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Bundesverwaltungsgericht Urteil E-5677/2021

Kopfdaten
Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung V
Dossiernummer:E-5677/2021
Datum:01.02.2022
Leitsatz/Stichwort:Asyl (ohne Wegweisungsvollzug)
Schlagwörter : Vorinstanz; Folter; Sachverhalt; Bundesverwaltungsgericht; Sicherheit; Verfügung; Beschwerdeführers; Verfahren; Syrien; Sicherheitsbehörden; Verfahren; Sachverhalts; Recht; Behörde; Beweis; Schweiz; Organisation; Psychiaterin; Ausführungen; Begründung; Urteil; Staat
Rechtsnorm: Art. 10 StGB ; Art. 52 VwVG ; Art. 61 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
-
Entscheid

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung V E-5677/2021

U r t e i l v o m 1 . F e b r u a r 2 0 2 2

Besetzung Einzelrichter Lorenz Noli,

mit Zustimmung von Richter Daniele Cattaneo, Gerichtsschreiber Daniel Merkli.

Parteien A. , geboren am (…), Türkei,

vertreten durch MLaw Rachel Brunnschweiler, Bündner Beratungsstelle für Asylsuchende, (…), (…),

Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Asyl (ohne Wegweisungsvollzug);

Verfügung des SEM vom 3. Dezember 2021 / N (…).

Sachverhalt:

A.

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Ethnie aus der Stadt B. in der gleichnamigen Provinz, suchte am 22. August 2019 in der Schweiz um Asyl nach.

Er wurde dem Bundesasylzentrum (BAZ) der Region Ostschweiz zugewiesen und am 12. Dezember 2019 vertieft zu seinen Asylgründen gemäss Art. 29 AsylG angehört. Am 16. Dezember 2019 wurde er dem erweiterten Verfahren zugeteilt.

B.

Zur Begründung seines Asylgesuches machte der Beschwerdeführer im Wesentlichen geltend, aus einer politisch aktiven Familie zu stammen (Brüder Angehörige der HDP). Er selbst habe der Jugendsektion der HDP angehört und sei 2010 wegen angeblicher Teilnahme an Demonstrationen zu Unrecht angeklagt, später jedoch mangels Beweisen freigesprochen worden. Im Jahre 2010 habe er sich aufgrund des sich verstärkenden behördlichen Druckes nach C. in Syrien begeben. Während des nachfolgenden sechsjährigen Aufenthalts in Syrien und im Irak sei er auch mit bewaffneten Kämpfern der YPG unterwegs gewesen, ohne eine Waffenausbildung absolviert und an Kämpfen teilgenommen zu haben. Vielmehr sei er Pazifist beziehungsweise Humanist und habe vor Ort lediglich ideologische Aufklärung betrieben und verschiedentlich Hilfe geleistet. Nach seinem Aufenthalt in Syrien und im Irak sei er 2016 in die Türkei zurückgekehrt und anfangs Juli 2016 anlässlich einer Kontrolle während einer Busfahrt verhaftet und an einen Ort zwischen D. (Türkei) und E. (Syrien) gebracht worden. Dort hätten ihn Angehörige der türkischen Sicherheitsbehörden sowie des Islamischen Staates (IS) und der Al-Kaida gefoltert. Schliesslich sei er gezwungen worden, Unterlagen der türkischen Behörden zu unterschreiben, in denen er und Angehörige der HDP beschuldigt worden seien, mit der YPG beziehungsweise der PKK zusammengearbeitet zu haben. Anschliessend sei er in die Türkei zurückgebracht worden und während mehrerer Monate in einem türkischen Gefängnis inhaftiert gewesen. In dieser Zeit sei gegen ihn ein Strafverfahren wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation eingeleitet worden. Sein Anwalt habe sich in diesem Verfahren auf das Reuegesetz berufen und ein Freispruch habe sich abgezeichnet, jedoch sei er unmittelbar vor der Freilassung in Abwesenheit seines Rechtsanwalts von der Spezialpo-

lizei aus dem Gefängnis geholt und zum Militärposten in F. gebracht worden. Dort habe man ihn dazu angehalten, als Spitzel bei der PKK zu arbeiten und er habe unter Druck zugestimmt. Nachdem er am 4. Juli

