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Bundesverwaltungsgericht Urteil E-564/2022

Urteilsdetails des Bundesverwaltungsgerichts E-564/2022

Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung V
Dossiernummer:E-564/2022
Datum:02.03.2022
Leitsatz/Stichwort:Asyl und Wegweisung (Mehrfachgesuch/Wiedererwägung)
Schlagwörter : Bundesverwaltungsgericht; Wiedererwägung; Verfügung; Verfahren; Recht; Revision; Urteil; Wiedererwägungsgesuch; Beweismittel; Gesuch; Nichteintreten; Beschwerdeführers; Interpol; Dokument; Haftbefehl; Bundesverwaltungsgerichts; Behandlung; Verfahrens; Türkei; Wegweisung; Schweiz; Flüchtlingseigenschaft; Feststellung; Nichteintretensentscheid; Zuständig; Gewährung; Revisionsgesuch; Zuständigkeit; Vorinstanz
Rechtsnorm: Art. 121 BGG ;Art. 49 BV ;Art. 52 VwVG ;Art. 63 VwVG ;Art. 66 StGB ;Art. 66 VwVG ;Art. 67 VwVG ;Art. 83 AIG ;Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017

Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung V E-564/2022

U r t e i l v o m 2 . M ä r z 2 0 2 2

Besetzung Einzelrichter Lorenz Noli,

mit Zustimmung von Richter Markus König; Gerichtsschreiber Urs David.

Parteien A. , geboren am (…), Türkei,

vertreten durch lic. iur. Bernhard Jüsi, Rechtsanwalt, Advokatur Kanonengasse,

Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Asyl und Wegweisung (Nichteintreten auf Wiedererwägungsgesuch);

Verfügung des SEM vom 31. Januar 2022 / N (…).

Sachverhalt:

A.

Mit am 23. Februar 1990 in Rechtskraft erwachsenem Entscheid vom

24. August 1989 lehnte der damalige Delegierte für das Flüchtlingswesen das erste Asylgesuch des Beschwerdeführers ab.

B.

Am 25. April 1991 reiste der Beschwerdeführer im Rahmen eines Familiennachzugs zwecks Heirat mit einer Schweizer Bürgerin erneut in die Schweiz ein und erhielt 1996 eine Niederlassungsbewilligung.

C.

Am (…) 2015 wurde der Beschwerdeführer in der Schweiz wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz, Hehlerei, Gehilfenschaft zu Diebstahl und mehrfacher Widerhandlung gegen das Waffengesetz sowie Geldwäscherei zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten (teilbedingt vollziehbar, Probezeit drei Jahre) und zu einer unbedingten Geldstrafe von insgesamt Fr. 6'000.– verurteilt.

D.

Mit Verfügung vom (…) 2016 widerrief die Einwohnergemeinde der Stadt

B.

die Niederlassungsbewilligung des Beschwerdeführers und

wies ihn aus der Schweiz weg. Dieser Entscheid wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons B. vom (…) 2018 rechtskräftig.

E.

Am 26. Oktober 2018 reichte der Beschwerdeführer beim SEM schriftlich ein – vor allem mit exilpolitischen Aktivitäten und einer daraus sich ergebenden Verfolgungslage begründetes – zweites Asylgesuch ein.

F.

Am (…) 2020 verurteilte das Regionalgericht C. den Beschwerdeführer unter anderem zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und einer Landesverweisung von zehn Jahren. Dagegen legte der Beschwerdeführer Berufung ein.

G.

Das SEM lehnte das zweite Asylgesuch des Beschwerdeführers vom

26. Oktober 2018 mit Verfügung vom 31. August 2020 unter Verneinung der Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers ab, wies ihn aus der

Schweiz weg und ordnete den Vollzug der Wegweisung – nach Beendigung des Haftvollzugs – an.

H.

