Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung IV |
Dossiernummer: | D-2914/2020 |
Datum: | 30.11.2021 |
Leitsatz/Stichwort: | Asyl (ohne Wegweisungsvollzug) |
Schlagwörter : | Familie; Flüchtling; Beschwerdeführende; Beschwerdeführenden; Familien; Schweiz; Bundesverwaltungsgericht; Recht; Staat; Ehemann; Aufenthalt; Flüchtlings; Kinder; Flüchtlingseigenschaft; Verfügung; Vorinstanz; Person; Wegweisung; Einreise; Familienleben; Kindes; Vater; Rückkehr; Urteil; ässig |
Rechtsnorm: | Art. 30 AIG ;Art. 44 AIG ;Art. 48 VwVG ;Art. 49 BV ;Art. 52 VwVG ;Art. 63 VwVG ;Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: | - |
Abteilung IV D-2914/2020
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Besetzung Richter Walter Lang (Vorsitz),
Richter Gérard Scherrer, Richterin Mia Fuchs, Gerichtsschreiberin Sarah Ferreyra.
Parteien A. , geboren am (…), und ihre beiden Kinder,
alle vertreten durch Laura Aeberli, Advokatur Aeberli, Beschwerdeführende,
gegen
Vorinstanz.
Gegenstand Asyl (ohne Wegweisungsvollzug);
Verfügung des SEM vom 5. Mai 2020 / N (…).
Der aus dem Iran stammende Ehemann der Beschwerdeführerin, D. , wurde mit Verfügung des SEM vom 14. Juli 2017 als Flüchtling gemäss Art. 3 Abs. 1 und 2 AsylG (SR 142.31) anerkannt und ihm wurde in der Schweiz Asyl gewährt. Am 10. August 2017 ersuchte er um eine Einreisebewilligung zwecks Familienvereinigung für die sich im Irak aufhaltende Beschwerdeführerin und den gemeinsamen Sohn B. . Mit Verfügung vom 27. September 2017 bewilligte das SEM die Einreise nicht und lehnte das Gesuch um Familiennachzug ab. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil D-6113/2017 vom 6. Dezember 2017 ab.
Die Beschwerdeführerin und ihr Sohn B.
verliessen am 2. Juli
2018 den Nordirak und flogen von E. in die Türkei. Anschliessend gelangten sie via Griechenland nach Frankreich und schliesslich am
20. August 2018 in die Schweiz, wo sie am gleichen Tag um Asyl nachsuchten. Am 24. August 2018 wurde die Beschwerdeführerin zu ihrer Person, zum Reiseweg und summarisch zu den Gesuchsgründen befragt (Befragung zur Person [BzP]). Am 21. Januar 2019 wurde sie eingehend zu den Asylgründen angehört.
Zur Begründung ihres Asylgesuches machte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen geltend, sie und ihr Sohn seien irakische Staatsangehörige kurdischer Ethnie mit letztem offiziellem Wohnsitz in F. in der Provinz Suleimaniya, wo sie seit ihrer Heirat im Jahr 2010 mit ihrem Ehemann, D. gelebt habe. Im Jahr (…) sei ihr gemeinsamer Sohn geboren. Von Februar 2013 bis Oktober 2016 habe sie sich zu Studienzwecken in Frankreich aufgehalten. In den Semesterferien habe sie jeweils ihre Familie im Irak besucht. Ihr Ehemann sei im Iran politisch aktiv gewesen und habe wegen drohender Verfolgung im Jahr 2001 seinen Heimatstaat verlassen. Seither habe er im Irak gelebt und sich auch dort politisch engagiert. Als er Anfang 2016 erfahren habe, dass sein Bruder im Iran vom Sicherheitsdienst verhaftet worden sei, habe er befürchtet, der iranische Geheimdienst könne sich seiner auch im Irak habhaft werden und habe daher den Irak im März 2016 verlassen und im Mai 2017 in der Schweiz um Asyl ersucht. Sie habe seit der Ausreise ihres Ehemannes bei ihren Eltern gelebt, da es nicht sicher gewesen sei als allein lebende, verheiratete Frau. Im Sommer 2017 sei sie auf dem Bazar von einem Unbekannten gefragt