2017 vom Regionalgericht D.

bedingt freigelassen worden sei,

hätten die türkischen Sicherheitsbehörden ihn bereits nach einer Woche erneut festgenommen und gefoltert. Man habe ihn der Teilnahme bei der

Organisation eines Autobombenanschlags in F.

bezichtigt. Er

habe jedoch mit diesem Vorfall nichts zu tun gehabt, sei er doch im Zeitpunkt des Anschlags doch bereits im Gefängnis gewesen. Die türkische Polizei habe seine Fingerabdrücke am Tatfahrzeug angebracht, um einen Verdacht gegen ihn zu begründen. Glücklicherweise sei er einem fairen Richter vorgeführt worden, der seine Freilassung angeordnet habe. Er sei sofort untergetaucht, um einer erneuten Verhaftung zu entgehen. Tatsächlich sei ein weiterer Suchbefehl gegen ihn erlassen worden. Schliesslich sei er am 28. Dezember 2018 illegal ausgereist. Auch nach seiner illegalen Ausreise sei er von den türkischen Sicherheitsbehörden gesucht worden.

C.

Aus den als Beweismittel eingereichten türkischen Ermittlungsund Gerichtsdokumenten (u.a. Urteil vom (…)/108 [Freispruch], Anklageschrift, Verhandlungsprotokolle und erstund zweitinstanzliche Urteile hinsichtlich des Strafverfahrens wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation und im Zusammenhang mit dem Attentat vom (…) auf einen Sicherheitsposten) ergibt sich ein von den genannten Angaben des Beschwerdeführers teils abweichender Sachverhalt.

So sei der Beschwerdeführer am 4. Juli 2016 anlässlich einer Routinekontrolle eines Reisebusses aufgrund eines bereits existierenden Haftbefehls unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation in Gewahrsam genommen worden. Im Rahmen eines Verhörs durch die türkischen Sicherheitsbehörden habe der Beschwerdeführer zugegeben, 2010 beziehungsweise 2011 der PKK beigetreten zu sein. Dieser Beitritt, den er in der Zwischenzeit bereue, sei spontan erfolgt. In einer fünfköpfigen Gruppe sei er illegal nach Syrien gelangt, wo er sich dreieinhalb Monate in Kobane und Serekani aufgehalten habe. Danach habe er sich in den Nordirak begeben, wo er sich insbesondere in den G. -Bergen aufgehalten und dort eine Waffenausbildung absolviert habe. Er und sechzig weitere Personen seien damit beauftragt worden, nach H. zu gehen und gemeinsam mit den Peschhmerga gegen den IS (Islamischen Staat) zu kämpfen. Er sei, ohne eigene Teilnahme an den Kämpfen, zwei

Jahre in H. gewesen. Zweimal habe er vergeblich versucht, zu desertieren. Nachdem es ihm gelungen sei, trotz der Desertionsversuche das Vertrauen der Kommandanten zurückzuerlangen, sei er zusammen mit vier Personen über C. (Syrien) in die Türkei eingereist und habe sich in der Gegend um den Berg I. mit Angehörigen der PKK getroffen. Die gesamte Truppe sei danach mit dem Auftrag, zwecks eines geplanten Angriffs auf den in der Nähe gelegenen Sicherheitsposten in die Region

J.

notwendige Abklärungen vorzunehmen, in die Region

J. gezogen. Beim Abladen von Waffen und Munition habe er heimlich ein Gespräch zwischen den Hauptverantwortlichen dieses Vorhabens mitbekommen und dabei vom geplanten Angriff auf den genannten Sicherheitsposten erfahren, wovon er in der der Folge die türkischen Sicherheitsbehörden telefonisch in Kenntnis gesetzt habe. Anschliessend sei er im Reisebus nach Adana von der türkischen Polizei festgenommen worden und er habe erfahren, dass der geplante Angriff auf den Sicherheitsposten trotz seiner Warnung stattgefunden habe.