Eine am 28. September 2020 gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil E-4829/2020 vom

3. Dezember 2021 ab, soweit sie sich gegen die vorinstanzliche Feststellung der Nichterfüllung der Flüchtlingseigenschaft und die Ablehnung des Asylgesuches richtete. Betreffend die vorinstanzliche Anordnung der Wegweisung und des Wegweisungsvollzuges schrieb das Gericht die Beschwerde infolge Wegfalls des Anfechtungsobjekts als gegenstandslos geworden ab. In letzterem Zusammenhang erwog das Gericht, dass gemäss Art. 32 Abs. 1 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 über Verfahrensfragen (AsylV 1, SR 142.311) die Wegweisung aus der Schweiz insbesondere dann nicht verfügt werde, wenn die asylsuchende Person von einer rechtskräftigen Landesverweisung nach Art. 66a oder 66abis des Strafgesetzbuchs betroffen sei. Mit in Rechtskraft erwachsenem Urteil des Obergerichts des Kantons B. vom (…) 2021 sei gegen den Beschwerdeführer gestützt auf Art. 66a Abs. 1 Bst. o StGB eine obligatorische Landesverweisung von zehn Jahren ausgesprochen worden. Dabei habe das Obergericht das allfällige Vorliegen eines schweren persönlichen Härtefalls oder die einer Landesverweisung allenfalls gegenüberstehenden privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz berücksichtigt und verneint respektive nicht als überwiegend erachtet, ansonsten es von einer Landesverweisung abgesehen hätte (vgl. Art. 66a Abs. 2 StGB). Nachdem das SEM die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers zu Recht verneint habe, sei somit nun die kantonale (Vollzugs-)Behörde für den Entscheid zuständig, ob der Vollzug der Landesverweisung anderen zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts entgegenstehe (vgl. Art. 66d StGB).

I.

Mit Eingabe vom 15. Januar 2022 richtete der Beschwerdeführer ein «Qualifiziertes Gesuch um Wiedererwägung» der Verfügung vom 31. August 2020 an das SEM. Darin beantragte er die Aufhebung dieser Verfügung, die wiedererwägungsweise Gewährung der vorläufigen Aufnahme unter Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft, eventualiter die wiedererwägungsweise Gewährung der vorläufigen Aufnahme unter Feststellung der Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzuges sowie in prozessualer Hinsicht die Vornahme weiterer Abklärungen zu einem in der Türkei gegen ihn geführten Verfahren, die Erteilung aufschiebender Wirkung, die Anordnung

einer vollzugshemmenden vorsorglichen Massnahme sowie den Verzicht auf die Erhebung sowohl von Verfahrenskosten als auch eines Kostenvorschusses.

Das Gesuch begründete er hauptsächlich mit dem Vorliegen eines am

12. Januar 2022 entstandenen und entdeckten Beweismittels in Form eines dasselbe Datum tragenden, von einem zwischenzeitlich mandatierten türkischen Anwalt erhältlich gemachten Auszugs aus dem elektronischen Datensystem von Interpol Türkei. Aufgrund der Datierung und Entdeckung des Dokuments vom 12. Januar 2022 sei die 30-tägige Einreichungsrist nach Art. 111b AsylG (SR 142.31) offensichtlich eingehalten. Aus dem Dokument gehe hervor, dass gegen ihn am (…) 2016 ein nach wie vor gültiger Haftbefehl erlassen worden sei. Damit sei die im ordentlichen zweiten Asylverfahren geltend gemachte Furcht vor Verfolgung nunmehr erstellt. Weil dieses Dokument vom 12. Januar 2022 datiere und somit nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts entstanden sei, erfolge die Geltendmachung des neuen Beweismittels aufgrund der Praxis des Bundesverwaltungsgerichts (BVGE 2013/22, insb. E. 12.3) nicht mittels eines Revisionsgesuchs an das Bundesverwaltungsgericht, sondern mittels eines Wiedererwägungsgesuchs an das SEM. Dieses habe das Gesuch nach den revisionsrechtlichen Bestimmungen von Art. 66-68 VwVG zu beurteilen und gutzuheissen, weil aus dem neuen und erheblichen Dokument die Suche nach ihm durch die türkischen Behörden wegen Unterstützung terroristischer Organisationen ([…]), Störung der verfassungsmässigen Ordnung und Präsidentenbeleidigung hervorgehe. Er habe mithin Anspruch auf Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft oder zumindest der Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzuges und mithin auf Gewährung der vorläufigen Aufnahme. Als Beweismittel gab der Beschwerdeführer das erwähnte Interpol-Dokument mitsamt dem darin enthaltenen Haftbefehl und einem Zustellbeleg aus der Türkei zu den Akten. Ebenso verwies er auf zwei Internetberichte über gefährdete Anwälte in der Türkei zwecks Erklärung, weshalb es derzeit schwierig sei, in der Türkei Anwälte zu finden, die sich für Angelegenheiten wie die vorliegende zu engagieren getrauten.