worden, ob sie die Ehefrau des Iraners sei. Er habe sich als Freund ihres Ehemannes ausgegeben und ausgeführt, dass er auf der Suche nach ihm sei. Da sie alle Freunde ihres Ehemannes gekannt habe, sei sie skeptisch geworden und habe dem unbekannten Mann nichts über den Aufenthaltsort ihres Mannes erzählt. Später habe sie ihren Mann gefragt, ob er diese Person, welche sich als G. vorgestellt habe, kenne, was er verneint habe. Ihr Ehemann habe sie gebeten, vorsichtig zu sein, da es ein Mitarbeiter des Geheimdienstes sein könne. Ab diesem Moment habe sie Angst gehabt und sich nicht mehr getraut, ihren Sohn in die Schule zu schicken. Ihr Mann habe daher versucht, sie und den Sohn legal in die Schweiz zu holen, was nicht geklappt habe. Im Frühling und im Sommer 2018 sei sie zudem zweimal von Unbekannten telefonisch kontaktiert und ebenfalls zum Aufenthaltsort ihres Mannes befragt worden. Sie habe auch diesen Personen keine Auskunft erteilt. Da der Anrufer ihr beim zweiten Mal gedroht und gesagt habe, dass er wisse, wo sie wohne, habe sie noch mehr Angst bekommen und sich deshalb zur Ausreise entschlossen.
Die Beschwerdeführerin reichte anlässlich der Anhörung ihre Identitätskarte und die ihres Sohnes B. , einen Ehevertrag, einen Zivilregisterauszug, ein Arztzeugnis, ein Masterdiplom der Universität (…) und einen Auszug des Art. 6 des irakischen Staatsbürgerschaftsgesetzes mit Übersetzung ein.
Am 11. Februar 2019 reichte die Beschwerdeführerin einen Arztbericht des Spitals (…) zu ihrer Diabeteserkrankung ein.
Am (..) gebar die Beschwerdeführerin ihr zweites Kind C. .
Mit Schreiben vom 4. Dezember 2019 teilte das SEM der Beschwerdeführerin mit, dass mit Blick auf die mögliche Zuständigkeit der kantonalen Migrationsbehörde vorfrageweise zu prüfen sei, ob sich die asylsuchende Person im Sinne von Art. 14 Abs. 1 AsylG auf einen potenziellen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung berufen könne. Es komme im Rahmen der vorfrageweisen Prüfung zum Schluss, dass die Beschwerdeführerin als Ehefrau einer Person mit Aufenthaltsbewilligung gemäss Art. 8 EMRK einen offensichtlichen Anspruch auf Erteilung im Sinne der einschlägigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung habe (vgl. Urteil des BGer
2C_947/2016 vom 17. März 2017 E. 3.3 m.w.H.). Das SEM gab der Beschwerdeführerin daher Gelegenheit, ihren obgenannten Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung bei der zuständigen kantonalen Migrationsbehörde geltend zu machen und bis zum 27. Dezember 2019 ein entsprechendes Bewilligungsverfahren einzuleiten.
Mit Verfügung vom 11. März 2020 trat das Migrationsamt (…) auf die Gesuche um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung vom 11. Dezember 2019 nicht ein. Eventualiter wies es die Gesuche vom 11. Dezember 2019 ab. Es stellte fest, dass das SEM die damalige Ablehnung des Gesuchs um Familiennachzug damit begründet habe, dass es dem Ehemann möglich sei, das erwünschte Familienleben in einem Drittstaat – namentlich dem Irak – zu führen. Er sei folglich für die Zusammenführung mit seiner Ehefrau und seinem Sohn nicht auf den Nachzug in die Schweiz angewiesen, sondern könne die Familiengemeinschaft im Heimatstaat der Ehegattin und Kindsmutter führen. Die rechtlichen Ansprüche aus Art. 8 EMRK auf Achtung des Privatund Familienlebens seien folglich auch dann gewahrt, wenn die Einreise in die Schweiz verweigert werde. Inwiefern es der Familie nunmehr nicht mehr zuzumuten wäre, gemeinsam im Irak Wohnsitz zu nehmen, könne nicht erkannt und auch dem Schreiben des SEM vom
4. Dezember 2019 nicht entnommen werden. Von einem offensichtlichen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung könne unter diesen Umständen keine Rede sein. Selbst wenn vorliegend davon auszugehen wäre, dass die Beschwerdeführenden aus Art. 8 Ziff. 1 EMRK einen Anwesenheitsanspruch geltend machen könnten, wären die Gesuche um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung abzuweisen, zumal die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung auf Grundlage von Art. 44 Abs. 1 Bst. c AIG (SR 142.20) nicht erfüllt seien, weil der Ehemann der Beschwerdeführenden von der Sozialhilfe abhängig sei. Zudem liege auch kein schwerwiegender Härtefall nach Art. 30 Abs. 1 Bst. b AIG vor.
