Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung IV |
Dossiernummer: | D-3338/2021 |
Datum: | 29.07.2021 |
Leitsatz/Stichwort: | Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren) |
Schlagwörter : | Beschwerde; Beschwerdeführende; Beschwerdeführenden; Kinder; Recht; Deutschland; Dublin; Verfahren; Mitgliedstaat; Asylgesuch; Behörde; Gehör; Dublin-III-VO; Verfügung; Überstellung; Behörden; Bundesverwaltungsgericht; Gesundheit; Rechtsvertretung; Sachverhalt; Vollzug; Probleme; Urteil; Staat; Vorinstanz |
Rechtsnorm: | Art. 12 KRK ;Art. 29 BV ;Art. 29 VwVG ;Art. 30 VwVG ;Art. 33 EMRK ;Art. 63 VwVG ;Art. 65 VwVG ;Art. 83 AIG ;Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | 124 II 361; 124 III 90; 143 III 65; 144 I 11 |
Kommentar: | - |
Abteilung IV D-3338/2021
Besetzung Richterin Nina Spälti Giannakitsas (Vorsitz),
Richterin Regula Schenker Senn, Richter Gérard Scherrer, Gerichtsschreiber Linus Sonderegger.
Parteien A. , geboren am (…), und ihre Kinder
alle vertreten durch MLaw Michèle Angst, Rechtsschutz für Asylsuchende, Bundesasylzentrum Region Zürich,
(…),
Beschwerdeführende,
gegen
Vorinstanz.
Gegenstand Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren);
Verfügung des SEM vom 7. Juli 2021 / N (…).
Gemäss eigenen Angaben verliessen die Beschwerdeführenden ihren Heimatstaat im Jahre 2013 und suchten am 18. Juni 2021 in der Schweiz um Asyl nach. Die Abklärungen des SEM ergaben, dass sie am 31. Dezember 2013 in Italien, am 9. Januar 2014 in Österreich und am 4. April 2014 in Deutschland um Asyl ersucht haben.
Anlässlich der Befragung vom 29. Juni 2021 wurde den Beschwerdeführenden das rechtliche Gehör zu einem allfälligen Nichteintretensentscheid und der Möglichkeit einer Überstellung nach Deutschland gewährt, welches gemäss Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (nachfolgend: Dublin-III-VO), grundsätzlich für die Behandlung ihres Asylgesuchs zuständig sei.
Anlässlich der Befragung setzte das SEM den Beschwerdeführenden eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme zum Gesundheitszustand von B. , welche am 5. Juli 2021 eingereicht wurde. Am selben Tag reichten sie einen ärztlichen Bericht betreffend C. ein.
Am 30. Juni 2021 ersuchte das SEM die deutschen Behörden um Übernahme der Beschwerdeführenden gemäss Art. 18 Abs. 1 Bst. d Dublin-IIIVO. Diesem Gesuch wurde am 5. Juli 2021 entsprochen.
Mit Verfügung vom 7. Juli 2021 (eröffnet am 13. Juli 2021) trat das SEM in Anwendung von Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG (SR 142.31) auf die Asylgesuche der Beschwerdeführenden nicht ein und verfügte die Wegweisung nach Deutschland sowie den Vollzug.
Diese Verfügung fochten die Beschwerdeführenden mit Eingabe ihrer Rechtsvertreterin vom 20. Juli 2021 beim Bundesverwaltungsgericht an. Sie beantragten die Aufhebung der angefochtenen Verfügung. Auf das
Asylgesuch sei einzutreten. Eventualiter sei die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht beantragten sie die Gewährung der aufschiebenden Wirkung und der unentgeltlichen Prozessführung sowie die superprovisorische Aussetzung des Vollzugs.
Der Beschwerdeschrift lagen ein Arztbericht vom (…) 2021 betreffend B. sowie einer vom (…) 2021 betreffend A. bei.
Am 22. Juli 2021 setzte das Bundesverwaltungsgericht den Vollzug einstweilen aus.
