanktionen nach sich ziehen (RENÉ MATTEOTTI, Fristen mit Fallstricken im verrechnungssteuerlichen Meldeverfahren, in: Archiv für schweizerisches Abgaberecht [ASA] 80, S. 469, 473).
Nach ständiger Rechtsprechung ist die Frage, ob eine Frist eine Ordnungsoder Verwirkungsfrist darstellt, auf dem Wege der Auslegung zu ermitteln. Dabei darf eine bestimmte Frist nur dann als Verwirkungsfrist verstanden werden, wenn sich im Rahmen der Interpretation eindeutig ergibt, dass mit dem Fristablauf ein Rechtsanspruch untergeht (BGE 104 Ia 240 E. 3a; Urteil des BVGer A-3454/2010 vom 19. August 2011 E. 2.3.1).
Gemäss Lehre handelt es sich bei der Frist gemäss Art. 27 VStV um eine Ordnungsund nicht um eine Verwirkungsfrist (BEUSCH/RAAS, VStG-Kommentar, Art. 18 N 12; MICHAEL BEUSCH, Der Untergang der Steuerforderung, 2012, § 11, S. 237; PFUND, a.a.O., Art. 18 N. 5.1).
Vorliegend ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin die Einsprachefrist versäumte. Die Entscheide der Vorinstanz vom 16. November 2023 wurden der Beschwerdeführerin am 20. November 2023 zugestellt (act. 5). Die 30-tägige Rechtsmittelfrist begann somit am 21. November 2023 zu laufen und lief unter Berücksichtigung des Fristenstillstandes vom
18. Dezember 2023 bis 2. Januar 2024 bis zum 5. Januar 2024 (vgl.
E. 2.3.3 vorstehend), wie die Vorinstanz in ihrem Schreiben vom 12. März 2024 an die Beschwerdeführerin korrekt ausführte (act. 7). Die Beschwerdeführerin erhob erst rund eineinhalb Monate später, am 22. Februar 2024 Einsprache. In ihrer Stellungnahme vom 24. März 2024 (act. 8) machte sie keine Fristwiederherstellungsgründe nach Art. 24 VwVG (vgl. E. 2.3.4 zuvor) geltend und anerkannte die Säumnis («Natürlich stimmt dies wegen der späten Eingabe, damit bin ich einverstanden» [act. 8]). Damit ist die Vorinstanz zurecht auf die verspätete Einsprache nicht eingetreten. Die Beschwerde ist diesbezüglich abzuweisen.
Für die Beurteilung der Rechtzeitigkeit der Einsprache ist es sodann nicht von Bedeutung, ob die Beschwerdeführerin im Rahmen des Verfahrens vor der Vorinstanz ein Meldeverfahren beantragt hat oder nicht. Hätte die Vorinstanz einen solchen Antrag tatsächlich nicht behandelt, so wäre es Sache der Beschwerdeführerin gewesen, nachzufragen und auf eine entsprechende Verfügung betreffend die Gewährung des Meldeverfahrens zu bestehen. Im vorliegenden Verfahren kann das Meldeverfahren jedenfalls nicht Verfahrensgegenstand sein (siehe E. 1.3 vorstehend). Daraus folgt, dass das von der Beschwerdeführerin angeblich beantragte Meldeverfahren vorliegend nichts daran ändert, dass die Beschwerdeführerin vor der Vorinstanz die Einsprachefrist verpasst hat.
Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die Vorinstanz zu Recht wegen verpasster Frist auf die Einsprache der Beschwerdeführerin vom
22. Februar 2024 nicht eingetreten ist.
Mit der Stellungnahme zur Einsprache vom 24. März 2024 beantragte die Beschwerdeführerin vor der Vorinstanz erstmals den Erlass der Forderung. Die Vorinstanz behandelte das Erlassgesuch im Rahmen des Einspracheentscheids vom 22. April 2024 und trat darauf nicht ein.
