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Bundesverwaltungsgericht Urteil E-750/2022

Kopfdaten
Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung V
Dossiernummer:E-750/2022
Datum:23.02.2022
Leitsatz/Stichwort:Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren)
Schlagwörter : Beschwerde; Beschwerdeführer; Beschwerdeführerin; Ungarn; Verfügung; Bundesverwaltungsgericht; Verfahren; Asylgesuch; Mitgliedstaat; Dublin-III-VO; Vorinstanz; Sachverhalt; Zuständig; Angefochtene; Über; Ungarische; Staat; Asylverfahren; Recht; Entscheid; Schweiz; Ungarischen; Asyls; Sachverhalts; Begründung; Behörde; Nichteintreten; Behandlung; Überstellung; Asylsuchende
Rechtsnorm: Art. 12 BV ; Art. 29 BV ; Art. 32 VwVG ; Art. 35 VwVG ; Art. 61 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 65 VwVG ; Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:136 I 184; ;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:
Entscheid

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung V E-750/2022

U r t e i l v o m 2 3 . F e b r u a r 2 0 2 2

Besetzung Einzelrichter Markus König,

mit Zustimmung von Richterin Chiara Piras; Gerichtsschreiberin Martina Stark.

Parteien A. , geboren am (…), Afghanistan,

vertreten durch MLaw Ruedy Bollack, (…),

Beschwerdeführerin,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren);

Verfügung des SEM vom 7. Februar 2022 / N (…).

Sachverhalt:

A.

Die Beschwerdeführerin stellte am 29. Oktober 2021 in der Schweiz ein Asylgesuch.

B.

Am 5. November 2021 wurden die Personalien der Beschwerdeführerin aufgenommen.

C.

Am 15. November 2021 führte das SEM das sogenannte Dublin-Gespräch mit der Beschwerdeführerin durch.

    1. Sie gab dabei an, sie habe im Jahr 2016 ein Stipendium für ein Studium der (…) in der Türkei erhalten und in der Folge wahrgenommen, wobei sie nach Abschluss der Ausbildung wieder hätte nach Afghanistan zurückkehren müssen. Im letzten Ausbildungsjahr habe sie von Ungarn ein Angebot für ein Erasmus-Praktikum erhalten. Dieser Staat habe ihr dann ein vom 22. September 2021 bis zum 21. Dezember 2021 gültiges Einreisevisum ausgestellt. Sie sei am (…) September 2021 von der Türkei nach Wien und danach direkt in die Schweiz gereist, weil sie eigentlich lieber in der Schweiz ein Ausbildungsprogramm habe absolvieren wollen. Sie habe zwar nicht das Ziel gehabt, in Europa um Asyl nachzusuchen, nachdem sie aber wegen der Ereignisse in Afghanistan Probleme bekommen habe, habe sie sich schliesslich doch dafür entschieden, in der Schweiz ein Asylgesuch zu stellen.

    2. Im Rahmen der Gewährung des rechtlichen Gehörs zu einer Zuständigkeit Ungarns für die Behandlung des Asylgesuchs gab sie Beschwerdeführerin an, sie hätte im Zusammenhang mit ihrem Praktikum nur für (…) Monate in Ungarn bleiben dürfen und danach in die Türkei zurückkehren müssen (wo sie ebenfalls nicht länger hätte bleiben dürfen und demzufolge nach Afghanistan hätte zurückkehren müssen). Sie benötige die Unterstützung der Schweiz, weil Ungarn keine Flüchtlinge aufnehme und sie nicht unterstützen werde.

    3. Schliesslich gab die Beschwerdeführerin zu Protokoll, sie sei gesund.

D.

    1. Am 15. November 2021 ersuchte das SEM Ungarn unter Hinweis auf das durch diesen Staat erteilte Besuchervisum um Aufnahme der Beschwerdeführerin und stützte diese Anfrage auf Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom

      26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO) ab.

    2. Am 22. November 2021 verweigerten die ungarischen DublinBehörden die Aufnahme der Beschwerdeführerin unter Hinweis auf fehlende Belege im Gesuch des SEM.