Die vorinstanzlichen Akten lagen dem Bundesverwaltungsgericht am
22. Juli 2021 in elektronischer Form vor (vgl. Art. 109 Abs. 3 AsylG).
Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – und so auch vorliegend – endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).
Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).
Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht worden. Die Beschwerdeführenden haben am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, sind durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und haben ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Sie sind daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 3 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
Bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, mit denen es das SEM ablehnt, das Asylgesuch auf seine Begründetheit hin zu überprüfen (Art. 31a Abs. 1–3 AsylG), ist die Beurteilungskompetenz der Beschwerdeinstanz grundsätzlich auf die Frage beschränkt, ob die Vorinstanz zu Recht auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 3.1; 2012/4 E. 2.2, je m.w.H.).
Auf die Durchführung eines Schriftenwechsels wurde verzichtet (Art. 111a Abs. 1 AsylG).
Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsuchende in einen Drittstaat ausreisen können, der für die Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist (Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG). Zur Bestimmung des staatsvertraglich zuständigen Staates prüft das SEM die Zuständigkeitskriterien gemäss Dublin-III-VO. Führt diese Prüfung zur Feststellung, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylgesuchs zuständig ist, tritt das SEM, nachdem der betreffende Mitgliedstaat einer Überstellung oder Rücküberstellung zugestimmt hat, auf das Asylgesuch nicht ein (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 6.2).
Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in jenem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2012/C 326/02, nachfolgend: EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen, ist zu prüfen, ob aufgrund dieser Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Kann kein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden, wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat (Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO).
Der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist verpflichtet, einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dessen Antrag abgelehnt wurde und der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Massgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen (Art. 18 Abs. 1 Bst. d Dublin-III-VO).
5.1 Die Beschwerdeführenden rügen eine unrichtige Feststellung des Sachverhalts verbunden mit einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, des Untersuchungsgrundsatzes und des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (KRK, SR 0.107) sowie eine Verletzung der Begründungspflicht. Das SEM habe trotz der Hinweise auf massive medizinische Probleme sowie ausstehende ärztliche Untersuchungen die Wegweisung verfügt. Es wäre zumindest gehalten gewesen, entsprechende Berichte abzuwarten. Das SEM habe ferner das Kindeswohl bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Insbesondere hinsichtlich des Beschwerdeführers C. wäre das SEM aufgrund des Kindeswohls verpflichtet gewesen, nach Eingang des Notfallberichts der Kinderklinik E. , welcher eine Suizidalität sowie in Deutschland erlebte Gewalt erwähne, vertiefte Abklärungen zu tätigen. Dabei hätte es ihm die Möglichkeit bieten müssen, sich direkt oder über die Rechtsvertretung Gehör zu verschaffen. Die Kinderklinik habe eine Gefährdungsmeldung an die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde gemacht, was wiederum auf eine Gefährdung des Kindeswohls hindeute. Das SEM setze sich mit den aktenkundigen psychischen Leiden nicht explizit auseinander.
Der Untersuchungsgrundsatz gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des Asylverfahrens (vgl. Art. 12 VwVG i.V.m. Art. 6 AsylG). Demnach hat die Behörde von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Sie muss die für das Verfahren notwendigen Sachverhaltsunterlagen beschaffen und die rechtlich relevanten Umstände abklären sowie ordnungsgemäss darüber Beweis führen. Dieser Grundsatz gilt indessen nicht uneingeschränkt, sondern findet sein Korrelat in der aus Art. 13 VwVG und Art. 8 Abs. 1 AsylG fliessenden Mitwirkungspflicht des Asylsuchenden (vgl. BVGE 2012/21
E. 5.1). Der in diesem Zusammenhang ebenfalls zu beachtende Grundsatz des rechtlichen Gehörs, der in Art. 29 Abs. 2 BV verankert und in den Art. 29 ff. VwVG für das Verwaltungsverfahren konkretisiert wird, dient ei-
nerseits der Aufklärung des Sachverhalts, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht der Parteien dar. Gemäss Art. 30 Abs. 1 VwVG hört die Behörde die Parteien an, bevor sie verfügt (vgl. BVGE 2011/37 E. 5.4.1).