Mit Schreiben vom 29. April 2020 ersuchte die Beschwerdeführerin um Einbezug ihres Kindes C. in die Flüchtlingseigenschaft und das Asyl dessen Vaters, D. gestützt auf Art. 51 Abs. 3 AsylG.
Mit tags darauf eröffneter Verfügung vom 5. Mai 2020 stellte das SEM fest, die Beschwerdeführenden würden die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3 AsylG nicht erfüllen, die Beschwerdeführerin und ihr Sohn
B.
würden (auch) die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 51
Abs. 1 AsylG und ihr Sohn C. gemäss Art. 51 Abs. 3 nicht erfüllen. Die Asylgesuche vom 21. Januar 2019 lehnte es ab und verfügte die Wegweisung der Beschwerdeführenden aus der Schweiz, schob den Vollzug der Wegweisung jedoch wegen Unzumutbarkeit zu Gunsten einer vorläufigen Aufnahme auf.
Mit Eingabe vom 4. Juni 2020 liessen die Beschwerdeführerin und ihre Söhne – handelnd durch ihre Rechtsvertreterin – gegen diese Verfügung beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde erheben und beantragen, die angefochtene Verfügung sei in den Dispositivziffern 2-8 aufzuheben, sie seien als Flüchtlinge in die Flüchtlingseigenschaft ihres Ehemannes beziehungsweise Vaters einzubeziehen und ihre Asylgesuche seien im Sinne von Art. 51 AsylG gutzuheissen. Eventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht liessen sie zudem beantragen, es sei ihnen die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren, auf die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten und ihnen die unterzeichnende Rechtsvertreterin als amtliche Rechtsbeiständin beizuordnen.
Mit der Beschwerde reichten sie das Auszahlungsbudget der Monate Mai und Juni 2020 der Sozialberatung vom 27. Mai 2020 und eine Honorarnote ein.
Mit Verfügung vom 25. Juni 2020 hiess der zuständige Instruktionsrichter des Bundesverwaltungsgerichts die Gesuche um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Rechtsverbeiständung unter dem Vorbehalt einer nachträglichen Veränderung der finanziellen Verhältnisse der Beschwerdeführenden gut, verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses und ordnete den Beschwerdeführenden die Rechtsvertreterin als amtliche Rechtsbeiständin bei. Gleichzeitig gab er dem SEM Gelegenheit, zur Beschwerde Stellung zu nehmen.
In seiner Vernehmlassung vom 7. Juli 2020 nahm das SEM zur Beschwerde Stellung.
Am 5. August 2020 reichten die Beschwerdeführenden eine Replik ein. Mit
der Replik wurde ein Schreiben der Klassenlehrerin von B. , eine Gefährdungsmeldung bei der Kindesund Erwachsenenschutzbehörde (KESB) (…) durch die Kinderärztin vom 23. Juli 2020 betreffend B. und eine Mail der Rechtsvertreterin an die irakische Botschaft vom 17. Juli 2020 eingereicht.
Mit Schreiben vom 24. September 2020 informierten die Beschwerdeführenden über die aktuellen Entwicklungen und reichten ein Schreiben der KESB (…) und eine Honorarnote ein.
Mit Eingabe vom 10. November 2020 wurde ein Bericht der Psychologin der Beschwerdeführerin eingereicht.
Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – so auch vorliegend – endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).