Die Ausdehnung des Streitgegenstandes auf die Behandlung des Erlassgesuches im Rahmen des Einspracheentscheides ist vorliegend nicht
zu beanstanden, handelt es sich doch um eine eng mit dem Streitgegenstand verbundene Frage, da der Erlass vorliegend auch die im Streit liegende Steuerforderung betrifft (vgl. E. 1.3.2 vorstehend).
Zu prüfen bleibt, ob die Vorinstanz zu Recht auf das Erlassgesuch nicht eingetreten ist.
Wie oben ausgeführt (E. 2.4.2), muss das Erlassgesuch spätestens mit der Abrechnung über die fällig gewordene Steuer gestellt werden (Art. 27 Abs. 1 VStV). Diese Frist stellt eine reine Ordnungsfrist dar. Davon geht zum einen sowohl die Lehre als auch die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid aus, anderseits ergibt sich dies auch aufgrund der gesetzessystematischen Tatsache, dass die Frist nur auf Verordnungsstufe (Art. 27 VStV) geregelt ist und auf der Stufe des formellen Gesetzes eine explizite Ermächtigung für den Erlass einer Verwirkungsfrist fehlt (vgl. BGE 132 V 42 E. 3.4, siehe auch MATTEOTTI, a.a.O., S. 481). Sodann entspricht dies auch der Praxis bei den Emissionsabgaben, bei welchen der Erlass auch nach Ablauf der 30-tägigen (Ordnungs-)Frist gewährt werden muss, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind (MAURUS WINZAP, in: Oberson/Hinny[Hrsg.], StG Kommentar Stempelabgaben - LT Commentaire droits de timbre, 2006, Art. 12 N 37). Liegt aber eine Ordnungsfrist vor, so darf das Verpassen dieser Frist allein nicht Grund für ein Nichteintreten in der Sache sein. Wie oben ausgeführt, sind lediglich die Folgen der aus der Nichtbeachtung der Ordnungsvorschrift resultierenden Verfahrensverzögerungen von der Partei selbst zu tragen (E. 2.4.2.1 vorstehend mit Hinweisen).
Die Vorinstanz führte zum Nichteintreten betreffend das Erlassgesuch einzig aus, das Verfahren sei hinsichtlich der Erhebung der Verrechnungssteuer bereits derart weit fortgeschritten, dass ein Gesuch um Erlass der Verrechnungssteuer ausgeschlossen sei (E. 4.2 des Einspracheentscheids vom 22. April 2024). Dabei verweist sie auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-3454/2010 vom 19. August 2011 E. 2.3.1, worin ausgeführt wird, dass bei verpasster Ordnungsfrist die Verfahrenshandlung auch noch nach Fristablauf vorgenommen werden kann, soweit und solange der geordnete Verfahrensgang dies nicht ausschliesst. Die Vorinstanz macht damit implizit geltend, der Verfahrensgang schliesse die Behandlung des Erlassgesuches vorliegend aus. Darin kann ihr jedoch nicht gefolgt werden. Auch wenn der Erlass der Verrechnungssteuer aufgrund der strengen Voraussetzungen quasi keine praktische Bedeutung hat und ein solcher offenbar noch nie gewährt wurde (so BEUSCH/RAAS, VStG-
Kommentar, N 11 zu Art. 18; E. 2.4.1 vorstehend), ist es dennoch nicht gänzlich ausgeschlossen, dass sich die Voraussetzungen (z.B. betreffend die subjektive Härte) erst zu einem späteren Zeitpunkt verwirklichen, auch wenn der Steuerpflichtige dabei schuldhaft die Steuer nicht bereits entrichtet hat, was zu einem Steuerhinterziehungstatbestand führt. Diese beiden Sachverhalte sind unabhängig voneinander zu betrachten und auch die Tatsache, dass die ESTV bereits eine Betreibung eingeleitet hat, ändert nichts daran, dass ein Erlassgesuch möglich bleiben muss. Eine andere Auffassung widerspräche der Konzeption als Ordnungsfrist. Daraus folgt, dass die Vorinstanz auf das Erlassgesuch hätte eintreten und dieses materiell behandeln müssen.
