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Bundesverwaltungsgericht Urteil D-1070/2020

Urteilsdetails des Bundesverwaltungsgerichts D-1070/2020

Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung IV
Dossiernummer:D-1070/2020
Datum:31.01.2022
Leitsatz/Stichwort:Erlöschen des Asyls
Schlagwörter : Flüchtling; Flüchtlingseigenschaft; Recht; Verzicht; Gesuch; Schweiz; Verfügung; Verzichts; Urteil; Eingabe; Asyls; Verzichtserklärung; Akten; Feststellung; Wille; Verfahren; Wiedereinsetzung; Ausländer; Grundlage; Vorinstanz; Reise; Erlöschen; Asylgesuch; Sinne; Bundesverwaltungsgericht; Willen; Reiseausweis
Rechtsnorm: Art. 23 OR ;Art. 24 OR ;Art. 29 OR ;Art. 48 VwVG ;Art. 52 VwVG ;Art. 57 VwVG ;Art. 63 VwVG ;Art. 64 VwVG ;Art. 65 VwVG ;Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:124 III 5; 136 III 528; 143 III 65; 144 I 11; 144 III 264
Kommentar:
-

Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung IV D-1070/2020

U r t e i l v o m 3 1 . J a n u a r 2 0 2 2

Besetzung Richterin Nina Spälti Giannakitsas (Vorsitz), Richterin Gabriela Freihofer,

Richter Gérard Scherrer, Gerichtsschreiberin Sara Steiner.

Parteien A. , geboren am (…), Sri Lanka,

vertreten durch MLaw Roman Schuler, Rechtsanwalt, Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Verzicht auf Asyl und Flüchtlingseigenschaft (Gesuch um Wiedereinsetzung);

Verfügung des SEM vom 23. Januar 2020 / N (…).

Sachverhalt:

A.

Der Beschwerdeführer ersuchte am 18. Oktober 2012 um Gewährung von Asyl in der Schweiz. Mit Verfügung vom 28. August 2014 stellte das damalige Bundesamt für Migration (BFM; heute: SEM) fest, er erfülle die Flüchtlingseigenschaft, und gewährte ihm Asyl in der Schweiz.

B.

Nach der erfolgten Asylgewährung wurde dem Beschwerdeführer eine ausländerrechtliche Aufenthaltsbewilligung erteilt, welche Bestand hat. Auf sein Gesuch hin wurde ihm sodann ein Schweizer Reiseausweis ausgestellt. Dieser Ausweis wäre noch bis zum 12. November 2019 gültig gewesen. Der Beschwerdeführer gelangte am 10. Oktober 2019 über das Migrationsamt des Kantons B. ans SEM und ersuchte um Ausstellung eines neuen Ausweises.

C.

Nur eine Woche später gelangte der Beschwerdeführer direkt an die Vorinstanz, wobei er dem SEM in seiner Eingabe vom 17. Oktober 2019 unter dem Titel "Rückzug Asylgesuch/Aufenthaltsbewilligung gemäss Ausländerrecht" und Untertitel "Betreffend: Asylgesuch vom 18. Oktober 2012" sowie unter Vorlage einer Fotokopie seiner ausländerrechtlichen Aufenthaltsbewilligung das Folgende mitteilte (Hervorhebungen gemäss Eingabe):

"Zur Untermauerung unseres Gesuches ich möchte Ihnen die folgenden Angaben machen und mein Asylgesuch zurückziehen gleichzeitig ich bitte Sie gemäss Ausländerrecht mit Aufenthaltsbewilligung weiterhin in der Schweiz Bleiben zu dürfen.

Ich bin in der Schweiz ein anerkannter Flüchtling und seit 2012 ich in der Schweiz und zurzeit ich besitze eine Aufenthaltsbewilligung B

Aus privaten Gründen ich möchte mein Asylgesuch zurückziehen und ich möchte mit Ausländerrecht mit Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz in der Schweiz bleiben

Aus oben genanntem Grund hiermit ziehe ich mein Asylgesuch zurück, damit ich mit Ausländerrecht und Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz Bleiben kann.

Mein Reiseausweis ist bereits beim SEM Zweck Verlängerung liegt. Ausweisschriften mir zurück senden.

Ich bitte Sie mir bestätigen.

Wir bitten Sie um Ihr Verständnis Mit freundlichen Grüssen [eigenhändige Unterschrift]

A.

Beilage: Reiseausweis liegt Zweck Verlängerung beim SEM"

D.

Diese Eingabe wurde vom SEM als Erklärung betreffend den Verzicht auf das Asyl und die Flüchtlingseigenschaft entgegengenommen. Dementsprechend bestätigte das SEM dem Beschwerdeführer mit Feststellungsverfügung vom 20. November 2019 (eröffnet am 21. November 2019) das Folgende: Er habe mit Schreiben vom 17. Oktober 2019 mitgeteilt, dass er aus privaten Gründen auf das ihm in der Schweiz gewährte Asyl und seine Flüchtlingseigenschaft verzichte. Gemäss Art. 64 Abs. 1 Bst. c AsylG (SR 142.31) erlösche das Asyl in der Schweiz, wenn der Flüchtling darauf verzichte. Das SEM nehme von seinem freiwilligen Verzicht Kenntnis. Diese Erklärung bedeute, dass er künftig nicht mehr dem AsylG unterstehe, sondern den für ausländische Personen in der Schweiz geltenden Bestimmungen des Ausländerund Integrationsgesetzes (AIG; SR 142.20). Nach diesen Ausführungen stellte das SEM zuhanden des Beschwerdeführers förmlich fest, dass das ihm gewährte Asyl erloschen sei und er nicht mehr als Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30) gelte. Im Anschluss daran stellte das SEM ebenso fest, dass der ihm gestützt auf die FK ausgestellte Reiseausweis eingezogen werden müsse, da er der FK nicht mehr unterstehe. Der Reiseausweis befinde sich [jedoch] bereits bei den Akten. Mit der Feststellungsverfügung wurde dem Beschwerdeführer der von ihm anlässlich der Gesucheinreichung eingereichte Geburtsregisterauszug zurückgegeben.