Gemäss Art. 12 Abs. 1 KRK, welcher unmittelbar anwendbar ist (vgl. BGE 124 III 90 E. 3a), sichern die Vertragsstaaten dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äussern. Aus Art. 12 Abs. 2 KRK fliesst die Pflicht, ein Kind in entsprechenden Gerichtsoder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften anzuhören. Eine genauere Ausgestaltung, wann ein Kind selbst angehört werden muss, fehlt in der Konvention jedoch und ist grundsätzlich der Umsetzung durch die Vertragsstaaten überlassen. Ob das Kind sich selbst äussern möchte, oder dies mittels Vertretung geschehen soll, soll das Kind in der Regel jedoch selbst entscheiden (vgl. SCHMAHL, Kinderrechtskonvention, Handkommentar, 2. Aufl. 2017, N 16 zu Art. 12 mit Hinweis auf CRC, General Comment No. 12, CRC/C/GC/12, 2009, Ziff. 35). Ferner betont der UN-Kinderrechtsausschuss (Committe on the Rights of the Child – CRC) in seiner Rechtsprechung, dass die Pflicht zur Anhörung keine Altersgrenze kenne (vgl. CRC, Entscheid V.A. gegen die Schweiz vom
28. September 2020, CRC/C/85/D56/2018, Ziff. 7.3). Die Kinderrechtskonvention statuiert folglich keinen absoluten Anspruch auf direkte Anhörung von Kindern, sondern sieht die Möglichkeit explizit vor, den eigenen Standpunkt mittels Vertretung einzubringen. Die Frage, wie den vom Verfahren betroffenen Kindern das rechtliche Gehör zu gewähren ist, ist folglich aufgrund der Umstände des Einzelfalles zu klären (vgl. BGE 124 II 361 E. 3c).
Vorliegend ist festzuhalten, dass weder C. noch D. angehört oder zumindest angefragt worden sind, ob sie sich persönlich o- der indirekt über die Mutter oder die Rechtsvertretung äussern möchten. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass der Beschwerdeführerin A. und der Rechtsvertretung im Dublin-Gespräch vom 29. Juni 2021 eröffnet wurde, dass die beiden jüngsten Kinder C. und D. nicht persönlich angehört werden. Gleichzeitig wurde ihnen die Gelegenheit eröffnet, allfällige Gründe anzugeben, welche direkt die Kinder betreffen, woraufhin sie sich zu den kindsspezifischen Gründen geäussert haben. Die Aufforderung zur Äusserung ging folglich nicht nur an die Mutter, sondern auch an die Rechtsvertretung, wodurch einerseits möglichen Interessen-
konflikten zwischen der Mutter und ihrer Kinder sowie der Gefahr einer Instrumentalisierung Abhilfe verschafft worden ist. Anderseits gehört es auch zu den Aufgaben der Rechtsvertretung, sicherzustellen, dass die für das Kindeswohl relevanten Aspekte ins Verfahren einfliessen (vgl. SCHÖNHOLZER, Das Recht auf Einbezug und Anhörung von begleiteten Kindern im Dublin Verfahren, Asyl 1/2021, S. 23). Dies setzt – wie vorliegend geschehen – eine Information darüber voraus, ob eine Anhörung der Kinder stattfindet, oder die entsprechenden Informationen auf andere Weise respektive schriftlich ins Verfahren einzubringen sind.