Am 1. März 2019 ist eine Teilrevision des AsylG in Kraft getreten (AS 2016 3101); für das vorliegende Verfahren gilt das bisherige Recht (vgl. Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des AsylG vom
25. September 2015).
Die Beschwerdeführenden haben am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, sind durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und haben ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Sie sind daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 AsylG i.V.m. Art. 37 VGG und Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die fristund formgerecht eingereichte Beschwerde (aArt. 108 Abs. 1 AsylG; Art. 105 AsylG i.V.m. Art. 37 VGG und Art. 52 Abs. 1 VwVG) ist einzutreten.
Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG, im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass in der angefochtenen Verfügung die originäre Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführenden abgelehnt worden ist (Dispositivziffer 1). Dieser Punkt wird in der Beschwerde nicht beanstandet. Streitgegenstand bildet demnach einzig die geltend gemachte derivative Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführenden und ein daraus abgeleitetes Familienasyl.
Gemäss Art. 51 Abs. 1 AsylG werden Ehegatten, eingetragene Partnerinnen oder Partner von Flüchtlingen und ihre minderjährigen Kinder als Flüchtlinge anerkannt und erhalten Asyl, wenn keine besonderen Umstände dagegen sprechen.
Auch in der Schweiz geborene Kinder von Flüchtlingen werden als Flüchtlinge anerkannt, sofern keine besonderen Umstände dagegen sprechen (Art. 51 Abs. 3 AsylG).
Dem Einbezug in die Flüchtlingseigenschaft und der Asylgewährung entgegenstehende besondere Umstände sind gemäss der Rechtsprechung beispielsweise anzunehmen, wenn das Familienmitglied Bürger eines anderen Staates als der Flüchtling ist und die Familie in diesem Staat nicht gefährdet ist (vgl. BVGE 2019 VI/8 E. 4.1; 2012/32 E. 5.1; Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [E- MARK] 1996 Nr. 14), wenn der Flüchtling seinen Status derivativ erworben hat (BVGE 2013/21 E. 3.3) oder wenn das Familienleben während einer längeren Zeit nicht gelebt wurde und erkennbar ist, dass die Familienmitglieder nicht den Willen haben, als Familie zusammenzuleben (vgl. BVGE 2012/32 E. 5.4.2). Weiter wurden beispielsweise besondere Umstände, die gegen einen Einbezug der Kinder in die Flüchtlingseigenschaft des Vaters sprechen, darin erkannt, dass die Eltern der Kinder eine polygame Ehe führten, die aufgrund des Vorbehalts des schweizerischen Ordre public im Rahmen des Familienasyls nicht anerkannt werden konnte (vgl. BVGE 2012/5 E. 5).
Bei gemischtnationalen Familien, wo der Einbezug eines Kindes respektive Ehepartners in die Flüchtlingseigenschaft des Elternteils respektive Ehegatten in Frage steht, der Bürger eines anderen Drittstaates ist, in dem ihm keine Verfolgung droht, ist in hypothetischer Weise zu prüfen, ob die ganze Familie sich gegebenenfalls im Heimatland des dort nicht verfolgten Elternteils beziehungsweise Ehegatten niederlassen könnte. Dies ist auf der Grundlage der Kriterien zu prüfen, die gemäss Art. 83 AIG in Bezug auf die Zulässigkeit, Zumutbarkeit und Möglichkeit eines Vollzugs der Wegweisung gelten. Ist hingegen ein gemeinsames Leben im Land des nichtgefährdeten Familienmitgliedes nicht realisierbar oder nicht zumutbar, bietet sich mit anderen Worten keine Alternative zur Schweiz, besteht umgekehrt auch kein Anlass, die andere Staatsangehörigkeit als besonderen Umstand zu betrachten. Vielmehr wäre es in diesem Fall angemessen, der Sicherstellung eines einheitlichen Rechtsstatus für die ganze Familie in der Form des Asyls Vorrang einzuräumen (vgl. BVGE 2020 VI/6 E. 5 m.w.H.).