E.

Im Zeitpunkt des Erlasses der Feststellungsverfügung hatte das SEM allerdings den am 10. Oktober 2019 ersuchten neuen Schweizer Reiseausweis bereits an den Beschwerdeführer verschickt. Vor diesem Hintergrund verfügte das SEM am 22. November 2019 zusätzlich die Rückgabe des neuen Reiseausweises. Dieser Entscheid wurde dem Beschwerdeführer am 25. November 2019 eröffnet, worauf er den neuen Reiseausweis noch am gleichen Tag beim Migrationsamt des Kantons B. zurückgab.

F.

Am 19. Dezember 2019 gelangte der Beschwerdeführer – handelnd durch den rubrizierten Rechtsvertreter respektive dessen Substitutin und vorab per Telefax – ans SEM, wobei er dringend um Gewährung von Akteneinsicht ersuchte. Im Anschluss daran fand zwischen den Parteien ein Austausch statt, in welchem das SEM die Rechtsvertretung auf die Möglichkeit der Einreichung eines Gesuches um Wiedereinsetzung in den früheren Rechtszustand verwies (vgl. dazu die Akten).

G.

Am 23. Dezember 2019 gelangte der Beschwerdeführer – wiederum handelnd durch seine Rechtsvertretung – mit einer Eingabe unter dem Titel "Gesuch um Feststellung des Asyls und der Flüchtlingseigenschaft" ans SEM, in der er um Wiedereinsetzung des Zustandes vor Erlass der [Feststellungs-]Verfügung vom 20. November 2019 ersuchte. In seiner Eingabe beantragte er die vollumfängliche Aufhebung sowohl der [Feststellungs-]- Verfügung vom 20. November 2019 (1.) als auch der Verfügung vom

  1. November 2019 betreffend seinen Reiseausweis (2.), verbunden mit der Feststellung, dass seine Flüchtlingseigenschaft und das ihm gewährte Asyl immer noch bestehe (3.), eventualiter die erneute Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft und eine erneute Gewährung von Asyl (4.), subeventualiter den Erlass einer beschwerdefähigen Verfügung (5.). In prozessualer Hinsicht ersuchte er darum, seinem Gesuch die aufschiebende Wirkung zu erteilen, wie auch darum, das Migrationsamt des Kantons B. unverzüglich vorsorglich anzuweisen, von jeglichen Vollzugshandlungen Abstand zu nehmen (6.).

    Im Rahmen seiner Gesucheingabe macht der Beschwerdeführer nach Bekräftigung seiner aus dem Asylverfahren bekannten Gesuchsgründe zur Hauptsache geltend, bei seiner Eingabe vom 17. Oktober 2019 habe es sich nicht um eine formell gültige Asylverzichtserklärung im Sinne von Art. 64 Abs. 1 Bst. c AsylG gehandelt. Die Eingabe sei zunächst in einer äusserst unbeholfenen Form und schlechtem Deutsch, mithin von einer offensichtlich rechtsund sprachunkundigen Person verfasst worden. Auch habe er in dem Schreiben gar nicht formuliert, dass er auf seine Flüchtlingseigenschaft oder sein Asyl verzichte. In seiner Eingabe habe er vielmehr lediglich erwähnt, dass er sein Gesuch zurückziehen wolle, was aber rechtlich gar nicht mehr möglich sei. Damit könne seine Erklärung von vornherein keine rechtliche Wirkung entfalten. Das Schreiben vom 17. Oktober 2019 sei zudem äusserst unklar formuliert. So dränge sich gar der

    Verdacht auf, dass er mit dieser Eingabe vielmehr auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung abgezielt habe. Vor dem Hintergrund dieser Umstände hätte das SEM zwingend abklären müssen, was sein wahrer Wille sei. Das sei zu Unrecht unterblieben. Nach diesen Ausführungen machte der Beschwerdeführer geltend, er sei darüber hinaus auch gar nicht urteilsfähig gewesen, als er die Eingabe eingereicht habe. Er habe sich nämlich in einem psychischen Ausnahmezustand befunden, da er zu jenem Zeitpunkt davon ausgegangen sei, seine einzige noch lebende Verwandte liege im Sterben. In diesem Zusammenhang sei seine psychische Vorgeschichte zu berücksichtigen, mithin gerade auch die Diagnosen gemäss dem bei den Akten liegenden Bericht vom 12. Oktober 2013, wonach er an einer ernsthaften und schweren depressiven Episode und einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten habe. Schliesslich sei er gerade auch deshalb in den früheren Rechtszustand wiedereinzusetzen, da im Zusammenhang mit dem Schreiben vom 17. Oktober 2019 vom Vorliegen eines rechtserheblichen [Erklärungs-]Irrtums auszugehen sei. Es sei nämlich nie seine Absicht gewesen, auf seine Flüchtlingseigenschaft zu verzichten. Er habe sich vielmehr in einer Notlage befunden und lediglich darum ersuchen wollen, als Flüchtling ausnahmsweise in seine Heimat zurückkehren zu können, um seine kranke Tante zu besuchen. Zum gewählten Vorgehen sei ihm von einem Bekannten geraten worden, ohne dass ihm (dem Beschwerdeführer) die Rechtsfolge klar gewesen wäre. Schliesslich sie ihm aufgrund seiner mangelnden Deutschkenntnisse auch der Inhalt seines Schreibens gar nicht klar gewesen. In dem Sinne sei sein Fall ganz ähnlich gelagert wie der im BVGer-Urteil D-6909/2006 vom 19. August 2008 beurteilte Sachverhalt. Sein Irrtum sei schliesslich als wesentlich zu qualifizieren, da er sein Schreiben nie so eingereicht hätte, wäre er sich der Rechtsfolgen bewusst gewesen. Da er sich weiterhin vor einer Rückkehr nach Sri Lanka fürchte, habe er tatsächlich gar keine Schritte in Richtung der Organisation einer Reise in die Heimat unternommen. Damit sei auch das objektive Kriterium für die Annahme eines wesentlichen Irrtums erfüllt.