Da die Aufforderung, mögliche persönliche Einwände der Kinder einzubringen, sowohl an die Mutter als auch an die professionelle Rechtsvertretung gerichtet wurde, und die Rechtsvertretung in der Folge hinsichtlich den Ge-
sundheitszustand von C.
eine ergänzende Eingabe eingereicht
hat, ist davon auszugehen, dass beiden Kindern hinreichend Möglichkeit eingeräumt wurde, sich wirksam zu äussern. Zu beachten ist dabei, dass auch in der Beschwerdeschrift auf die Möglichkeit des rechtlichen Gehörs über die Rechtsvertretung verwiesen wurde. Nicht zuletzt darf nicht vergessen werden, dass eine direkte Befragung zu möglicherweise nachteiligen Erlebnissen für ein Kind eine grosse psychische Belastung darstellen kann (vgl. dazu SCHMAHL, a.a.O., N 7 zu Art. 12). Dies hat in Anbetracht des fragilen psychischen Zustands insbesondere für den Beschwerdeführer C. zu gelten. Auch vor diesem Hintergrund scheint das Vorgehen des SEM, den beiden jüngsten Kindern das rechtliche Gehör nur über ihre Vertretung zu gewähren, als gerechtfertigt.
Die Beschwerdeführenden A. und B. wurden in ihren Dublin-Gesprächen explizit zum Gesundheitszustand befragt. Letzterer wurde zusätzlich die Möglichkeit eingeräumt, innert Frist eine schriftliche Stellungnahme einzureichen, was sie mit Eingabe vom 5. Juli 2021 auch getan hat.
Das SEM hat den Beschwerdeführenden somit hinreichend Gelegenheit geboten, ihren Standpunkt sowie die gesundheitlichen Probleme ins Verfahren einzubringen. Ferner hat es die Gründe, weshalb die Untersuchung der Beschwerdeführerin B. nicht abgewartet werde, in der Verfügung explizit ausgeführt und stellt sich mit dieser antizipierenden Beweiswürdigung – wie nachfolgende Erwägungen zeigen werden – zu Recht auf den Standpunkt, dass der Sachverhalt liquide erstellt ist. Eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes respektive des rechtlichen Gehörs ist
daher, auch unter Berücksichtigung der Kinderrechtskonvention, zu verneinen.
Gemäss Art. 29 VwVG haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör (vgl. BGE 144 I 11 E. 5.3; BVGE 2009/35 E. 6.4.1). Mit dem Gehörsanspruch korreliert die Pflicht der Behörden, ihre Entscheide zu begründen. Die Begründung muss dabei so abgefasst sein, dass sie eine sachgerechte Anfechtung ermöglicht. Nicht erforderlich ist, dass sich die Begründung mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt (vgl. BGE 143 III 65
E. 5.2). Das SEM hat sich zwar im Rahmen der Prüfung eines Selbsteintritts insbesondere auf zwingende Gründe gemäss Art. 3 EMRK bezogen und nur sehr knapp zur Ausübung seines Ermessensspielraums gemäss Art. 29a Abs. 3 AsylV 1 geäussert. Dennoch ist es auf alle wesentlichen Sachverhaltselemente und insbesondere auf die gesundheitlichen Probleme ausführlich eingegangen und hat damit eine sachgerechte Anfechtung durch die Beschwerdeführenden und Überprüfung durch das Gericht ermöglicht. Das SEM ist seiner Begründungspflicht damit insgesamt genügend nachgekommen und hat sich dabei insbesondere auch mit der Situation der Kinder, namentlich dem Gesundheitszustand, explizit auseinandergesetzt.
Gründe für eine Aufhebung der angefochtenen Verfügung und Rückweisung an die Vorinstanz liegen daher nicht vor.
Ein Abgleich der Fingerabdrücke der Beschwerdeführenden mit der "Eurodac"-Datenbank ergab, dass diese am 4. April 2014 in Deutschland ein Asylgesuch eingereicht hatten. Das SEM ersuchte deshalb die deutschen Behörden am 30. Juni 2021 um Wiederaufnahme der Beschwerdeführenden gestützt auf Art. 23 oder 24 Dublin-III-VO. Die deutschen Behörden stimmten dem Gesuch um Übernahme am 6. Juli 2021 zu.
Die grundsätzliche Zuständigkeit Deutschlands ist somit gegeben.
Das Vorliegen systemischer Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO ist im Falle Deutschlands zu verneinen (vgl. Urteil des BVGer F-2520/2021 vom 4. Juni 2021).