J.

Mit Begleitschreiben vom 24. Januar 2022 überwies das SEM das Wiedererwägungsgesuch zuständigkeitshalber dem Bundesverwaltungsgericht zur Behandlung als Revisionsgesuch. Die Zuständigkeit des Gerichts begründete es damit, dass mit der Eingabe neue Tatsachen beziehungsweise neue Beweismittel vorgelegt würden, die einen Sachverhalt beschlügen,

mit welchem sich das Bundesverwaltungsgericht bereits im materiellen Urteil E-4829/2020 vom 3. Dezember 2021 auseinandergesetzt habe. Es handle sich mithin um Revisionsgründe und nur das Gericht selber dürfe solche Sachverhalte einer Neubeurteilung unterziehen, wogegen es dem SEM hierfür an der funktionellen Zuständigkeit fehle.

Mit Antwortschreiben vom 26. Januar 2022 (mit Kopie an den Beschwerdeführer) retournierte das Bundesverwaltungsgericht die ihm überwiesene Eingabe vom 15. Januar 2022 dem SEM zur gutscheinenden Behandlung und es schrieb das unter der Nummer E-355/2022 erfasste Geschäft gerichtsintern als gegenstandslos von der Geschäftskontrolle ab. In der Begründung hielt der Instruktionsrichter fest, dass der durch einen im Asylund ausserordentlichen Verfahrensrecht langjährig erfahrenen Rechtsanwalt vertretene Beschwerdeführer explizit ein «qualifiziertes Gesuch um Wiedererwägung» gestellt und dieses konsequenterweise an das für die Behandlung solcher Gesuche zuständige SEM gerichtet habe. Darin rufe er keinen gesetzlichen Revisionstatbestand des BGG (sondern explizit des VwVG) an und er distanziere sich explizit von einer allfälligen vom SEM vorzunehmenden Qualifikation als ein durch das Bundesverwaltungsgericht zu behandelndes Revisionsgesuch. Die Gesuchsanträge seien klar formuliert und darin werde bezeichnenderweise kein in Revision zu ziehendes Urteil, sondern eine in Wiedererwägung zu ziehende Verfügung des SEM genannt. Zudem verweise der Gesuchsteller auf eine Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVGE 2013/22 E. 12.3), die ihn in der Beschreitung des Rechtswegs der Wiedererwägung beim SEM stütze. Eine Person könne denn auch weder gezwungen werden, Partei in einem Verfahren zu werden, das sie explizit nicht zu iniziieren beabsichtige, noch Partei in einem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zu werden, welches sie gar nicht als Revisionsinstanz anzurufen beabsichtige. Erachte sich somit das SEM als für die Behandlung des Gesuchs nicht zuständig, hätte es dies aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts in einem Nichteintretensentscheid festzustellen (vgl. Art. 9 Abs. 2 VwVG). Selbstverständlich sei es dem Beschwerdeführer jederzeit unbenommen, ein nach Massgabe der Art. 121 ff. BGG i.V.m. Art. 45 ff. VGG und Art. 67 Abs. 3 VwVG form-, fristund rechtsgenügliches Revisionsgesuch beim Bundesverwaltungsgericht einzureichen.

K.

Mit Verfügung vom 31. Januar 2022 – eröffnet am 2. Februar 2022 – trat das SEM auf das Wiedererwägungsgesuch vom 15. Januar 2022 unter Erhebung einer Verfahrensgebühr von Fr. 600.– nicht ein.

L.