Das SEM stellte in der angefochtenen Verfügung fest, dass der Ehemann beziehungsweise Vater der Beschwerdeführenden iranischer Staatsangehöriger und deshalb anderer Nationalität sei als die Beschwerdeführenden. Es komme daher zum Schluss, dass es den Beschwerdeführenden in hypothetischer Weise zulässig, zumutbar und möglich sei, dass sie ihr Familienleben in ihrem Heimatstaat Irak fortführen könnten. In Bezug auf die Zulässigkeit und Möglichkeit sei darauf hinzuweisen, dass die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann bereits von 2010 bis zu seiner Abreise 2016 in F. zusammengelebt und ihre Ehe dort hätten registrieren lassen können. Wie bereits das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil D-6113/2017 vom 6. Dezember 2017 zur verweigerten Einreisebewilligung festgehalten habe, sei davon auszugehen, dass sie im Irak das Familienleben fortführen und sich ihr Ehemann nach einigen Jahren werde einbürgern lassen können (vgl. www.refworld.org/docid/4b1e364c2.html). In Bezug auf eine allfällig geltend gemachte Gefährdung des Ehemannes im Irak sei erneut festzuhalten, dass ihm wegen einer drohenden asylrelevanten Verfolgung in seinem Heimatstaat – dem Iran – in der Schweiz Asyl gewährt worden sei. Das abreiseauslösende Ereignis, namentlich die Verhaftung seines Bruders durch die iranischen Sicherheitskräfte, habe denn bezeichnenderweise auch in seinem Heimatstaat stattgefunden. Zwar hätten sowohl die Beschwerdeführerin als auch ihr Ehemann zu Protokoll gegeben, dass die iranischen Geheimdienste auch im Irak operativ seien. Dies habe sich an den Kontaktaufnahmen durch Unbekannte auf dem Bazar
beziehungsweise per Telefon gezeigt. Daraus könne jedoch nicht geschlossen werden, dass ihr Ehemann auch im Irak, wo er notabene fünfzehn Jahre unbehelligt habe leben, arbeiten und eine Familie gründen können, an Leib und Leben gefährdet gewesen sei. Hinweise für eine im Irak stattfindende Verfolgung lägen demnach keine vor. Die Kriterien der Zulässigkeit und Möglichkeit seien demnach erfüllt. Zudem sei auch die Zumutbarkeit zu bejahen. Sie würden in ihrem Heimatstaat über ein breites familiäres Beziehungsnetz und ihr Mann über ein soziales Beziehungsnetz verfügen. Die Beschwerdeführerin könne einen universitären Abschluss einer europäischen Universität und ihr Mann mehrere Jahre Arbeitserfahrung vorweisen. Bis auf ihre Diabetes-Erkrankung, die sie jedoch bereits ab 2010 im Irak habe behandeln lassen, seien sie und ihr Ehemann gemäss Akten bei guter Gesundheit. Somit sei festzustellen, dass es hypothetisch zulässig, zumutbar und möglich sei, dass sie ihr Familienleben statt in der Schweiz in ihrem Heimatland leben könnten, so wie sie dies bereits von 2010 bis 2016 getan hätten. Demnach sei in ihrem Fall das Vorliegen «besonderer Umstände» zu bejahen, so dass Art. 51 Abs. 1 AsylG nicht zur Anwendung komme. Diese Beurteilung treffe auch auf den in der Schweiz geborenen Sohn zu. Gemäss Praxis würden bei dieser Sachlage die Bestimmungen von Art. 8 EMRK keine ergänzende Anwendung finden (vgl. EMARK 2002 Nr. 6 E. 5 f.).