    Für die weiteren Ausführungen in der Eingabe vom 23. Dezember 2019 (Begründung des Eventualantrages) kann auf die Akten verwiesen werden.

    H.

    Vom SEM wurde diese Eingabe als Gesuch um Wiedereinsetzung in den früheren Rechtszustand entgegengenommen und das Gesuch mit Verfügung vom 23. Januar 2020 (eröffnet am 24. Januar 2020) abgelehnt, weil aufgrund der Aktenlage nicht davon auszugehen sei, dass sich der Be-

    schwerdeführer bei Abgabe seiner Erklärung vom 17. Oktober 2019 in einem wesentlichen Irrtum – mithin einem Grundlagenirrtum – befunden habe. Für die vorinstanzliche Begründung im Einzelnen kann, soweit nicht nachfolgend darauf eingegangen wird, auf die Akten verwiesen werden.

    I.

    Gegen diesen Entscheid erhob der Beschwerdeführer am 24. Februar 2020 – handelnd durch seine Rechtsvertretung – Beschwerde. In seiner Eingabe beantragte er die Aufhebung der angefochtenen Verfügung (1.) und Rückweisung der Sache zur rechtsgenüglichen Sachverhaltsabklärung und neuem Entscheid (2.), eventualiter sei festzustellen, dass seine Flüchtlingseigenschaft und das ihm gewährte Asyl immer noch bestehe, und die Vorinstanz zur Wiedereinsetzung in den früheren Rechtszustand anzuweisen (3.), subeventualiter sei die Vorinstanz anzuweisen, ein neues Asylverfahren durchzuführen, wobei seine Flüchtlingseigenschaft erneut festzustellen und ihm erneut Asyl zu gewähren respektive festzustellen sei, dass der Wegweisungsvollzug unzulässig und unzumutbar sei (4.). In prozessualer Hinsicht ersuchte er um Erteilung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde, nach vorsorglicher Anordnung vollzugshemmender Massnahmen (5.), sowie um Befreiung von der Kostenvorschusspflicht und Ausrichtung einer Parteientschädigung (6.).

    Auf die Beschwerdebegründung wird – soweit wesentlich – nachfolgend eingegangen.

    J.

    Mit Zwischenverfügung vom 2. März 2020 wurde das Gesuch um Befreiung von der Kostenvorschusspflicht abgewiesen, weil der Beschwerdeführer gemäss Aktenlage nicht bedürftig sei. Gleichzeitig wurde er zur Zahlung eines Kostenvorschusses innert Frist aufgefordert, unter Androhung des Nichteintretens im Unterlassungsfall (Art. 63 Abs. 4 VwVG).

    Am 17. März 2020 ersuchte der Beschwerdeführer um eine wiedererwägungsweise Aufhebung dieser Zwischenverfügung, weil sich seine finanziellen Verhältnisse in der Zwischenzeit zufolge Verlust seiner Arbeitsstelle massgeblich verschlechtert hätten. Gleichzeitig reichte er ein nachträgliches Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege (im Sinne von Art. 65 Abs. 1 VwVG) ein.

    Der Beschwerdeführer wurde in der Folge aufgefordert, innert Frist vollständige Angaben zu seinen gesamten Einkommensund Vermögensverhältnissen zu machen und entsprechende Belege nachzureichen (vgl. Zwischenverfügung vom 4. Mai 2020). Dieser Aufforderung kam er mit Eingabe vom 18. Mai 2020 nach, wobei er gleichzeitig ein nachträgliches Gesuch um Gewährung der amtlichen Verbeiständung (nach Art. 102m Abs. 1 AsylG [SR 142.31]) einreichte.

    Mit Zwischenverfügung vom 16. Juni 2020 wurde dem nachträglichen Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege entsprochen und auf die Erhebung des einverlangten Kostenvorschusses verzichtet. Auch dem nachträglichen Gesuch um amtliche Verbeiständung wurde entsprochen. Dabei wurde dem Beschwerdeführer antragsgemäss der rubrizierte Rechtsvertreter beigeordnet. Das SEM wurde sodann zur Vernehmlassung eingeladen (Art. 57 Abs. 1 VwVG).

    K.

    Im Rahmen seiner Vernehmlassung vom 14. August 2020 hielt das SEM an der angefochtenen Verfügung fest. Auf den Inhalt der vorinstanzlichen Vernehmlassung wird – soweit wesentlich – nachfolgend eingegangen.

    L.

    Nachdem er zur Replik eingeladen worden war, hielt der Beschwerdeführer mit Eingabe seiner Rechtsvertretung vom 26. August 2020 an der Beschwerde fest. Auf den diesbezüglichen Inhalt der Replikeingabe wird

    • soweit wesentlich – nachfolgend eingegangen. Mit der Replik wurde eine Kostennote der Rechtsvertretung zu den Akten gereicht. Gleichzeitig wurden die Angaben zur Einkommenssituation des Beschwerdeführers aktualisiert.

      Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

      1.

        1. Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher

          zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – und so auch vorliegend – endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

        2. Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

        3. Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht worden (Art. 108 Abs. 6 AsylG; Art. 52 Abs. 1 VwVG). Der Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung; er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist daher – unter Vorbehalt der nachfolgenden Erwägung – einzutreten.

      Der Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ergibt sich aus jenem der angefochtenen Verfügung. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet daher einzig die Frage, ob das SEM das Gesuch um Wiedereinsetzung in den früheren Rechtszustand zu Recht abgelehnt hat. Materielle Fragen dazu, ob der Beschwerdeführer aufgrund seines persönlichen Hintergrundes nach wie vor die Flüchtlingseigenschaft erfüllt und ob er von daher Anspruch auf eine (erneute) Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft und Asylgewährung hat, sind demgegenüber nicht zu prüfen. Daher ist auf das Subeventualbegehren nicht einzutreten, mit dem der Beschwerdeführer für den Fall eines Unterliegens in der Hauptsache verlangt, dass das Gericht das SEM anzuweisen habe, seine Flüchtlingseigenschaft festzustellen und ihm Asyl zu gewähren, eventualiter das SEM anzuweisen habe, wegen Unzulässigkeit und Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges seine vorläufige Aufnahme in der Schweiz anzuordnen (vgl. dazu auch die diesbezügliche Begründung [Beschwerde, Ziff. 3.3]).