Gegen diese Verfügung erhob der Beschwerdeführer mit Eingabe vom

4. Februar 2022 beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde. Darin beantragt er die Aufhebung der Verfügung, die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur materiellen Behandlung und die Feststellung einer durch das SEM begangenen Rechtsverweigerung. In prozessualer Hinsicht beantragt er die Anordnung einer vollzugshemmenden vorsorglichen Massnahme, die Erteilung aufschiebender Wirkung, die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung mitsamt Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses und Beiordnung des rubrizierten Rechtsvertreters als unentgeltlichen Rechtsbeistand sowie die Koordination des Verfahrens «mit dem heute sicherheitshalber zur Fristwahrung ebenfalls eingeleiteten Verfahren bezüglich einer eventuellen Revision».

M.

Das Bundesverwaltungsgericht erfasste das vom Beschwerdeführer parallel anhängig gemachte Revisionsverfahren unter der Geschäftsnummer E-565/2022 und ordnete in jenem Verfahren am 4. Februar 2022 als superprovisorische Massnahme einen einstweiligen Vollzugsstopp an, mit Wirkung ebenso für das vorliegende Beschwerdeverfahren.

Zudem separierte das Bundesverwaltungsgericht das mit der vorliegenden Beschwerde gestellte Begehren um Feststellung einer durch das SEM begangenen Rechtsverweigerung aufgrund seiner Eigenschaft als eigenständiger Prozedurtyp zu einem eigenen Verfahren und wies ihm die Geschäftsnummer E-745/2022 zu.

Betreffend diese beiden Verfahren E-565/2022 und E-745/2022 ergehen mit heutigem Datum je einzelrichterliche Nichteintretensentscheide des Bundesverwaltungsgerichts.

N.

Die vorinstanzlichen Akten (inkl. die beigezogenen Akten N 149 086 betreffend das erste Asylgesuch) lagen dem Bundesverwaltungsgericht vollständig am 11. Februar 2022 vor (vgl. Art. 109 Abs. 3 und 7 AsylG).

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Nachdem gemäss Lehre und Praxis Wiedererwägungsentscheide grundsätzlich wie die ursprüngliche Verfügung auf dem ordentlichen Rechtsmittelweg weitergezogen werden können, ist das Bundesverwaltungsgericht für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde zuständig. Es entscheidet auf dem Gebiet des Asyls – in der Regel und auch vorliegend – endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

    2. Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht worden. Der Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 3 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.

    3. Mit dem vorliegenden, instruktionslos ergehenden und verfahrensabschliessenden Direktentscheid in der Sache werden die prozessualen Gesuche um Gewährung der aufschiebenden Wirkung und um Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses hinfällig.

Mit den heute gleichzeitig ergehenden und verfahrensabschliessenden Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts in den Verfahren E-565/2022 (Revision) und E-745/2022 (Rechtsverweigerung) wird ferner dem prozessualen Antrag um Verfahrenskoordination entsprochen.

2.

Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG, im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).

3.

Über offensichtlich begründete Beschwerden wird in einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise

einer zweiten Richterin entschieden (Art. 111 Bst. e AsylG). Wie nachstehend aufgezeigt, handelt es sich um eine solche, weshalb das Urteil nur summarisch zu begründen ist (Art. 111a Abs. 2 AsylG).

Gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG wurde auf die Durchführung eines Schriftenwechsels verzichtet.

4.

    1. Das Wiedererwägungsverfahren ist im Asylrecht spezialgesetzlich geregelt (vgl. Art. 111b ff. AsylG). Ein entsprechendes Gesuch ist dem SEM innert 30 Tagen nach Entdeckung des Wiedererwägungsgrundes schriftlich und begründet einzureichen (Art. 111b Abs. 1 AsylG).