Den eingereichten Gerichtsakten ist zu entnehmen, dass beim genannten Attentat vom (…) durch die Explosion eines bei der Gemeindeverwaltung gestohlenen und mit Sprengstoff beladenen Lastwagens eine unbeteiligte Zivilperson ums Leben kam und die türkischen Sicherheitsbehörden einen Fingerabdruck des Beschwerdeführers auf dem Antragsformular für eines der bei diesem gewaltsamen Anschlag genutzten Fluchtfahrzeuges sicherstellten. Gegen den Beschwerdeführer wurde (neben dem Vorwurf, einer bewaffneten Terrororganisation anzugehören) ein Strafverfahren insbesondere wegen Plünderung, Tötung durch Brandstiftung, vorsätzlichem Mordversuch an Personen aufgrund ihrer Anstellung im öffentlichen Dienst, und Sachbeschädigung von öffentlichem Gut eingeleitet.

D.

Mit Eingabe vom 25. Februar 2021 reichte die Rechtsvertretung einen ärztlichen Bericht der behandelnden Psychiaterin vom 19. Februar 2021 ein, worin dem Beschwerdeführer eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), eine irreversible Änderung der Persönlichkeit nach Extremtraumatisierung, eine dissoziative Störung und eine mittelgradige bis schwere depressive Störung attestiert werden.

E.

Mit Schreiben vom 9. März 2021 wurde dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör zum aus den Gerichtsdokumenten abweichenden Sachverhalt

gegeben. Im Weiteren wurde darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer gegenüber seiner Psychiaterin angegeben habe, dass er im Kampf gesehen habe, wie Menschen mit Messerstichen getötet und dann geköpft worden seien. Aufgrund dieser Aussagen sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer – entgegen seinen Aussagen während den Befragungen – an Kampfhandlungen in Syrien und im Irak beteiligt gewesen sei. Das SEM ziehe daher in Betracht, den Beschwerdeführer gemäss Art. 53 Bst. a AsyIG von der Asylgewährung auszuschliessen.

F.

Mit Eingaben vom 26. März und 28. April 2021 nahm die Rechtsvertretung zu den genannten Feststellungen des SEM fristgerecht Stellung.

G.

Mit Verfügung vom 3. Dezember 2021 (Eröffnung am 6. Dezember 2021) anerkannte das SEM die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers, lehnte jedoch dessen Asylgesuch wegen Asylunwürdigkeit im Sinne von Art. 53 Bst. a AsylG ab. Es ordnete die Wegweisung aus der Schweiz an und nahm den Beschwerdeführer wegen Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzugs in der Schweiz vorläufig auf.

H.

Gegen diesen Entscheid erhob der Beschwerdeführer mit Eingabe seiner Rechtsvertretung vom 29. Dezember 2021 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Es wurde die Aufhebung der Dispositivziffern 2 und 3 der angefochtenen Verfügung und die Asylgewährung beantragt. Eventualiter sei die Sache zur vollständigen Feststellung des Sachverhalts und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht wurde unter Verzicht auf das Erheben eines Kostenvorschusses um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und der unentgeltlichen Verbeiständung ersucht.

I.

Mit Schreiben vom 3. Januar 2022 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht den Eingang der Beschwerde.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls endgültig, ausser bei Vorliegen eines Auslieferungsersuchens des Staates, vor welchem die beschwerdeführende Person Schutz sucht (Art. 105 AsylG [SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG). Eine solche Ausnahme im Sinne von Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG liegt nicht vor, weshalb das Bundesverwaltungsgericht endgültig entscheidet.

    2. Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

    3. Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht. Der Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 1 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.

Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG.

3.