    3. Nachdem ihnen das SEM am 30. November 2021 ein Remonstrationsgesuch gestellt hatte, erklärten die ungarischen Behörden am 3. Dezember 2021 ihre Zustimmung zur Aufnahme der Beschwerdeführerin.

E.

Mit Verfügung vom 7. Februar 2022 – eröffnet am 9. Februar 2022 – trat das SEM gestützt auf Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG (SR 142.31) auf das Asylgesuch nicht eine und ordnete ihre Überstellung nach Ungarn an. Die Beschwerdeführerin wurde aufgefordert, die Schweiz am Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist zu verlassen, ansonsten sie in Haft gesetzt und unter Zwang nach Ungarn zurückgeführt werde. Weiter verpflichtete die Vorinstanz den zuständigen Kanton mit dem Vollzug der Überstellung, händigte der Beschwerdeführerin die editionspflichtigen Akten gemäss Aktenverzeichnis aus und stellte fest, einer allfälligen Beschwerde gegen die Verfügung komme keine aufschiebende Wirkung zu.

F.

Mit Eingabe ihres Rechtsvertreters an das Bundesverwaltungsgericht vom

  1. Februar 2022 liess die Beschwerdeführerin Beschwerde gegen den Nichteintretensentscheid des SEM erheben. Sie beantragte, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und die Vorinstanz sei anzuweisen, auf ihr Asylgesuch einzutreten und ein materielles Asylverfahren in der Schweiz durchzuführen; eventualiter sei die Verfügung der Vorinstanz zur rechtsgenüglichen Begründung, zur vollständigen Sachverhaltsabklärung und zur Neubeurteilung an das SEM zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht wurde die Gewährung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde, der Erlass vollzugshemmender vorsorglicher Massnahmen, die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und die Befreiung von der Kostenvorschusspflicht beantragt.

    G.

    Der Instruktionsrichter setzte den Vollzug der Überstellung der Beschwerdeführerin am 17. Februar 2022 mit einer superprovisorischen vorsorglichen Massnahme einstweilen aus.

    H.

    Die vorinstanzlichen Akten lagen dem Bundesverwaltungsgericht am

  2. Februar 2022 in elektronischer Form vor (vgl. Art. 109 Abs. 3 AsylG).

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinn von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls – in der Regel und auch vorliegend – endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

    2. Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

    3. Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht worden. Die Beschwerdeführerin hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Sie ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 3 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 VwVG).

    4. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.

    1. Über offensichtlich begründete Beschwerden wird in einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise einer zweiten Richterin entschieden (Art. 111 Bst. e AsylG). Hier handelt es sich um ein solches Rechtsmittel, weshalb das Urteil nur summarisch zu begründen ist (Art. 111a Abs. 2 AsylG).

    2. Im Verfahren der Beschwerdeführerin, in welchem das Bundesverwaltungsgericht innerhalb von fünf Arbeitstagen zu entscheiden hat (Art. 109 Abs. 3 AsylG), wird in Anwendung von Art. 111a Abs. 1 AsylG auf einen Schriftenwechsel verzichtet.

2.

    1. Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).

    2. Bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, mit denen es das SEM ablehnt, das Asylgesuch auf seine Begründetheit hin zu überprüfen (Art. 31a Abs. 1–3 AsylG), ist die Beurteilungskompetenz der Beschwerdeinstanz grundsätzlich auf die Frage beschränkt, ob die Vorinstanz zu Recht auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 3.1; 2012/4 E. 2.2, je m.w.H.).

3.

    1. Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsuchende in einen Drittstaat ausreisen können, der für die Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist (Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG). Zur Bestimmung des staatsvertraglich zuständigen Staates prüft das SEM die Zuständigkeitskriterien gemäss Dublin-III-VO. Führt diese Prüfung zur Feststellung, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylgesuchs zuständig ist, tritt das SEM, nachdem der betreffende Mitgliedstaat einer Überstellung oder Rücküberstellung zugestimmt hat, auf das Asylgesuch nicht ein (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 6.2).

    2. Gemäss Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO wird jeder Asylantrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Asylantrag gestellt wird (Art. 20 Abs. 1 Dublin-III-VO).