In der Beschwerde wird geltend gemacht, es sei unbestritten, dass der Ehemann beziehungsweise Vater der Beschwerdeführenden, D. , die Flüchtlingseigenschaft erfülle und ihm in der Schweiz Asyl gewährt worden sei. Ebenso unbestritten sei die Tatsache, dass die Beschwerdeführenden als Ehefrau beziehungsweise minderjährige Kinder von D. grundsätzlich anspruchsberechtigt seien, in seine Flüchtlingseigenschaft einbezogen zu werden und Familienasyl zu erhalten. Es stelle sich deshalb nur die Frage, ob die andere Nationalität der Beschwerdeführenden einen besonderen Umstand darstelle, welche den Nichteinbezug zu rechtfertigen vermöge. Die Vorinstanz bestreite nicht, dass D. früher illegal im Irak gelebt und nie über eine Aufenthaltsbewilligung beziehungsweise einen gesicherten Aufenthaltsstatus verfügt habe. In Bezug auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-6113/2017 vom 6. Dezember 2017 sei darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzungen für eine Einreisebewilligung nach Art. 51 Abs. 4 AsylG strenger seien als die Voraussetzungen für Familienasyl nach Art. 51 Abs. 1 beziehungsweise Abs. 3 AsylG. Eine Einreisebewilligung werde nur dann erteilt, wenn die anspruchsberechtigten Personen durch die Flucht getrennt worden seien. Das Bundesverwaltungsgericht habe die Einreise der Beschwerdeführenden damals denn
auch gerade deshalb verweigert, weil die Heirat beziehungsweise Geburt erst nach der Flucht von D. aus seinem Heimatland Iran erfolgt seien. Da diese Voraussetzung vorliegend jedoch nicht zur Anwendung komme, müsse über das vorliegende Gesuch um Einbezug in die Flüchtlingseigenschaft beziehungsweise Familienasyl neu entschieden werden. Es sei jedoch richtig, dass sich das Bundesverwaltungsgericht schon damals kurz zur Frage geäussert habe. Diese Ausführungen seien jedoch nicht abschliessend und müssten als obiter dictum qualifiziert werden, da sie für das damalige Urteil nicht entscheidrelevant gewesen seien, weshalb sie für den aktuellen Entscheid auch nicht verbindlich seien. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich im Rahmen des fraglichen obiter dictums dahingehend geäussert, dass aus der Tatsache, dass das SEM die Wegweisung in den früheren Aufenthaltsstaat Irak nicht geprüft habe (Art. 31a Abs. 1 Bst. c AsylG) und auf das Asylgesuch eingetreten sei, nicht darauf geschlossen werden könne, dass D. im Irak asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt wäre. Ob eine Rückkehr von D. in den Irak darüber hinaus zulässig, möglich und zumutbar sei, habe das Bundesverwaltungsgericht nicht thematisiert. Ausserdem habe sich das Bundesverwaltungsgericht ohne Begründung der Meinung der Vorinstanz angeschlossen, dass eine Einbürgerung von D. im Irak nach einem fünfjährigen Aufenthalt möglich sei. Die Vorinstanz begnüge sich vorliegend damit, eine asylrelevante Verfolgung von D. im Irak zu verneinen. Ob seine Rückkehr dorthin darüber hinaus überhaupt möglich oder zulässig wäre, werde nicht geprüft. D. habe trotz wiederholter Bemühungen nie über einen legalen Aufenthaltstitel im Irak verfügt. Er habe dort illegal gelebt, sei nie als Flüchtling anerkannt worden und habe keine Sicherheit vor einer allfälligen Rückschiebung in seinen Heimatstaat Iran gehabt. Er habe mit unsicheren Perspektiven und unter schwierigen Lebensbedingungen gelebt. Es seien keine Hinweise ersichtlich, die darauf schliessen liessen, dass D. in Zukunft über einen legalen und sicheren Status im Irak verfüge. Eine Rückkehr ohne gültigen Aufenthaltstitel oder Rückübernahmezusicherung der irakischen Behörden wäre damit unmöglich. Zudem wäre die Wegweisung in den Irak auch unzulässig, solange D. nicht über einen gesicherten Aufenthaltstitel verfüge, da ansonsten die Rückschiebung in den Verfolgerstaat Iran nicht ausgeschlossen werden könne. Schliesslich sei das Leben in der Illegalität auch keine zumutbare Zukunftsaussicht. Es sei unklar, worauf sich die Vorinstanz und das Bundesverwaltungsgericht stützten, wenn sie behaupten würden, D. könne die irakische Staatsbürgerschaft beantragen. Nur weil eine Person sich lange in einem Land aufgehalten habe und ihre