Die Beschwerde ist im Verfahren einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters oder einer zweiten Richterin zu behandeln, weil sie sich im Ergebnis als offensichtlich begründet erweist (Art. 111 Bst. e AsylG). Auf die Durchführung eines Schriftenwechsels wurde verzichtet (Art. 111a Abs. 1 AsylG).

4.

Nachdem die Vorinstanz den Beschwerdeführer in der angefochtenen Verfügung gestützt auf Art. 3 AsylG als Flüchtling anerkannt und dessen vorläufige Aufnahme in der Schweiz angeordnet hat, ist nachfolgend einzig zu beurteilen, ob das SEM zu Recht zum Schluss gelangt ist, er sei im Sinne von Art. 53 AsylG asylunwürdig und sein Asylgesuch sei deshalb abzulehnen.

5.

Gemäss Art. 53 AsylG wird Flüchtlingen kein Asyl gewährt, wenn sie wegen verwerflicher Handlungen des Asyls unwürdig sind (Bst. a), sie die innere oder die äussere Sicherheit der Schweiz verletzt haben oder gefährden (Bst. b) oder gegen sie eine Landesverweisung nach Art. 66a oder 66abis des Schweizerischen Strafgesetzbuchs vom 21. Dezember 1937 (StGB, SR 311.0) oder Art. 49a oder 49abis des Militärstrafgesetzes vom

13. Juni 1927 (MStG, SR 321.0) ausgesprochen wurde (Bst. c). Hat sich ergeben, dass vom Vorliegen eines dieser drei Tatbestände auszugehen ist, ist gemäss ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in einem weiteren Schritt ausserdem die Verhältnismässigkeit der Rechtsfolge eines Asylausschlusses zu prüfen. In Betracht zu ziehen sind dabei gemäss entsprechender Praxis unter anderem das Alter der betreffenden Person im Zeitpunkt der Tatbegehung, allfällige Veränderungen der Lebensverhältnisse nach der Tat, die Wahrscheinlichkeit der erneuten Begehung von Straftaten sowie die Frage, wie lange die Tat bereits zurückliegt, wobei die strafrechtlichen Verjährungsbestimmungen zu berücksichtigen sind (vgl. BVGE 2011/10 E. 6, BVGE 2011/29 E. 9.2.4; bspw. auch Urteile des Bundesverwaltungsgerichts D-4291/2012 vom 26. Juli 2013 E. 5.5,

D-4698/2013 vom 23. Juli 2014 E. 6.3, D-1071/2015 vom 19. April 2016

E. 5.5.1; vgl. ausserdem bereits Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 1996 Nr. 40, 2002 Nr. 9

E. 7d).

Unter dem Begriff der «verwerflichen Handlungen» gemäss Art. 53 Bst. a AsylG fallen grundsätzlich Delikte, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht sind und somit dem abstrakten Verbrechensbegriff von Art. 10 Abs. 2 StGB entsprechen (vgl. BVGE 2012/20 E. 4; Urteil des BVGer D-1762/2019 vom 20. Mai 2019 E. 7.1.1). Gemäss asylrechtlicher Rechtsprechung ist es irrelevant, ob die verwerfliche Handlung einen ausschliesslich gemeinrechtlichen Charakter hat oder als politisches Delikt aufzufassen ist (vgl. BVGE 2011/29 E. 9.2.2; EMARK 2002 Nr. 9 E. 7b).

6.

    1. Zur Begründung des ablehnenden Asylentscheids führte die Vorinstanz aus, der Beschwerdeführer erfülle die Flüchtlingseigenschaft, er sei jedoch gestützt auf Art. 53 AsylG asylunwürdig.