    3. Im Fall eines sogenannten Aufnahmeverfahrens (engl.: take charge)

      • wie das vorliegende Verfahren eines ist – sind die in Kapitel III (Art. 8–15 Dublin-III-VO) genannten Kriterien anzuwenden (Art. 7 Abs. 1 und 2 Dublin-III-VO; vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 6.2 und 8.2.1 m.w.H.).

    4. Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in jenem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinn von Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2012/C 326/02, nachfolgend: EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen, ist zu prüfen, ob aufgrund dieser Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Kann kein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden, wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat (Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO).

    5. Jeder Mitgliedstaat kann abweichend von Art. 3 Abs. 1 beschliessen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist (Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO; sog. Selbsteintrittsrecht).

4.

    1. Die Vorinstanz führte zur Begründung ihrer Verfügung im Wesentlichen aus, die ungarischen Behörden hätten das Übernahmeersuchen des SEM angesichts des von ihrem Land erteilten Visums gutgeheissen, womit die Zuständigkeit für die Behandlung des Asylgesuchs bei Ungarn liege. Daran vermöge auch die Tatsache nichts zu ändern, dass die Beschwerdeführerin in Ungarn bisher kein Asylgesuch eingereicht habe; sie werde nach ihrer Rückführung die Möglichkeit haben, bei den ungarischen Behörden ein Asylgesuch einzureichen. Es gebe keine Hinweise dafür, dass Ungarn das Asylund Wegweisungsverfahren nicht korrekt durchführen und der Beschwerdeführerin keinen effektiven Schutz vor Rückschiebung gewähren würde. Es gebe auch keine wesentlichen Gründe für eine Annahme gemäss Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO, dass nämlich das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Ungarn Schwachstellen aufweisen würden, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinn von Art. 4 EU-Grundrechtecharta oder Art. 3 EMRK mit sich bringen würden. Ungarn sei durch die einschlägigen EURichtlinien (Verfahrens-, Qualifikationsund Aufnahmerichtlinie) gebunden und Signatarstaat der Flüchtlingskonvention sowie der EMRK. Es gebe keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass sich Ungarn nicht an diese völkerrechtlichen Verpflichtungen haIte. Das ungarische Asylund Aufnahmesystem weise keine systemischen Mängel auf. Schliesslich gebe es im Verfahren der Beschwerdeführerin keine Veranlassung aus humanitären

      Gründen die Souveränitätsklausel anwenden, zumal keine begründeten Anhaltspunkte für die Annahme ersichtlich seien, wonach die Beschwerdeführerin "nach einer Rückkehr nach Ungarn" in eine existenzielle Notlage geraten könnte.

    2. Die Beschwerde wird im Wesentlichen mit einer Verletzung der vorinstanzlichen Begründungspflicht, des Untersuchungsgrundsatzes und des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführerin begründet. Im Fall von Ungarn bestünden, entgegen der Darstellung des SEM, deutliche Hinweise auf systematische Schwachstellen bei den Aufnahmebedingungen von Asylsuchenden; es sei davon auszugehen, dass es bei einer Überstellung der Beschwerdeführerin in dieses Land zu einer entwürdigenden Behandlung im Sinn von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta und Art. 3 EMRK kommen könnte. Das Bundesverwaltungsgericht habe bereits im Jahr 2017 in einem Referenzurteil auf zahlreiche Unzulänglichkeiten im ungarischen Asylwesen hingewiesen, welche namentlich den Zugang zum Asylverfahren sowie die Aufnahmebedingungen der Asylsuchenden betroffen hätten. Das Gericht habe sich mit einer Verschärfung der ungarischen Gesetzgebung befasst und festgestellt, dass diese zahlreiche Unsicherheiten und ungeklärte Fragen nach sich ziehe, die es dem Gericht verunmögliche, das Vorliegen systemischer Schwachstellen im Sinn von Art. 3 Abs. 2 der Dublin-III-VO und die sich aufdrängenden Fragen im Zusammenhang mit der Gefahr drohender Menschenrechtsverletzungen abschliessend zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht habe in diesem Referenzurteil die angefochtene Verfügung aufgehoben und die Sache für weitere Sachverhaltsabklärungen sowie zur Neubeurteilung an das SEM zurückgewiesen. Der angefochtenen Verfügung lasse sich nicht entnehmen, ob das SEM entsprechende Abklärungen vorgenommen habe, um das Vorliegen von Schwachstellen im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO auszuschliessen. Zudem habe das SEM in seiner Begründung nicht erläutert, wieso es von der etablierten Rechtsprechung hinsichtlich Überstellungen nach Ungarn im Rahmen des Dublin-Verfahrens abweiche; im Nichteintretensentscheid werde das Referenzurteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht einmal erwähnt. Schliesslich habe sich das SEM auch nicht hinreichend mit den Vorbehalten der Beschwerdeführerin im Rahmen des rechtlichen Gehörs auseinandergesetzt; sie habe damals geltend gemacht, dass sie nicht nach Ungarn gehen möchte, weil Flüchtlinge dort nicht aufgenommen würden und sie dort keine Unterstützung erhalten würde. Für die Beschwerdeführerin sei es nach dem Gesagten nicht möglich, die angefochtene Verfügung nachzuvollziehen und sachgerecht anfechten zu können.