Gemäss Art. 61 Abs. 1 VwVG entscheidet die Beschwerdeinstanz in der Sache selbst oder weist diese ausnahmsweise mit verbindlichen Weisungen an die Vorinstanz zurück (vgl. E. 1.4 vorstehend). Vorliegend rechtfertigt sich eine Rückweisung trotz Nichteintretensentscheid der Vorinstanz nicht. Der Sachverhalt ist aufgrund der Eventualbegründung der Vorinstanz und der Akten im vorliegenden Verfahren vor Bundesverwaltungsgericht vollständig erstellt (vgl. E. 4.5 hiernach) und die Durchführung eines Beweisverfahrens, respektive eine weitere materielle Auseinandersetzung der Vorinstanz mit dem Erlassgesuch daher nicht erforderlich.
Die Vorinstanz führte mit Eventualbegründung aus, das Erlassgesuch wäre ohnehin abzuweisen gewesen, da die Voraussetzungen dafür nicht gegeben seien. Diese Aussage ist nach Aktenlage zu bestätigen. Die Steuerforderung ist nicht bei der Aufwertung sanierungshalber abgeschriebener Beteiligungsrechte oder bei der Einlösung anlässlich einer Sanierung ausgegebener Genussscheine im Sinn von Art. 18 VStG entstanden. Die von der Beschwerdeführerin geschuldete Verrechnungssteuer beruht vielmehr auf der Ausschüttung von Dividenden (vgl. dazu Formular 103; act. 2) und ist somit nicht in einem Sanierungstatbestand begründet. Dies wird von der Beschwerdeführerin auch nicht weiter bestritten. Damit ist eine der Voraussetzungen für den Erlass der Verrechnungssteuerforderung nicht erfüllt, weshalb die Frage nach dem Vorliegen der subjektiven Härte als weitere Voraussetzung für den Erlass vorliegend offenbleiben kann.
Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die Vorinstanz auf das Erlassgesuch der Beschwerdeführerin vom 24. März 2024 hätte eintreten müssen. Eine Rückweisung an die Vorinstanz rechtfertigt sich aus prozessökonomischen Gründen hingegen nicht, weil das Erlassgesuch die materiellen
Voraussetzungen nicht erfüllt und damit abzuweisen ist. Die Beschwerde ist folglich gesamthaft abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdeführerin die auf Fr. 800.- festzusetzenden Verfahrenskosten zu tragen (Art. 63 Abs. 1 VwVG und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 des Reglements vom
21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). Der in gleicher Höhe einbezahlte Kostenvorschuss ist zur Bezahlung der Verfahrenskosten zu verwenden.
Der unterliegenden Beschwerdeführerin ist keine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 64 Abs. 1 VwVG e contrario und Art. 7 Abs. 1 VGKE e contrario).
Das Dispositiv folgt auf der nächsten Seite.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.
Die Verfahrenskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. Der in gleicher Höhe geleistete Kostenvorschuss wird für die Bezahlung der Verfahrenskosten verwendet.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerin und die Vorinstanz.
Für die Rechtsmittelbelehrung wird auf die nächste Seite verwiesen.
Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:
Jürg Steiger Katharina Meienberg
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen nach Eröffnung beim Bundesgericht, Schweizerhofquai 6, 6004 Luzern, Beschwerde in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten geführt werden (Art. 82 ff., 90 ff. und 100 BGG), unter Vorbehalt des Entscheids betreffend Erlass der Verrechnungssteuer (Art. 83 Bst. m BGG). Die Frist ist gewahrt, wenn die Beschwerde spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht eingereicht oder zu dessen Handen der Schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung übergeben worden ist (Art. 48 Abs. 1 BGG). Die Rechtsschrift ist in einer Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift zu enthalten. Der angefochtene Entscheid und die Beweismittel sind, soweit sie die beschwerdeführende Partei in Händen hat, beizulegen (Art. 42 BGG).
Versand:
Zust ellung erf olgt an:
die Beschwerdeführerin (Gerichtsurkunde)
die Vorinstanz (Ref-Nr. […]; Gerichtsurkunde)
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
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