      Sie führte aus, aus den eingereichten Gerichtsdokumenten gehe hervor, dass aufgrund verschiedener Hinweise (komplex dargelegter Sachverhalt, Tatsache, dass türkischer Kassationshof das erstbeziehungsweise zweitinstanzliche Urteil als Folge des anzuwendenden Reuegesetzes aufgehoben habe, Strafmass) von einem rechtsstaatlich legitimen Strafverfahren wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation auszugehen sei. Es sei dem Beschwerdeführer nicht gelungen, glaubhaft darzutun, dass die Verurteilungen und Inhaftierungen auf einem durch Folter erzwungenen Geständnis beruhten. Die Ausführungen des Beschwerdeführers hinsichtlich der Folterung in einem Kerker in E. durch die türkischen Sicherheitsbehörden in Anwesenheit von Angehörigen des Islamischen Staates (IS) und der Al-Qaida seien stereotyp und pauschal ausgefallen. Zudem falle auf, dass diese angebliche Folter gegenüber der Psychiaterin mit keinem Wort erwähnt worden sei.

      Indessen sei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer angesichts des ausstehenden Strafvollzugs eine objektiv begründete Furcht habe, bei einer Rückkehr in den Heimatstaat in asylrelevantem Ausmass aus einem in Art. 3 AsylG genannten Grund verfolgt zu werden. Daher erfülle er die Flüchtlingseigenschaft.

      Ausgehend vom insgesamt überwiegend glaubhafteren Sachverhalt, der den türkischen Gerichtsdokumenten entnommen werden könne, stehe fest, dass der Beschwerdeführer für die bewaffneten und zugleich gewaltbereiten (aber nicht als terroristisch zu erachtenden) Organisationen YPG beziehungsweise PKK tätig gewesen sei. Anzeichen für eine Zwangsrekrutierung fehlten, habe der Beschwerdeführer doch angegeben, der Organisation spontan beigetreten zu sein. Da der Beschwerdeführer gemäss den Gerichtsakten eine Waffenausbildung absolviert und nachfolgend Waffen auf sich getragen habe, könne davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer für den bewaffneten Kampf ausgebildet worden sei. Zwar lasse sich den eingereichten Gerichtsdokumenten entnehmen, dass der Beschwerdeführer auch den türkischen Behörden gegenüber angegeben habe, selbst nie an Kämpfen in Syrien und im Irak beteiligt gewesen zu sein, jedoch habe der Beschwerdeführer gegenüber seiner schweizeri-

      schen psychiatrischen Fachperson angegeben, bei der Befreiung einer belagerten Stadt beteiligt gewesen zu sein und dabei auch den Tod von Kameraden miterlebt zu haben. Dies deute darauf, dass der Beschwerdeführer entgegen seinen Beteuerungen an Kampfhandlungen teilgenommen habe. Aus welchen Beweggründen der Beschwerdeführer desertiert habe, lasse sich den eingereichten Akten nicht entnehmen. Die Aussagen des Beschwerdeführers gegenüber der Psychiaterin legten aber nahe, dass der Entschluss (optional) auch auf die allgemeine Gewalttätigkeit des Krieges und auf den allgemeinen Überlebensinstinkt zurückgeführt werden könne und nicht allein auf eine allfällige grundlegende Änderung der politischen Anschauungen beziehungsweise der Identifikation mit dem gewaltsamen Kampf für die kurdische Sache. Im Weiteren habe der Beschwerdeführer beim Attentat auf einen Sicherheitsposten in F. innerhalb der YPG beziehungsweise PKK zwar eine untergeordnete Rolle wahrgenommen; dennoch liessen sich konkrete Aktivitäten nachweisen, die unmittelbar Organisationszwecken, spezifisch das Bereitstellen von operativen Mitteln, gedient hätten (gemäss türkischen Dokumenten Sicherstellung eines Fingerabdrucks des Beschwerdeführers auf einem Antragsformular für ein beim Attentat benutztes Mietfahrzeug, Mithilfe beim Abladen von Proviant, Waffen und Munition). Es könne folglich ein massgeblicher individueller Tatbeitrag des Beschwerdeführers an einer gewaltsamen Aktivität gewaltbereiter und bewaffneter Organisationen festgestellt werden. Zwar sei der Beschwerdeführer, als er von dem konkreten Plan zum Attentat erfahren habe, erneut desertiert und habe die türkischen Sicherheitsbehörden über den geplanten Angriff auf den Polizeiposten telefonisch in Kenntnis gesetzt, indessen stelle sich, da sich der Beschwerdeführer den Behörden nicht freiwillig gestellt habe, die Frage, ob diese Meldung eher aus strategischen Gründen im Hinblick auf ein allfälliges Strafverfahren als aus moralischen Gründen erfolgt sei. Zusammenfassend könne festgehalten werden, dass der Beschwerdeführer den gewaltbereiten YPG und PKK während mehr als fünf Jahren aktiv und in verschiedenster Hinsicht (ungeachtet der Konsequenzen für zivile Drittpersonen) unterstützt habe. Trotz allfälliger Bedenken habe der Beschwerdeführer dennoch die Ziele der Organisationen zuverlässig verfolgt. Folglich habe der Beschwerdeführer massgebliche individuelle Tatbeiträge bezüglich verschiedener verwerflicher Taten gemäss Art. 53 AsylG geleistet, weshalb er asylunwürdig sei. Ebenso erfülle er die Voraussetzungen gemäss der publizierten Praxis des BVGer in Bezug auf den Asylausschluss, da er sich über einen langen Zeitraum überdurchschnittlich mit der Vorgehensweise einer gewaltbereiten Organisation identifiziert habe. Schliesslich sei die Verhältnismässigkeit des Asylausschlusses zu bejahen.