Nach Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO kann die Schweiz ein Asylgesuch materiell prüfen, auch wenn nach den in der Verordnung vorgesehe-
nen Kriterien ein anderer Staat zuständig ist (sogenanntes Selbsteintrittsrecht). Diese Bestimmung ist nicht unmittelbar anwendbar, sondern kann nur in Verbindung mit einer anderen Norm des nationalen oder internationalen Rechts angerufen werden (vgl. BVGE 2010/45 E. 5). Die Schweiz ist demnach zum Selbsteintritt verpflichtet, wenn andernfalls eine Verletzung des Non-Refoulement-Gebots nach Art. 33 FK, Art. 3 EMRK, Art. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II, SR 0.103.2) oder Art. 3 FoK droht.
Die Beschwerdeführenden berufen sich darauf, der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin B. stehe einer Überstellung entgegen. So habe sich ihr Gesundheitszustand stetig verschlechtert. Am (…) 2021 habe sie versucht, sich das Leben zu nehmen, weshalb sie notfallmässig in die (…) eingewiesen worden sei. Gemäss Arztbericht sei eine ambulante Behandlung dringend empfohlen. Dieser Vorfall sei auf den sich stetig erhöhenden Stress zurückzuführen, der durch die Furcht, nach Deutschland zurückkehren zu müssen, ausgelöst werde. Bei einer Rückkehr nach Deutschland, wäre daher mit einer Verschlechterung des Zustands zu rechnen. Mit einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit im Falle einer Rückkehr nach Deutschland wäre auch bei den beiden anderen Kindern zu rechnen. Auch die Mutter (A. ) sei am Ende ihrer Kräfte und wünsche sich eine psychische Behandlung, welche sie aufgrund ihrer Kinder bisher zurückgestellt habe. Eine Überstellung nach Deutschland – wo die Beschwerdeführenden bereits verschiedene Gewalterfahrungen gemacht hätten – würde die Beschwerdeführenden folglich einer gravierenden Gefahr für ihre Gesundheit aussetzen und Art. 3 EMRK verletzen.
Eine zwangsweise Rückweisung von Personen mit gesundheitlichen Problemen kann nur ganz ausnahmsweise einen Verstoss gegen Art. 3 EMRK darstellen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die betroffene Person sich in einem fortgeschrittenen oder terminalen Krankheitsstadium und bereits in Todesnähe befindet, nach einer Überstellung mit dem sicheren Tod rechnen müsste und dabei keinerlei soziale Unterstützung erwarten könnte (vgl. BVGE 2011/9 E. 7 mit Hinweisen auf die damalige Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR]). Eine weitere vom EGMR definierte Konstellation betrifft Schwerkranke, die durch die Abschiebung – mangels angemessener medizinischer Behandlung im Zielstaat – mit einem realen Risiko konfrontiert würden, einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszu-
stands ausgesetzt zu werden, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führen würde (vgl. Urteil des EGMR Paposhvili gegen Belgien 13. Dezember 2016, Grosse Kammer 41738/10, §§ 180–193 m.w.H.).