      In seiner praktisch relevantesten Form bezweckt das Wiedererwägungsgesuch die Änderung einer ursprünglich fehlerfreien Verfügung an eine nachträglich eingetretene erhebliche Veränderung der Sachlage (vgl. BVGE 2014/39 E. 4.5 m.w.H.). Falls die abzuändernde Verfügung unangefochten blieb – oder ein eingeleitetes Beschwerdeverfahren mit einem blossen Prozessentscheid abgeschlossen wurde – können auch Revisionsgründe einen Anspruch auf Wiedererwägung begründen (zum sogenannten "qualifizierten Wiedererwägungsgesuch" vgl. BVGE 2013/22

      E. 5.4 m.w.H.). Ein weiterer Anwendungsbereich der Wiedererwägung betrifft die Konstellation, dass die abzuändernde Verfügung beim Bundesverwaltungsgericht angefochten und durch dieses materiell beurteilt wurde, die Revision des Urteils aber ausgeschlossen ist, weil die geltend gemachten Tatsachen und/oder Beweismittel nach dem Urteil entstanden sind (vgl. Art. 123 Abs. 2 Bst. a [in fine] BGG). Für solche Fälle hat das Bundesverwaltungsgericht im Grundsatzentscheid BVGE 2013/22 (vgl. dort E. 12.3) den Rechtsweg via ein beim SEM einzureichendes Wiedererwägungsgesuch ermöglicht.

    2. Die Behörde, die sich als unzuständig erachtet, tritt durch Verfügung auf die Sache nicht ein, wenn eine Partei die Zuständigkeit behauptet (Art. 9 Abs. 2 VwVG).

5.

    1. Zur Begründung seines Nichteintretensentscheids hält das SEM fest, dass es sich beim als Beweismittel vorgelegten Dokument um einen türkischen Haftbefehl vom 15. Juni 2016 handle. Dieser, wie auch die beiden Internetartikel über türkische Anwälte, sei somit entgegen der anderslautenden Behauptung des Beschwerdeführers vor dem Urteil E-4829/2020

      vom 3. Dezember 2021 entstanden und wäre daher im Rahmen eines Revisionsgesuchs beim hierfür zuständigen Bundesverwaltungsgericht geltend zu machen. Weil der rechtsvertretene Beschwerdeführer unmissverständlich die Zuständigkeit des SEM behaupte und sich auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem Schreiben vom 26. Januar 2022 als unzuständig erkläre, trete das SEM mangels funktionaler Zuständigkeit in Anwendung von Art. 9 Abs. 2 VwVG auf das Wiedererwägungsgesuch nicht ein, womit auch die prozessualen Anträge hinfällig würden. Die Verfahrensgebühr stütze sich auf Art. 111d AsylG i.V.m. Art. 7c Abs. 1 AsylV 1.

    2. In seiner Rechtsmitteleingabe hält der Beschwerdeführer fest, dass es sich beim Haftbefehl zwar um ein bereits vor dem Urteil E-4829/2020 vom

3. Dezember 2021 bestandenes und ihm bis dahin nicht bekanntes Sachverhaltselement handle. Der als neues Beweismittel vorgelegte und den Haftbefehl beinhaltende Interpol-Auszug sei aber nach diesem Urteil entstanden, womit ein Revisionsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht ausgeschlossen sei. Das Gericht habe in seinem Schreiben vom 26. Januar 2022 denn auch unter Abstützung auf seine Praxis klargestellt, dass hier keine Revision möglich sei, sondern der Weg der Wiedererwägung beim SEM einzuschlagen sei. Trotz dieses Hinweises sei das SEM auf das Wiedererwägungsgesuch ohne Prüfung des neuen Beweismittels nicht eingetreten. Der Entscheid sei somit aufzuheben und das Verfahren zur materiellen Prüfung an das SEM zurückzuweisen.

Als Beweismittel legt der Beschwerdeführer den erwähnten Interpol-Auszug mitsamt dem darin enthaltenen Haftbefehl erneut vor.

6.

    1. Klarzustellen ist entgegen der Darstellung sowohl des SEM als auch des Beschwerdeführers vorab, dass sich das Bundesverwaltungsgericht in seinem Rücküberweisungsschreiben vom 26. Januar 2022 nicht in erster Linie über die Frage seiner eigenen (Un-) Zuständig für die Behandlung der Eingabe vom 15. Januar 2022 ausgesprochen hat. Vielmehr hat es kein durch sich zu behandelndes Geschäft erkannt und die Auffassung vertreten, dass das SEM, sollte es sich als für die Behandlung des Wiedererwägungsgesuchs weiterhin nicht zuständig erachten, dies gemäss Art. 9 Abs. 2 VwVG in einem Nichteintretensentscheid festzustellen hätte. Der nun angefochtene und auf Art. 9 Abs. 2 VwVG abgestützte Nichteintretensentscheid ist denn auch insoweit nicht zu beanstanden, als das SEM sich für die Behandlung der Eingabe vom 15. Januar 2022 nach wie vor – zu Recht