    2. In der Beschwerde wurde geltend gemacht, dass die Vorinstanz den Sachverhalt weder richtig noch vollständig festgestellt und damit den Untersuchungsgrundsatz verletzt habe. Diese formellen Rügen sind vorab zu behandeln, da sie geeignet sein können, eine Kassation der vorinstanzlichen Verfügung zu bewirken.

      1. Gemäss Art. 29 VwVG haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör. Dieser Grundsatz dient einerseits der Aufklärung des Sachverhalts, andererseits stellt er ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht der Partei dar. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt, dass die verfügende Behörde die Vorbringen des Betroffenen tatsächlich hört, sorgfältig und ernsthaft prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt, was sich entsprechend in der Entscheidbegründung niederschlagen muss. Nicht erforderlich ist, dass sich die Begründung mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt (vgl. BVGE 2015/10 E. 3.3, BVGE 2016/9 E. 5.1). Im Asylverfahren gilt – wie in anderen Verwaltungsverfahren – der Untersuchungsgrundsatz (Art. 6 AsylG i.V.m. Art. 12 VwVG). Demnach hat die Behörde von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen, die für das Verfahren notwendigen Unterlagen zu beschaffen, die rechtlich relevanten Umstände abzuklären und ordnungsgemäss darüber Beweis zu führen (vgl. BVGE 2015/10 E. 3.2 m.w.H.).

        Die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts bildet einen Beschwerdegrund (Art. 106 Abs. 1 Bst. b AsylG). Unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn der Verfügung ein falscher und aktenwidriger Sachverhalt zugrunde gelegt wird oder Beweise falsch gewürdigt worden sind; unvollständig ist sie, wenn nicht alle für den Entscheid rechtswesentlichen Sachumstände berücksichtigt werden (vgl. BVGE 2016/2 E. 4.3).

      2. In der Beschwerde wurde geltend gemacht, dass die Einschätzung des SEM bezüglich unglaubhafter Ausführungen zur erlittenen Folter teils auf aktenwidrigen Annahmen beruhe. Dem ärztlichen Zeugnis vom

        19. Februar 2021 sei entgegen den Ausführungen der Vorinstanz zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer mit seiner Psychiaterin sehr wohl über die erlebte Folter gesprochen habe. Konkret stehe darin, dass der Beschwerdeführer angegeben habe, «2015 für ein Jahr ins Gefängnis gekommen zu sein, eine Woche unter schweren Folterungen in Einzelhaft, er habe noch immer Narben von den Schlägen, die Zähne seien ihm gebrochen worden, es sei manchmal ohnmächtig geworden von den Schlägen»