      2.

        1. Im Rahmen seiner Beschwerdeeingabe beantragt der Beschwerdeführer die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz, weil das SEM seinen Anspruch auf das rechtliche Gehör verletzt habe. Diese formelle Rüge ist vorab zu behandeln, da sie gegebenenfalls zu einer Kassation der Verfügung führen könnte.

        2. Gemäss Art. 29 VwVG haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör, welches als Mitwirkungsrecht alle Befugnisse umfasst, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt

          wirksam zur Geltung bringen kann (vgl. BGE 144 I 11 E. 5.3; BVGE 2009/35 E. 6.4.1 mit Hinweisen). Mit dem Gehörsanspruch korreliert die Pflicht der Behörden, die Vorbringen tatsächlich zu hören, ernsthaft zu prüfen und in ihrer Entscheidfindung angemessen zu berücksichtigen (vgl. BGE 143 III 65 E. 5.2).

          Der Beschwerdeführer macht unter Bezugnahme darauf geltend, sein Anspruch auf das rechtliche Gehör sei verletzt, weil sich das SEM in der angefochtenen Verfügung lediglich mit der Frage nach dem Vorliegen eines Grundlagenirrtums auseinandergesetzt habe. Damit hätten seine weiteren Begehren und diesbezüglichen Vorbringen – namentlich dazu, dass gar kein formell gültiger Asylverzicht vorgelegen habe, dass er auch urteilsunfähig gewesen sei und sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden habe – keine Auseinandersetzung erfahren. Auch habe das SEM seinen neuen Asylantrag mit keinem Wort erwähnt. Der Umstand, dass sich das SEM mit all dem nicht auseinandergesetzt habe, wiege besonders schwer, weil das SEM schon im Vorfeld seiner Feststellungsverfügung notwendige Abklärungsmassnahmen unterlassen habe.

        3. Aufgrund der Aktenlage ist festzustellen, dass diese Rügen nicht zu überzeugen vermögen. So hat das SEM im Rahmen der angefochtenen Verfügung zunächst alle für eine allfällige Wiedereinsetzung potentiell relevanten Gesuchsvorbringen ausgewiesen (vgl. Verfügung des SEM vom

  2. Januar 2020, S. 1 dritter Absatz und S. 2 erster Absatz). Alleine der Umstand, dass es an dieser Stelle den Eventualantrag des Beschwerdeführers betreffend die erneute Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft und eine erneute Gewährung von Asyl nicht erwähnt hat, schadet nicht, da das SEM an dieser Stelle vorab und zugleich auch einzig über das Gesuch um Wiedereinsetzung in den früheren Rechtszustand zu entscheiden hatte. In diesem Sinne weist das SEM im Rahmen seiner Vernehmlassung zu Recht darauf hin, dass sich die Frage nach der Prüfung des neuen Asylgesuches nicht stellt, solange betreffend das Gesuch um Wiedereinsetzung noch kein rechtskräftiger Entscheid vorliegt. Dem hat der Beschwerdeführer in seiner Replikeingabe nichts entgegnet. In seiner Entscheidbegründung ist das SEM sodann auf die Vorbringen des Beschwerdeführers eingegangen, wobei es sich in seiner Erwägungen zur Sache mit diesen in genügender Weise auseinandergesetzt hat. Dem SEM ist kein Vorhalt zu machen, dass es sich dabei schwergewichtig mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob sich der Beschwerdeführer – wie von ihm geltend gemacht

  • auf einen Grundlagenirrtum berufen könne. Das SEM hat nämlich in diesem Zusammenhang zugleich mit hinreichender Deutlichkeit ausgewiesen,

    dass es die anderen Vorbringen des Beschwerdeführers – zum einen jenes betreffend das angebliche Nicht-Vorliegen einer rechtsgültigen Verzichtserklärung und zum andern jenes über dessen angebliche Urteilsunfähigkeit

  • als bloss vorgeschoben erachtet (vgl. a.a.O., S. 2 letzter Absatz).

    1. Nach dem Gesagten können die Vorbringen betreffend eine angebliche Verletzung des Anspruchs auf das rechtliche Gehör nicht überzeugen. Da im Weiteren auch sonst kein Grund ersichtlich ist, der eine Rückweisung der Sache an die Vorinstanz als angezeigt erscheinen liesse, ist das entsprechende Begehren abzuweisen.

3.

    1. Gemäss Art. 64 Abs. 1 Bst. c AsylG erlischt das Asyl in der Schweiz, wenn die Flüchtlinge darauf verzichten. Das Erlöschen von Asyl setzt damit zunächst eine entsprechende Verzichtserklärung und ausserdem, wie jede Handlung, die rechtliche Wirkungen herbeiführen soll, die Urteilsfähigkeit des Erklärenden voraus (vgl. hierzu BVGer E-7456/2015 vom 2. Februar 2016 E. 3.1). Die Verzichtserklärung selbst ist grundsätzlich unwiderruflich und bedingungsfeindlich. Der Beweggrund des Verzichts ist dabei irrelevant (vgl. BVGer D-1221/2021 vom 23. August 2021 E. 3.1 m.w.H.).

    2. Im Rahmen seiner materiellen Beschwerdevorbringen macht der Beschwerdeführer geltend, er habe mit dem Schreiben vom 17. Oktober 2019 keine Verzichtserklärung bezüglich Asyl oder Flüchtlingseigenschaft abgegeben. Da es kein laufendes Asylverfahren mehr gegeben habe, könne die Aussage, er ziehe sein Asylgesuch zurück, keine Wirkung entfalten. Es fehle also bereits an einer ausdrücklichen Verzichtserklärung. Ausserdem müsse von der Urteilsunfähigkeit des Beschwerdeführers im Zeitpunkt des Verfassens des Schreibens ausgegangen werden und schliesslich sei jedenfalls vom Vorliegen eines rechtserheblichen Grundlagenirrtums auszugehen.