Ehe sowie die Geburt ihres Kindes habe registrieren lassen können, bedeute dies nichts im Hinblick auf das Einbürgerungsverfahren. Gemäss Art. 6 sowie Art. 7 des irakischen Staatsbürgerschaftsgesetzes werden Einbürgerungsgesuche nur dann gutgeheissen, wenn der Gesuchsteller legal eingereist sei (Art. 6 Ziff. I Bst. b), im Zeitpunkt der Gesuchstellung im Irak wohnhaft sei (Art. 6 Ziff. I Bst. b) sowie sich seit fünf Jahren legal im Land aufhalte (Art. 6 Ziff. 1 Bst. c i.V.m. Art. 7). D. sei weder legal eingereist noch habe er sich legal im Land aufgehalten und er habe überdies aktuell keinen Wohnsitz im Irak. Da er nach wie vor über keine Aufenthaltsbewilligung verfüge, sei nicht ersichtlich, inwiefern ihm die Einbürgerung im Irak nun offenstehen solle. Die Vorinstanz verweise als Quelle für ihre Annahme bloss allgemein auf das irakische Staatsbürgerschaftsgesetz. Gestützt auf welche Bestimmung D. eingebürgert werden solle, bleibe unklar. Sowieso stehe fest, dass ein Einbürgerungsgesuch erst nach einem fünfjährigen Aufenthalt gestellt werden könne. Mit welcher Aufenthaltsbewilligung D. sich bis dahin im Irak aufhalten solle, lasse die Vorinstanz offen. Sie bestreite aber nicht, dass D. nie über einen legalen Aufenthaltsstatus im Irak verfügt habe. Sollte das Bundesverwaltungsgericht zum Schluss kommen, der Sachverhalt sei in dieser Hinsicht unvollständig erhoben, wäre die Sache eventualiter an die Vorinstanz zurückzuweisen, um offenzulegen, wie sie zur fraglichen Annahme komme, D. könne aktuell in den Irak zurückkehren, und um zu erklären, wie sie zur Annahme komme, D. könne sich nach fünf Jahren Aufenthalt einbürgern lassen, wenn das zitierte Gesetz offensichtlich anders laute. Im Hinblick auf den Anspruch auf das rechtliche Gehör müssten die Quellen offengelegt werden, damit die Beschwerdeführenden sich dazu äussern und sich wirksam dagegen wehren könnten. Zudem müsse die Vorinstanz eine Rückübernahmezusicherung vorlegen, da es faktisch um eine Wegweisung in einen Drittstaat ginge. Der jüngste Beschwerdeführer verfüge aktuell noch über keinerlei Ausweispapiere – weder schweizerische noch irakische. Das Verfahren für die Eintragung der Geburt sei beim Zivilstandsamt hängig. Auch seine Rückkehr in den Irak erscheine mangels gültiger Ausweispapiere zum aktuellen Zeitpunkt unmöglich. Obwohl für alle Familienmitglieder eine Rückkehr in den Irak als unzumutbar bezeichnet werde, komme die Vorinstanz im Rahmen der hypothetischen Prüfung gemäss Art. 51 AsylG dennoch zum Schluss, es sei zumutbar, das Familienleben im Irak fortzuführen. Dieses Ergebnis mute seltsam an. Wie könne es sein, dass die Rückkehr in den Irak für alle Familienmitglieder einzeln faktisch als unzumutbar eingeschätzt werde, aber im Rahmen der hypothetischen Prüfung gleichzeitig zum Schluss gekommen werde, es sei für die Familie zumutbar, ihr Familienleben im Irak fortzuführen? Es sei
nicht nachvollziehbar, wie die gleiche Prüfung unterschiedlich ausfallen könne, je nachdem ob es sich um eine hypothetische oder die eigentliche Prüfung handle. Es sei für die Familie tatsächlich sowie hypothetisch nicht zumutbar, ihr Familienleben im Irak fortzuführen. Ob D. darüber hinaus im Irak asylrelevant verfolgt werde, spiele bei dieser Prüfung wie gesagt keine Rolle. Das Familienleben und die Familieneinheit können nur in der Schweiz effektiv und sicher gewährleistet werden. Mit anderen Worten gebe es neben der Schweiz keine Alternative für die Familie, um ihr Familienleben zusammen und sicher fortführen zu können. Deshalb