        (vgl. S. 1). Im Weiteren sei dem ärztlichen Bericht zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer psychisch äusserst schwer belastet sei. Er leide an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), einer irreversiblen Änderung der Persönlichkeit nach Extremtraumatisierung, einer dissoziativen Störung und einer mittelgradigen bis schweren depressiven Störung. Diese Diagnosen und die ärztliche Einschätzung müssten zur Interpretation der laut SEM stereotypen und pauschalen Ausführungen zur Folter hinzugezogen werden. Eine Auseinandersetzung mit der offensichtlich schweren psychischen Belastung des Beschwerdeführers fehle im Asylentscheid vollkommen. Dies erstaune umso mehr, als der Beschwerdeführer ganz augenscheinlich eine spezielle Art habe, mit dem Gegenüber zu kommunizieren und psychisch auffällig wirke (zum Beispiel Vermeiden von Blickkontakt, offensichtliche Niedergeschlagenheit). Es bestünden ernsthafte, durch einen Arztbericht bestätigte Hinweise, dass der Beschwerdeführer Opfer von Folter oder massiver Misshandlung geworden sei. Bei solch ernsthaften Hinweisen auf Folter oder massiver Misshandlung gehe die Beweislast auf das SEM über. Sollte die Vorinstanz nach den obigen Ausführungen und unter Einbezug der ärztlichen Beurteilung in die Prüfung der Glaubhaftigkeit der Aussagen weiterhin an der Glaubhaftigkeit der geltend gemachten Vorbringen zweifeln, obliege es derselben, ein Gutachten gemäss Istanbul-Protokoll erstellen zu lassen, welchem gemäss Bundesverwaltungsgericht und internationaler Praxis erhöhter Beweiswert zukomme.

    3. Alle im Detail erwähnten Erwägungen der Vorinstanz hinsichtlich der Frage der Asylunwürdigkeit beruhen auf der Annahme, dass die im Rahmen der Anhörungen geltend gemachten Folterungen des Beschwerdeführers nicht glaubhaft seien. Dabei begnügt sie sich in ihrer Begründung ohne weitere Ausführungen mit der blossen Feststellung, dass die Angaben des Beschwerdeführers stereotyp und pauschal ausgefallen seien, was bereits die Frage der Verletzung der Begründungspflicht aufwirft. Noch schwerer wiegt, dass die Vorinstanz in ihrer weiteren Begründung tatsachenwidrig gegen den Beschwerdeführer ins Feld führt, dass er die angebliche Folter gegenüber seiner Psychiaterin mit keinem Wort erwähnt habe. Vielmehr ist, wie in der Beschwerde zutreffend und detailliert ausgeführt, dass der Beschwerdeführer mit seiner Psychiaterin sehr wohl über die erlebte Folter gesprochen hat. Somit liegt eine unrichtige Feststellung des Sachverhalts beziehungsweise eine falsche Beweiswürdigung durch die beurteilende Behörde vor. Gleichzeitig hat das SEM das ärztliche Zeugnis vom 19. März 2021 bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der geltend gemachten Folter

      nicht berücksichtigt, ja, nicht einmal erwähnt, womit auch eine unvollständige Sachverhaltsfeststellung vorliegt. Folglich wurden auch die darin getroffenen Diagnosen und die ärztliche Einschätzung zur Interpretation der Ausführungen zur Folter nicht berücksichtigt. Eine Auseinandersetzung mit der offensichtlich schweren psychischen Belastung des Beschwerdeführers im Asylentscheid fehlt gänzlich, obwohl ernsthafte, durch einen Arztbericht bestätigte Hinweise vorliegen, dass diese auf Folter oder massiver Misshandlung beruhen, was ein Indiz für die Glaubhaftigkeit der vom SEM in Zweifel gezogenen Vorbringen darstellt.

      Somit steht fest, dass sowohl eine unrichtige als auch eine unvollständige Sachverhaltsfeststellung vorliegt. Die entsprechenden Rügen erweisen sich als offensichtlich begründet.