4.

    1. Da der Beschwerdeführer bestreitet, überhaupt eine Verzichtserklärung bezüglich seines Asylstatus oder der Flüchtlingseigenschaft ausgesprochen zu haben, ist zunächst auf diese Frage einzugehen. Dabei drängt sich jedoch eine Differenzierung zwischen Asyl und Flüchtlingseigenschaft auf.

    2. Art. 64 AsylG regelt das Erlöschen des Asyls im Absatz 1 und das Erlöschen von Asyl und Flüchtlingseigenschaft im Absatz 3. Da also im Absatz 1 – im Gegensatz zum Absatz 3 des gleichen Artikels – allein vom

      Erlöschen des Asyls und nicht auch der Flüchtlingseigenschaft die Rede ist, stellt sich zunächst die Frage, ob sich der Verzicht im Sinne von Art. 64 Abs. 1 Bst. c AsylG tatsächlich auch auf die Flüchtlingseigenschaft beziehen kann.

    3. Art. 64 ist in seinem Wortlaut grundsätzlich klar, indem er in Abs. 1 ausdrücklich und einzig vom Erlöschen des Asyls spricht. Es ist denn auch im Zusammenhang mit Bst. e des Abs. 1 – anders als beim Verzicht – unbestrittene Praxis, dass das Erlöschen bei Landesverweisung nach StGB o- der MStG allein das Asyl betrifft (vgl. etwa E-4976/2021 vom 9. Dezember 2021 E. 5.1 und D-1594/2021 vom 15. April 2021). Auch aufgrund der Systematik ist zu schliessen, dass der Gesetzgeber sich in Abs. 1 nur auf das Erlöschen des Asyls, nicht aber der Flüchtlingseigenschaft bezieht, wird letzteres doch explizit im Abs. 3 geregelt. Art. 63 AsylG differenziert sodann ebenfalls klar, indem er in Abs. 1 von Asylwiderruf oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft spricht, in Abs. 2 hingegen lediglich vom Asylwiderruf. Vor diesem Hintergrund scheint fraglich, ob Art. 64 Abs. 1 Bst. c AsylG überhaupt als gesetzliche Grundlage für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft herangezogen werden kann.

    4. Klarheit ergibt sich auch nicht aufgrund der Materialien. In der Botschaft zur Asylgesetzesrevision vom 26. Juni 1998 wurde der Erlöschensgrund des Verzichts auf das Asyl mit Verweis auf eine Verfahrensvereinfachung bei gewünschten Heimatreisen explizit aufgenommen. Von einem Verzicht auf die Flüchtlingseigenschaft war nicht die Rede. Immerhin aber ist ja gerade die Heimatreise unter bestimmten Bedingungen ein Widerrufsgrund für Asyl und Flüchtlingseigenschaft. Die Bestimmung trat am 1. Oktober 1999 in Kraft, ohne dass sie im Rahmen der parlamentarischen Beratungen nochmals Gegenstand von Diskussionen geworden wäre (vgl. BBl 1996 II 77 und Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 2000 Nr. 25).

    5. Das Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30) sieht einen freiwilligen Verzicht ebenfalls nicht vor und spricht lediglich vom Widerruf bei freiwilliger Unterschutzstellung gegenüber dem Heimatland (vgl. Art. 1 C. Ziff. 1 FK), welche einen Kontakt mit diesem voraussetzt (vgl. BVGE 2017 VI/11, E. 4.3).

    6. Demgegenüber schreibt das SEM in seinem Handbuch Asyl und Rückkehr, der Verzicht gemäss Art. 64 Abs. 1 Bst. c AsylG könne sich auch auf die Flüchtlingseigenschaft beziehen (vgl. ebd., Artikel E6, Die Beendigung

      des Asyls und die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, 2.2.3 Verzicht,

      S. 13), und handhabt dies auch regelmässig so in seiner Praxis. Dabei verweist es auf das Handbuch des UNHCR über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. Rz 116, in seiner Auflage aus dem Jahre 1979, welche aber mit der Neuauflage aus dem Jahr 2013 übereinstimmt). Dort steht geschrieben: «Die Beendigungsklauseln sind ihrem Wesen nach „negativ“ und sind erschöpfend aufgezählt. Sie sollten daher restriktiv ausgelegt werden, und es dürfen keine anderen Gründe analog zur Rechtfertigung der Zurücknahme des Flüchtlingsstatus herangezogen werden. Wünscht jedoch ein Flüchtling aus irgendeinem Grund, nicht mehr länger als Flüchtling angesehen zu werden, so besteht keine Veranlassung, ihm weiterhin Flüchtlingsstatus und internationalen Schutz zu gewähren.» Dies hat insofern eine gewisse Logik, als die Flüchtlingseigenschaft ja auch nur auf Gesuch hin und nicht etwa von Amtes wegen zuerkannt wird. Auf der anderen Seite plädiert das UNHCR für eine restriktive Auslegung beziehungsweise verweist auf die abschliessende Aufzählung.

    7. In der Lehre wird denn auch klar unterschieden zwischen der Beendigung des Asyls einerseits und der Flüchtlingseigenschaft andererseits, wobei im Zusammenhang mit Art. 64 Abs. 1 Bst. c AsylG stets nur von der Beendigung des Asyls die Rede ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Handbuch zum Asylund Wegweisungsverfahren, 3. Auflage, 2021,

      S. 248 ff. und dabei insbesondere die Aufstellung auf S. 253; Migrationsrecht, Caroni, Scheiber, Preisig, Zoeteweij, 4. Auflage, 2018, S. 477 ff.; CESLA AMARELLE, in : Code annoté du droit des migrations, vol. IV : Loi sur l’asile [LAsi], art. 64 LAsi, p. 468 ff.). Einzig Stöckli schreibt im Zusammenhang mit den Beendigungsverfahren, diese würden mit Ausnahme des Verzichts auf das Asyl (und gegebenenfalls auf die Anerkennung als Flüchtling) von Amtes wegen eingeleitet (vgl. Ausländerrecht, Eine umfassende Darstellung der Rechtsstellung von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz, 2. Auflage, 2009, Rz. 11.160).