5.

5.1 Nach Durchsicht der Akten stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass die formellen Rügen der Beschwerdeführerin begründet sind. Es kann vorab auf die überzeugende Argumentation in der Beschwerdeschrift verwiesen werden.

5.2

      1. Das Verwaltungsund das Asylverfahren werden vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht (Art. 12 VwVG, Art. 6 AsylG). Als Verfahrensmaxime besagt dieser, dass die Verwaltungsbehörden für die Beschaffung des die Urteilsgrundlage bildenden Tatsachenmaterials zuständig sind. Er auferlegt der Behörde die Pflicht, von Amtes wegen den rechtserheblichen Sachverhalt vollständig und richtig zu ermitteln und beinhaltet gewissermassen eine Art "behördliche Beweisführungspflicht" (vgl. KRAUSKOPF/EMMENEGGER/BABEY, in: Praxiskommentar VwVG, Waldmann/ Weissenberger [Hrsg.], 2. Auflage 2016, Art. 12 N. 16; BVGE 2012/21 E. 5 m.w.H.). Der Untersuchungsgrundsatz findet seine Grenze an der gesetzlichen Mitwirkungspflicht der Parteien (Art. 13 VwVG und Art. 8 AsylG).

      2. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 29 und Art. 32 Abs. 1 VwVG) verlangt, dass die verfügende Behörde die Vorbringen des Betroffenen tatsächlich hört, sorgfältig und ernsthaft prüft und in der Entscheidungsfindung berücksichtigt, was sich entsprechend in der Entscheidbegründung niederschlagen muss (vgl. Art. 35 Abs. 1 VwVG). Die Begründung eines Entscheids muss so abgefasst sein, dass der Betroffene ihn gegebenenfalls sachgerecht anfechten kann, was nur der Fall ist, wenn sich sowohl der von der Verfügung Betroffene als auch die Rechtsmittelinstanz über die Tragweite des Entscheids ein Bild machen können (vgl. KNEUBÜHLER/PEDRETTI, in: Kommentar zum VwVG, Auer/ Müller/Schindler [Hrsg.], 2. Auflage 2019, Art. 35 Rz. 7 ff.; BGE 136 I 184 E. 2.2.1, BVGE 2013/34 E. 4.1, 2008/47 E. 3.2 und 2007/30 E. 5.6 je m.w.H.).

5.3

      1. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Referenzurteil D-7853/2015 vom 31. Mai 2017 in der Tat die Entwicklung der Situation für Asylsuchende in Ungarn eingehend analysiert, dies insbesondere mit Blick auf jene Personen, die in Anwendung der Dublin-III-VO nach Ungarn überstellt werden (vgl. a.a.O. E. 6 ff.). Dabei stellte das Gericht das Vorhandensein zahlreicher Unzulänglichkeiten im ungarischen System fest, welche namentlich

        den Zugang zum Asylverfahren sowie die Unterbringung der Asylsuchenden (in den sogenannten Transitzonen) betrafen. Das Gericht kam zum Schluss, dass die ungarische Gesetzgebung – respektive deren Anwendung im Rechtsalltag – zahlreiche Unsicherheiten und Fragen nach sich ziehe und insbesondere der Zugang zu einem korrekten Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen nicht mit Sicherheit ermittelt werden könne; unter diesen Umständen sei es nicht möglich, das Vorliegen systemischer Schwachstellen im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung sowie die Fragen im Zusammenhang mit der Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK abschliessend zu beurteilen (vgl. a.a.O. E. 9.2 und 10). Die in jenem Verfahren angefochtene Verfügung wurde aufgehoben und die Sache zur vollständigen Sachverhaltsermittlung und zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