      oder zu Unrecht hat – nicht zuständig erachtet und keinen Überweisungsbedarf an das Bundesverwaltungsgericht (mehr) erkennt (vgl. dazu z.B. auch das Urteil des BVGer E-6368/2020 vom 28. Januar 2021 E. 6.1). Die Erkenntnis seiner Unzuständigkeit stützt das SEM aber vorliegend auf eine unzutreffende Annahme des prozessualen Sachverhalts: Es betrachtet den Haftbefehl vom (…) 2016 fälschlicherweise als das vom Beschwerdeführer neu geltend gemachte Beweismittel. Der Beschwerdeführer macht indessen unmissverständlich das von ihm als Auszug aus dem elektronischen Datensystem von Interpol Türkei bezeichnete, am 12. Januar 2022 entstandene und entdeckte und auf den (nicht original vorgelegten) Haftbefehl vom (…) 2016 verweisende Dokument als neues Beweismittel geltend, aus welchem nunmehr die bereits im ordentlichen Verfahren geltend gemachte Verfolgungssituation hervorgehen würde. Diese Beweismittelbezeichnung vertritt er seit Einreichung des «qualifizierten Wiedererwägungsgesuchs» konsequent und bestätigt dies in der vorliegenden Beschwerde. Auch im parallel beim Bundesverwaltungsgericht eingereichten Revisionsgesuch vom 4. Februar 2022 hält er wiederholt daran fest, dass es sich beim Dokument vom 12. Januar 2022 um das neue Beweismittel handle und dieses somit neu entstanden und nicht erst nachträglich aufgetaucht sei. Das Revisionsgesuch reiche er denn auch einzig als Eventualgesuch zur Vermeidung prozessualer Risiken und zur vorsorglichen Fristwahrung ein. Es ist nicht Sache der Asylbehörde, einem Gesuchsteller ein anderes als das von ihm geltend gemachte Beweismittel anzumassen.

      Nachdem aufgrund vorstehender Erwägungen somit festzustellen ist, dass der Beschwerdeführer in seinem Gesuch vom 15. Januar 2022 ein neu entstandenes, vom 12. Januar 2022 datierendes Interpol-Dokument statt einen vorbestandenen, aber erst nachträglich entdeckten Haftbefehl vom (…) 2016 geltend macht, ergibt sich entsprechend der vom Beschwerdeführer zutreffend erwähnten und in BVGE 2013/22 (dort E. 12.3) publizierten Grundsatzpraxis die Zuständigkeit des SEM für die Beurteilung des qualifizierten Wiedererwägungsgesuchs. Die in der angefochtenen Verfügung vom SEM vorgenommene Begründung des Nichteintretensentscheids mit seiner Unzuständigkeit ist daher aufgrund dieser klargestellten prozessualen Sachlage zumindest für die hauptsächlich beantragte wiedererwägungsweise Feststellung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig und die Sache ist an das zuständige SEM zur Neubeurteilung zurückzuweisen.

    2. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das SEM für die Behandlung des Wiedererwägungsgesuchs zuständig ist und der vorliegend angefochtene, mit der Unzuständigkeit des SEM begründete Nichteintretensentscheid aufzuheben ist. Die Sache ist daher an das zuständige SEM zurückzuweisen zur Neubeurteilung des Wiedererwägungsgesuchs.