    8. Eine abschliessende Klärung der Frage, ob Art. 64 Abs. 1 Bst. c AsylG als gesetzliche Grundlage für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft herangezogen werden kann, kann im vorliegenden Verfahren aber letztlich unterbleiben. Zweifellos müsste ein entsprechender Verzicht nämlich explizit erklärt werden. Allein aufgrund des Verzichts auf das Asyl (vgl. dazu nachfolgend) kann aufgrund der vorstehenden Erwägungen und der restriktiven Handhabung von Erlöschungsgründen nicht automatisch auf den Verzicht des Flüchtlingsstatus geschlossen werden. Eine solche Verzichtserklärung in Bezug auf die Flüchtlingseigenschaft fehlt jedoch vorliegend.

In seiner Erklärung vom 17. Oktober 2019 hat der Beschwerdeführer nicht auf den Flüchtlingsstatus verzichtet und stets nur von Asyl gesprochen. Auch der Hinweis auf den Verbleib in der Schweiz gemäss Ausländerrecht lässt keinen anderen Schluss zu, zumal Flüchtlinge als vorläufig Aufgenommene dem Ausländerrecht unterstehen. Das SEM ist damit in seiner Feststellungsverfügung zu Unrecht davon ausgegangen, der Beschwerdeführer habe auf die Flüchtlingseigenschaft verzichtet und hat das Gesuch um Wiedereinsetzung in die Flüchtlingseigenschaft dementsprechend diesbezüglich zu Unrecht abgewiesen.

5.

Der Beschwerdeführer stellt sich sodann auf den Standpunkt, aus seinem Schreiben liesse sich auch kein Verzicht auf das Asyl ableiten, zumal er einzig den Rückzug des Asylgesuches und damit nicht den Asylverzicht erkläre.

Diese Argumentation vermag das Gericht jedoch weder mit Blick auf die klare Form der Eingabe vom 17. Oktober 2019 noch mit Blick auf deren tatsächlich absolut schlüssigen Aussagegehalt zu überzeugen. Angesichts dessen, dass der Beschwerdeführer mehrfach betont, er wünsche fortan einen Aufenthalt in der Schweiz gemäss Ausländerrecht und deshalb das

«Asylgesuch zurückziehe», ist zu schliessen, dass er tatsächlich auf seinen Asylstatus verzichten wollte. Zwar ist die Formulierung technisch tatsächlich falsch, dies führt das Gericht aber auf die schlechten Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers zurück und nicht darauf, dass er nicht auf das ihm gewährte Asyl verzichten wollte. In diesem Zusammenhang ist die Schlussfolgerung des SEM, der Beschwerdeführer habe mit der Eingabe vom 17. Oktober 2019 auf seinen Asylstatus verzichten wollen, zu stützen.

6.

    1. Weiter ist zu prüfen, ob der Beschwerdeführer, wie geltend gemacht, im Zeitpunkt der Verzichtserklärung nicht urteilsfähig war. Der Begriff der Urteilsfähigkeit enthält einerseits ein intellektuelles Element, nämlich die Fähigkeit, Sinn, Zweckmässigkeit und Wirkungen einer bestimmten Handlung zu erkennen, und andererseits ein Willensbzw. Charakterelement, nämlich die Fähigkeit, gemäss dieser vernünftigen Erkenntnis nach seinem freien Willen zu handeln. Urteilsfähigkeit ist relativ: Sie ist nicht abstrakt zu beurteilen, sondern konkret bezogen auf eine bestimmte Handlung im Zeitpunkt ihrer Vornahme unter Berücksichtigung ihrer Rechtsnatur und Wichtigkeit (vgl. D-1221/2021 vom 23. August 2021

      E. 4.2 m.H.a. BGE 144 III 264 E. 6.1.1; 134 II 235 E. 4.3.2). Bei psychi-

      schen Störungen gilt, dass ein solcher Zustand allein noch nicht die Urteilsfähigkeit ausschliesst. Die Relativität der Urteilsfähigkeit kann es selbst Personen, die in ihrer verstandesgemässen Einsicht stark eingeschränkt sind, erlauben, gewisse rechtserhebliche Handlungen zu verstehen und somit rechtsgültig zu handeln (vgl. D-1221/2021 vom 23. August 2021

      E. 4.3.3 m.H.a. ROLAND FANKHAUSER, in: GEISER/FOUNTOULAKIS [Hrsg.],

      Basler Kommentar zum Zivilgesetzbuch I, Art.1–456 ZGB, 6. Auflage, 2018, N 5 und 29 zu Art. 16 ZGB und BGE 124 III 5 E. 1a).

    2. Das Vorbringen einer Urteilsunfähigkeit wurde vom SEM in seiner Verfügung im Wesentlichen als bloss vorgeschoben behandelt. Betreffend die Urteilsunfähigkeit verwies der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde insbesondere auf seinen schlechten Gesundheitszustand und auf einen neuen Arztbericht vom 18. Februar 2020. Das SEM hielt in seiner Vernehmlassung fest, angesichts dessen, dass der Beschwerdeführer im Oktober 2019 auf das Asyl verzichtet habe, im November 2019 wie verlangt den Flüchtlingspass zurückgegeben habe, aber erst im Dezember 2019 die Wiedereinsetzung in den früheren Rechtszustand beantragt habe, müsse er sich während gut zwei Monaten in einem urteilsunfähigen Zustand befunden haben. Zudem sei die diagnostizierte Posttraumatische Belastungsstörung nicht mit einem Zustand der Urteilsunfähigkeit gleichzusetzen.