      2. Soweit aus der gerichtlichen Geschäftskontrolle ersichtlich, wurde

        • neben dem vorliegend zu behandelnden Verfahren – im Ungarn-DublinKontext seit Anfang des Jahres 2018 bisher nur ein einziger Nichteintretensentscheid des SEM beim Bundesverwaltungsgericht angefochten. Jene Verfügung wurde mit Urteil des BVGer E-1881/2018 vom 22. Mai 2018 aufgehoben und die Sache wurde dem SEM zur vollständigen Sachverhaltsabklärung rücküberwiesen.

      3. In einem später ergangenen Urteil, BVGer E-1018/2019 vom 8. April 2021, befasste sich das Bundesverwaltungsgericht mit den Aufnahmebedingungen, welchen Personen, die in Ungarn einen subsidiären Schutzstatus zugesprochen erhalten hatten, bei einer Rückkehr in dieses Land ausgesetzt sind. Es analysierte die asylrechtlichen und -politischen Entwicklungen in Ungarn – namentlich auch seit Erlass des Referenzurteils aus dem Jahr 2017 – und kam zum Schluss, dass nicht feststehe, ob der Beschwerdeführer in Ungarn die europarechtlich vorgegebenen Garantien für Schutzberechtigte (namentlich gemäss der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011; sog. Qualifikationsrichtlinie) in Anspruch werde nehmen können (vgl.

a.a.O. E. 3.4 ff. und 4.2). Auch diese Verfügung wurde vom Bundesverwaltungsgericht kassiert.

    1. Unter diesen Umständen überrascht die vom SEM in seiner Verfügung bloss textbausteinartig vertretene Auffassung, es gebe keine Hinweise auf systemische Mängel im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO oder darauf, dass sich dieser Staat bei der Behandlung von Asylverfahren nicht an seine völkerrechtlichen Verpflichtungen haIte. Die Erwägungen in der

      angefochtenen Verfügung weisen keinerlei Bezug zur konkreten länderspezifischen Situation – und zur oben beschriebenen Praxis des Gerichts

      • auf. Diese "Begründung" der angefochtenen Verfügung ist nicht nur für die Beschwerdeführerin, sondern auch für das Bundesverwaltungsgericht nicht nachvollziehbar.

    2. Das SEM hat im vorliegenden Verfahren seine Begründungspflicht

      • und damit das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin – verletzt und den rechtserheblichen Sachverhalt unvollständig (eventuell auch unzutreffend) festgestellt.

    3. Die Beschwerde ist gutzuheissen. Die angefochtene Verfügung ist aufzuheben. Die Sache ist zur vollständigen Sachverhaltsfeststellung und (gegebenenfalls) zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 61 Abs. 1 VwVG).

6.

Die Anträge auf Gewährung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde und auf Befreiung von der Kostenvorschusspflicht werden mit dem Entscheid in der Sache gegenstandslos.

7.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung gemäss Art. 65 Abs. 1 VwVG wird damit ebenfalls gegenstandslos.

8.

Der Beschwerdeführerin ist keine Parteientschädigung auszurichten, weil es sich bei ihrem Rechtsvertreter um einen zugewiesenen unentgeltlichen Rechtsbeistand im Sinn von Art. 102h AsylG handelt, dessen Leistungen vom Bund nach Massgabe von Art. 102k AsylG entschädigt werden (vgl. auch Art. 111ater AsylG).

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit die Aufhebung der angefochteten Verfügung beantragt worden ist.

2.

Die Nichteintretensverfügung des SEM vom 7. Februar 2022 wird aufgehoben. Die Sache wird zur vollständigen Sachverhaltsfeststellung und gegebenenfalls zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4.

Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

5.

Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerin, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.

Der Einzelrichter: Die Gerichtsschreiberin:

Markus König Martina Stark

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