    4. Gemäss Art. 61 Abs. 1 VwVG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht in der Sache selbst oder weist diese ausnahmsweise mit verbindlichen Weisungen an die Vorinstanz zurück. Eine Kassation und Rückweisung an die Vorinstanz ist insbesondere angezeigt, wenn weitere Tatsachen festgestellt werden müssen und ein umfassendes Beweisverfahren durchzuführen ist. Die in diesen Fällen fehlende Entscheidungsreife kann grundsätzlich zwar auch durch die Beschwerdeinstanz selbst hergestellt werden, wenn dies im Einzelfall aus prozessökonomischen Gründen angebracht erscheint; sie muss dies aber nicht (vgl. BVGE 2012/21 E. 5).

      Vorliegend stellt insbesondere die gänzliche Nichtberücksichtigung des ärztlichen Zeugnisses vom 19. März 2021 bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der geltend gemachten Folter einen augenscheinlichen und schwerwiegenden Mangel dar. Es liegt nicht am Bundesverwaltungsgericht, anstelle der Vorinstanz die notwendigen Schlüsse aus dem Sachverhalt zu ziehen, und es ist auch nicht seine Aufgabe, offensichtliche Versäumnisse des SEM auf Beschwerdeebene zu beheben und damit die Vorinstanz gleichsam von einer sorgfältigen Verfahrensführung zu entbinden, zumal dem Beschwerdeführer durch ein solches Vorgehen eine Instanz verloren ginge. Somit fällt eine Heilung der festgestellten Mängel in der angefochtenen Verfügung nicht in Betracht (vgl. zum Ganzen BVGE 2009/53 E. 7.3).

    5. Bei dieser Sachlage ist die angefochtene Verfügung aus formellen Gründen aufzuheben und die Sache in Anwendung von Art. 61 Abs. 1 VwVG an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese ist anzuweisen, sich bei

der (erneuten) Prüfung der Glaubhaftigkeit der geltend gemachten Folterungen mit der gemäss ärztlichem Zeugnis vom 19. Februar 2021 bestehenden schweren psychischen Belastung des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen und allenfalls weitere erforderliche Abklärungen vorzunehmen. Im Rahmen des vorinstanzlichen Verfahrens wird die Vorinstanz sich darüber hinaus auch mit sämtlichen übrigen, infolge des vorliegenden Verfahrensausgangs offen gelassenen Rügen des Beschwerdeführers vom 29. Dezember 2021 einlässlich zu befassen haben.

7.

Die Beschwerde ist gutzuheissen. Die vorinstanzliche Verfügung vom

3. Dezember 2021 ist aufzuheben und die Sache im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

8.

    1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Verfahrenskosten zu erheben (vgl. Art. 63 Abs. 1 VwVG).

    2. Dem vertretenen Beschwerdeführer ist angesichts seines Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 VGKE eine Entschädigung für die ihm notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen. Entschädigungspflichtig ist nur der notwendige Aufwand. Im mit der Beschwerde eingereichten Kostennote vom 29. Dezember 2021 wird ein zeitlicher Aufwand von insgesamt 11,5 Stunden zu einem Stundenansatz von Fr. 200.- und ein Honorar von Fr. 2’225.- ausgewiesen. Hierzu ist festzuhalten, dass der zeitliche Aufwand von 8 Stunden für das Verfassen der Beschwerde als zu hoch erscheint und auf 4 Stunden reduziert wird. Dies ergibt eine vom SEM zu entrichtende Parteientschädigung von insgesamt Fr. 1'520.- (inklusive Barauslagen).

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit die Aufhebung der angefochtenen Verfügung beantragt wird.

2.

Die angefochtene Verfügung vom 3. Dezember 2021 wird aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4.

Das SEM wird angewiesen, dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 1’520.– zu entrichten.

5.

Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

Der Einzelricher: Der Gerichtsschreiber:

Lorenz Noli Daniel Merkli

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