Ein erneuter Nichteintretensentscheid, indessen aus einem anderen Grund als der Unzuständigkeit des SEM, ist dabei nicht zum vornherein ausgeschlossen. Für das Bundesverwaltungsgericht stellen sich in diesem Zusammenhang denn auch verschiedene Fragen: Wäre es dem Beschwerdeführer bei Anwendung der zumutbaren Sorgfalt und in Berücksichtigung der ihm obliegenden, umfassenden Mitwirkungspflicht nach Art. 8 AsylG nicht möglich gewesen, bereits während der Dauer des ordentlichen zweiten Asylverfahrens – oder allenfalls sogar vorher – sich um einen Auszug aus dem elektronischen Datensystem von Interpol Türkei zu bemühen (vgl. Art. 66 Abs. 3 VwVG)? Und würde ihn bejahendenfalls das allfällige Vorliegen offensichtlicher völkerrechtlicher Wegweisungsvollzugshindernisse (vgl. dazu BVGE 2013/22 E. 9.3 u.H.a. Entscheidung und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission EMARK 1995/9 E. 7) dennoch schadlos halten? Ebenso hat das Bundesverwaltungsgericht gewisse Fragezeichen hinsichtlich der Behauptung des Beschwerdeführers, wonach es sich beim vorliegend zentralen, in deutscher Sprache verfassten und angeblich von einem türkischen Anwalt erhältlich gemachten Beweisdokument vom 12. Januar 2022 tatsächlich um einen Auszug aus dem elektronischen Datensystem der Internationalen kriminalpolizeilichen Organisation «Interpol» handelt, denn das auf dem Stempel verwendete Logo entspricht offensichtlich nicht jenem dieser internationalen Organisation und Deutsch ist nicht eine der vier offiziellen Interpol-Sprachen. Womöglich mehr als bloss denkbar könnte vorliegend die Annahme sein, bei

«D. » handle es sich schlicht um ein türkisches Übersetzungsbüro (vgl. https://www.[...].com [besucht am 20. Februar 2022]). Schliesslich ist zwar unbestritten, dass eine verfügte Feststellung des Nichtbestehens der Flüchtlingseigenschaft grundsätzlich wiedererwägungsfähig ist. Für das Bundesverwaltungsgericht stellt sich aber für den hypothetischen Fall, dass der Beschwerdeführer bei der Neubeurteilung durch das SEM in den Genuss der wiedererwägungsweise gewährten Flüchtlingseigenschaft käme, die (Eintretens-)Frage, ob diese Wiedererwägungsfähigkeit vorliegend auch für den Antrag auf wiedererwägungsweise Gewährung der vorläufigen Aufnahme gälte. Art. 83 Abs. 9 AIG und die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil E-4829/2020 vom 3. Dezember 2021 zu

Art. 32 Abs. 1 AsylV 1 und Art. 66a ff. StGB (vgl. oben Bst. H.) scheinen nicht darauf hinzudeuten.

7.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung den rechtserheblichen Sachverhalt nicht richtig und vollständig feststellt und Bundesrecht verletzt. Die Beschwerde ist betreffend die in der Hauptsache gestellten Anträge betreffend Aufhebung der angefochtenen Verfügung und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung gutzuheissen.

8.

    1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG).

    2. Dem vertretenen Beschwerdeführer ist angesichts seines Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom

      21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine Entschädigung für die ihm notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen.

      Der Rechtsvertreter präsentiert in seiner der Beschwerde beigelegten Honorarnote einen Zeitaufwand von 3.70 Stunden bei einem Stundenansatz von Fr. 300.– und dazu Auslagen im Betrag von Fr. 31.80. Der ausgewiesene Zeitaufwand für das Abfassen der sechsseitigen Beschwerde erscheint noch knapp im angemessenen Bereich. Gestützt auf die in Betracht zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 8-13 VGKE) ist dem Beschwerdeführer zu Lasten der Vorinstanz eine Parteientschädigung im anbegehrten Umfang von insgesamt Fr. 1'229.70 (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuerzuschlag im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Bst. c VGKE) zuzusprechen.

    3. Die Gesuche um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und um Beiordnung des rubrizierten Rechtsvertreters als unentgeltlichen Rechtsbeistand werden damit hinfällig.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2.

Die angefochtene Verfügung wird aufgehoben und Sache geht zur Neubeurteilung zurück an das SEM.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.

4.

Das SEM wird angewiesen, dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 1'229.70 auszurichten.

5.

Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.

Der Einzelrichter: Der Gerichtsschreiber:

Lorenz Noli Urs David

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