    3. Im Sinne obiger Rechtsprechung sind die Erwägungen des SEM zu bestätigen. Selbst bei Vorliegen einer vorübergehenden psychischen Störung kann noch nicht auf die Urteilsunfähigkeit des Beschwerdeführers in Bezug auf die Verzichtserklärung geschlossen werden. Angesichts des kritischen Gesundheitszustands der einzigen und wichtigen familiären Bezugsperson ist seine Verzweiflung nachvollziehbar, indes lässt diese allein noch nicht eine daraus resultierende Urteilsunfähigkeit in Bezug auf die fragliche Handlung rechtfertigen. Zudem gilt es darauf hinzuweisen, dass der ärztliche Bericht aus dem Jahr 2013 stammt und eine Urteilsunfähigkeit sechs Jahre später nur schwerlich zu belegen vermag. Daran ändert auch die Aufnahme einer psychiatrischen Therapie im Anschluss an die Ereignisse und ein entsprechender äusserst kurz gehaltener Arztbericht aus dem Jahr 2020 nichts.

7.

    1. Gemäss der immer noch Gültigkeit beanspruchenden Praxis der Schweizerischen Asylrekurskommission (ARK) sowie des Bundesverwal-

      tungsgerichts sind bei der Prüfung der materiellen Begründetheit des Gesuchs um Wiedereinsetzung in den früheren Rechtszustand wegen Willensmängeln die einschlägigen vertragsrechtlichen Grundsätze des OR sinngemäss anzuwenden (vgl. EMARK 1993 Nr. 5 E. 4a und 1996 Nr. 33

      E. 5). Die in Art. 23 ff. OR aufgezählten Willensmängeltatbestände – Irrtum (Art. 23 ff. OR), absichtliche Täuschung (Art. 28 OR) und Furchterregung (Art. 29 f. OR) –, die vor allem Verträge betreffen, sind auch auf einseitige Rechtsgeschäfte anwendbar. Auch wenn die Ausübung eines Gestaltungsrechts – im zu beurteilenden Fall eine Verzichtserklärung – nicht beliebig widerrufen werden kann, so darf doch die Ungültigkeitserklärung eines solchen Rechtsakts aufgrund eines Willensmangels nicht von Vornherein ausgeschlossen werden. Vorausgesetzt wird, dass einerseits für die sich auf Willensmängel berufende Partei schwerwiegende Nachteile auf dem Spiel stehen und andererseits die Rechtssicherheit nicht in unannehmbarer Weise beeinträchtigt wird (vgl. zum Ganzen Urteil des BVGer D-1221/2021 vom 23. August 2021 E. 5.3 m.w.H.).

      Ein wesentlicher Irrtum liegt u.a. dann vor, wenn er einen bestimmten Sachverhalt betrifft, der vom Irrenden nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr als eine notwendige Grundlage des Vertrags betrachtet wurde (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR, sog. Grundlagenirrtum respektive qualifizierter Motivirrtum). Vorausgesetzt wird damit nebst einem Irrtum als solchem, dass dieser einen Sachverhalt beschlägt, der für den Irrenden subjektiv eine unerlässliche Voraussetzung dafür war, den Vertrag überhaupt oder jedenfalls mit dem betreffenden Inhalt abzuschliessen. Der fragliche Sachverhalt muss ausserdem auch objektiv, vom Standpunkt oder nach den Anforderungen des loyalen Geschäftsverkehrs als notwendige Grundlage des Vertrags erscheinen (vgl. Urteil des BVGer D-1221/2021 vom 23. August 2021 E. 5.4 m.H.a. BGE 136 III 528 E. 3.4.1 m.w.H.).

    2. Das SEM führte in seiner Verfügung aus, zwar handle es sich beim Beschwerdeführer um eine rechtsunkundige Person, er habe sich aber – wenn auch in etwas mangelhaftem Deutsch – mit einer konkreten Aussage an das SEM gewandt. Zudem befinde er sich seit bald acht Jahren in der Schweiz und es sei davon auszugehen, dass er den Inhalt des Schreibens auch verstanden habe. So sei auch davon auszugehen, dass er sich mit den Konsequenzen auseinandergesetzt habe. Mit der Formulierung, dass er gemäss Ausländerrecht mit Aufenthaltsbewilligung weiterhin in der Schweiz bleiben möchte, werde dies bestärkt.

      In der Beschwerde wiederholt der Beschwerdeführer im Wesentlichen seine aus der Gesucheingabe bekannten diesbezüglichen Vorbringen, ohne inhaltlich weiter auf die Erwägungen in der angefochtenen Verfügung einzugehen.

    3. Der Beschwerdeführer gelangte von sich aus an das SEM und erklärte schriftlich den Verzicht auf seinen Asylstatus. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass er sich einen Sachverhalt vorgestellt hätte, welcher nicht der Realität entsprach, und sich damit bei der Willensbildung – dem Entschluss zum Verzicht auf das Asyl – von einer falschen Vorstellung leiten liess. Sein vorgebrachter Einwand, wonach er angenommen habe, dass er mit seinem Schreiben an die Vorinstanz um eine Niederlassungsbewilligung beziehungsweise darum ersuche, ausnahmsweise in seine Heimat zurückkehren zu können, findet in den Akten keine Stütze. Der Beschwerdeführer machte in der Verzichtserklärung vom 17. Oktober 2019 auch keine Angaben zu seinen Beweggründen. Der Grund des Verzichts auf das Asyl ist dabei aber ohnehin irrelevant und ein eventueller Irrtum darüber nicht als Grundlagenirrtum zu erachten (vgl. hierzu Urteil des BVGer D-1221/2021 vom 23. August 2021 E. 5.4.1 m.w.H.). Überdies gilt es zu beachten, dass der Beschwerdeführer in seinem Gesuch insgesamt drei Mal explizit den Wunsch äusserte, sein Asylgesuch zurückzuziehen. Vor diesem Hintergrund kann schwerlich von einem Grundlagenirrtum ausgegangen werden. Damit unterscheidet sich der vorliegende Fall auch massgeblich vom in der Beschwerde zitierten Urteil D-6909/2006 vom 19. August 2008. Zudem fällt ins Gewicht, dass der Beschwerdeführer erst am

      19. Dezember 2019 – mithin einen Monat später – auf die Verfügung des SEM vom 20. November 2019 reagierte, mit welcher dieses das Erlöschen des Asyls festgestellt hatte, und zwischenzeitlich seinen Reisepass zurückgegeben hatte. Dass der Beschwerdeführer gemäss seinen Angaben noch keine Vorbereitungshandlungen zur Ausreise getroffen habe, vermag angesichts des Gesagten in der Sache nichts zu ändern.