Die vorliegenden gesundheitlichen Probleme stellen kein völkerrechtliches Vollzugshindernis im Sinne von Art. 3 EMRK dar, welches zwingend zu einem Selbsteintritt führen müsste, da Deutschland über eine ausreichende medizinische Infrastruktur verfügt (vgl. Urteil des BVGer F-2181/2021 vom
26. Mai 2021 E. 8.1.2). Hinsichtlich der geltend gemachten Gefahr einer Selbstgefährdung gilt es festzuhalten, dass gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung Suizidalität für sich allein kein Vollzugshindernis darstellt (vgl. Urteil des BGer 2C_221/2020 vom 19. Juni 2020 E. 2), was auch der Praxis des Bundesverwaltungsgerichts entspricht (vgl. etwa Urteil des BVGer F-2181/2021 vom 26. Mai 2021 E. 8.1.2 m.w.H.). Indes obliegt es den Behörden, im Rahmen von konkreten Vollzugsmassnahmen alles ihnen Zumutbare vorzukehren, um medizinisch und betreuungsmässig sicherzustellen, dass das Leben und die Gesundheit der betroffenen Person möglichst nicht beeinträchtigt wird (vgl. BVGer F-2181/2021 vom 26. Mai 2021 E. 8.1.2 mit Hinweis auf die Urteile des BGer 2C_98/2018 vom 7. November 2018 E. 5.5.3 und 2D_14/2018 vom 13. August 2018 E. 7.3). Es gilt somit sicherzustellen, dass die deutschen Behörden vor der Überstellung über die gesundheitlichen Probleme der Beschwerdeführenden und die notwendige medizinische Behandlung informiert sind sowie die nötige Betreuung bei der Vorbereitung und der Überstellung selber gewährleistet ist. An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass sich die Beschwerdeführenden über sieben Jahre in Deutschland aufgehalten und dort die Schulen besucht haben und damit über ein stützendes soziales Netz verfügen dürften. Soziale oder familiäre Anknüpfungspunkte zur Schweiz bestehen demgegenüber keine.
Auch die geltend gemachten Probleme mit dem in Deutschland wohnhaften Ex-Ehemann der Beschwerdeführerin A. sowie ihrem Bruder respektive weiteren Verwandten stehen einer Überstellung nicht entgegen. Diesbezüglich wies bereits das SEM zu Recht darauf hin, dass Deutschland ein Rechtsstaat ist, welcher über funktionierende Polizeibehörden verfügt. Sollten sich die Beschwerdeführenden in Deutschland vor Übergriffen durch Privatpersonen fürchten oder sogar solche erleiden, können sie sich an die zuständigen staatlichen Stellen wenden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die deutschen Behörden ihre Schutzpflicht nicht wahrgenommen hätten oder dies künftig nicht tun würden. Aus den Akten
ergeben sich auch keinerlei Hinweise darauf, dass es den Beschwerdeführenden nicht zumutbar wäre, sich bei den deutschen Behörden um Schutz zu bemühen.
Es besteht somit kein Grund für eine Anwendung der Ermessensklausel von Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO, respektive der – das Selbsteintrittsrecht im Landesrecht konkretisierenden – Bestimmung von Art. 29a Abs. 3 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311), gemäss welcher das SEM das Asylgesuch "aus humanitären Gründen" auch dann behandeln kann, wenn dafür gemäss Dublin-III-VO ein anderer Staat zuständig wäre. Das SEM hat diesen Erwägungen gemäss sein Ermessen gesetzeskonform ausgeübt. Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass die Dublin-III-VO den Schutzsuchenden kein Recht einräumt, den ihren Antrag prüfenden Staat selber auszuwählen (vgl. auch BVGE 2010/45 E. 8.3).
Somit bleibt Deutschland zuständiger Mitgliedstaat gemäss Dublin-IIIVO.
Da das Fehlen von Überstellungshindernissen bereits Voraussetzung des Nichteintretensentscheides gemäss Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG ist, sind allfällige Vollzugshindernisse gemäss Art. 83 Abs. 3 und 4 AIG (SR 142.20) unter diesen Umständen nicht mehr zu prüfen (vgl. BVGE 2015/18 E. 5.2 m.w.H.).
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen und die Verfügung des SEM zu bestätigen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten den Beschwerdeführenden aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Die Beschwerde kann jedoch nicht als zum vornherein aussichtlos bezeichnet werden und die Beschwerdeführenden sind als bedürftig zu erachten. Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung gemäss Art. 65 Abs. 1 VwVG ist daher gutzuheissen. Es sind folglich keine Verfahrenskosten zu erheben.
(Dispositiv nächste Seite)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung wird gutgeheissen.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführenden, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.
Die vorsitzende Richterin: Der Gerichtsschreiber:
Nina Spälti Giannakitsas Linus Sonderegger
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