    4. Im vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt ist auch kein Erklärungsirrtum gemäss Art. 24 Abs. 1 Ziff. 1–3 OR auszumachen. Ein solcher umfasst den Fall, in welchem der innere Wille des Erklärenden nicht mit seiner Willensäusserung übereinstimmt, sich der Erklärende also in der Ausdrucksbedeutung seiner eigenen Erklärungshandlung täuscht. Gemäss Art. 8 ZGB trägt der Beschwerdeführer die Beweislast bezüglich der Frage, ob sein Wille tatsächlich mit der von ihm unterzeichneten Erklärung übereinstimmte. Da es sich bei einem Willensmangel in der Regel um ein Phänomen in der Vorstellung der betroffenen Person handelt, dürfen dabei zwar

      keine zu strengen Anforderungen an den Nachweis gestellt werden (vgl. dazu Urteil des BVGer D-1221/2021 vom 23. August 2021 E. 5.4.2 m.w.H.). In casu spricht aber bereits der relativ klare und unmissverständliche Wortlaut der Erklärung vom 17. Oktober 2019 gegen das Vorliegen eines Erklärungsirrtums. Damit kann der Beschwerdeführer nicht den Nachweis erbringen, er hätte sich bezüglich der Tragweite seiner Erklärung in einem Irrtum befunden. Insbesondere kann nach dem Gesagten auch ein mit dem Vorbringen, er habe die Verzichtserklärung mangels Deutschkenntnisse unterschrieben, ohne den Wortlaut verstanden zu haben, sinngemäss geltend gemachter Erklärungsirrtum nicht geglaubt werden. Der Beschwerdeführer hält sich bereits seit Oktober 2012 in der Schweiz auf und war auch davor offenbar in der Lage, schriftlich mit der Vorinstanz zu kommunizieren, ohne dass es dabei zu Verständigungsschwierigkeiten kam (vgl. beispielsweise die Korrespondenz bezüglich Ausstellung eines Flüchtlingspasses). Soweit schliesslich vorgebracht wurde, dass der Beschwerdeführer mit Hilfe eines Bekannten die Verzichtserklärung geschrieben habe, ohne den darin enthaltenen Inhalt genau erfasst zu haben, ist von einer reinen Schutzbehauptung auszugehen.

    5. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer sich bei der Abgabe der Verzichtserklärung vom 17. Oktober 2019 weder auf einen wesentlichen Grundlagennoch auf einen Erklärungsirrtum berufen kann und dieser somit nicht mit einem Willensmangel behaftet ist.

8.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Beschwerde gutzuheissen ist, soweit sie die Frage des Verzichts auf die Flüchtlingseigenschaft betrifft. Sie ist demgegenüber abzuweisen, soweit sie die Frage des Asylverzichts betrifft.

9.

    1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten dem Beschwerdeführer teilweise aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Nachdem mit Zwischenverfügung vom 16. Juni 2020 das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung im Sinne von Art. 65 Abs. 1 VwVG gutgeheissen worden ist und aufgrund der Akten nicht von einer massgeblichen Veränderung seiner finanziellen Verhältnisse auszugehen ist, sind ihm keine Verfahrenskosten aufzuerlegen.

    2. Dem teilweise obsiegenden Beschwerdeführer ist in Anwendung von Art. 64 Abs. 1 VwVG sowie Art. 7 des Reglements vom 21. Februar 2008

über die Kosten und Entschädigungsfolgen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE; SR 173.320.2] für die ihm notwendigerweise erwachsenen Parteikosten eine reduzierte Parteientschädigung zuzusprechen. Die übrigen Kosten sind dem mit Zwischenverfügung vom 16. Juni 2020 als amtlicher Rechtsbeistand eingesetzten Rechtsvertreter als Honorar durch das Bundesverwaltungsgericht auszurichten. Dieser ist unbesehen des Ausgangs des Verfahrens zu entschädigen, soweit dieser sachlich notwendig war (vgl. Art. 12 i.V.m. Art. 8 Abs. 2 VGKE). Der Rechtsvertreter reichte mit Eingabe vom 26. August 2020 eine aktualisierte Kostennote zu den Akten, die einen Vertretungsaufwand von 10.36 Stunden zu einem Stundenansatz von Fr. 300.– und Auslagen in der Höhe von Fr. 44.40 (zuzüglich Mehrwertsteuerzuschlag) ausweist. Der Stundenansatz ist in Bezug auf das Honorar zu kürzen, da bei amtlicher Vertretung in der Regel von einem Stundenansatz von Fr. 200.– bis Fr. 220.– für Anwältinnen und Anwälte ausgegangen wird (Art. 12 i.V.m. Art. 10 Abs. 2 VGKE). Nach dem Gesagten ist gestützt auf Art. 14 Abs. 2 VGKE und in Anwendung der massgebenden Bemessungsfaktoren (vgl. Art. 12 i.V.m. Art. 8 ff. VGKE) die von der Vorinstanz zu entrichtende Parteientschädigung auf insgesamt (gerundet) Fr. 1700.– und das durch das Bundesverwaltungsgericht auszurichtende Honorar auf insgesamt (gerundet) Fr. 1250.– (beide inklusive Auslagen und Mehrwertsteuerzuschlag) festzusetzen.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit sie die Frage der Flüchtlingseigenschaft betrifft. Der Beschwerdeführer gilt weiterhin als Flüchtling im Sinne der FK.

2.

Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit sie die Frage des Asylverzichts betrifft.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4.

Das SEM hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung in der Höhe von Fr. 1700.– zu entrichten.

5.

Dem amtlichen Rechtsbeistand wird vom Bundesverwaltungsgericht ein amtliches Honorar in der Höhe von Fr. 1250.– zugesprochen.

6.

Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:

Nina Spälti Giannakitsas Sara Steiner

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