erscheine es in diesem Fall angemessen, von der fraglichen Ausnahmeklausel keinen Gebrauch zu machen und der Familie einen einheitlichen Rechtsstatus in der Form des Asyls einzuräumen. Die Beschwerdeführenden seien folglich in die Flüchtlingseigenschaft von D. aufzunehmen und es sei ihnen Familienasyl zu gewähren. Abschliessend sei darauf hinzuweisen, dass es vorliegend um ein Verfahren gehe, bei dem Kinder betroffen seien. Gemäss Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (nachfolgend: KRK, SR 0.107) sei bei allen Massnahmen, die Kinder beträfen, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen sei. Die Konsequenzen, die der Nichteinbezug in die Flüchtlingseigenschaft für die Familie und die Kinder in der Schweiz mit sich gebracht und welche die Familie schon innert kurzer Zeit zu spüren bekommen habe, zeige auf, was nun auf die Familie zukommen werde. Obwohl der Ehemann beziehungsweise Vater anerkannter Flüchtling sei und Asyl erhalten habe, werde er zur Wahrung der Familieneinheit in eine Unterkunft verlegt, welche für Personen mit F- Bewilligung gedacht sei. Die Lebensumstände und Rechtstellung der Familie verschlechtere sich durch diesen Entscheid merklich. Die Beschwerdeführenden hätten dadurch zum Beispiel schlechteren Zugang zu Massnahmen für die berufliche Integration, würden weniger finanzielle Unterstützung erhalten, hätten einen schwierigeren Stand auf dem Arbeitsund Wohnungsmarkt und seien in ihrer Mobilität eingeschränkt. Gerade im Hinblick auf die Integration und Perspektiven der minderjährigen Beschwerdeführenden würden diese Veränderungen eine massive Verschlechterung darstellen. Auch im Hinblick auf das Kindeswohl erscheine der Einbezug in die Flüchtlingseigenschaft folglich klar angezeigt. Das Anwenden der Ausnahmeklausel erscheine unverhältnismässig.
In der Vernehmlassung führte das SEM aus, die Prüfung der Zulässigkeit, Zumutbarkeit und Möglichkeit einer Wohnsitznahme im Heimatstaat des nichtverfolgten Familienangehörigen sei eine hypothetische Prüfung. Die in der Beschwerde zitierte gesetzliche Grundlage, Art. 7 des irakischen
Staatsbürgerschaftsgesetzes, sehe vor, dass ein Ehepartner eines irakischen Staatsangehörigen ein Einbürgerungsgesuch stellen könne. Somit sei die hypothetische Möglichkeit gegeben. Die Argumente, wonach der Ehemann der Beschwerdeführerin die weiteren Bestimmungen nicht erfülle, seien somit hinfällig. Die Beschwerdeführenden seien auch jegliche Beweise für die Argumentation schuldig geblieben, D. drohe im Irak eine Rückführung in seinen Heimatstaat Iran beziehungsweise, dass die irakischen Behörden ihm den Schutz verweigern würden. Weder habe er entsprechende erfolglose Versuche dargelegt, noch andere Beweismittel eingereicht, welche diese vagen Ausführungen belegen würden. Angesichts dessen, dass D. vor seiner Reise in die Schweiz offenbar rund fünfzehn Jahre unbehelligt im Nordirak habe leben können, seien gegenüber dieser Darstellung denn auch erhebliche Zweifel anzubringen. Auch die Ausführungen in Bezug auf das in der Schweiz geborene Kind würden nicht überzeugen, zumal es gemäss Art. 3 des irakischen Staatsbürgerschaftsgesetzes Anrecht auf die irakische Staatsangehörigkeit habe. Weiter werde in der Beschwerde beanstandet, dass das SEM einerseits die Rückkehr in den Irak als unzumutbar einstufe, andererseits zum Schluss komme, dass das Familienleben im Irak fortgeführt werden könne. Diesbezüglich verweise es erneut auf die rein hypothetische Prüfung, die ausschlaggebend sei für die Beurteilung des Vorliegens besonderer Umstände. Zudem erfolge letzten Endes die Gewährung der vorläufigen Aufnahme in Anwendung von Art. 44 AsylG. Abschliessend sei Folgendes anzumerken: Mit Verfügung vom 27. September 2017 habe das SEM das Einreisegesuch der Beschwerdeführenden abgelehnt. Diesen Entscheid habe das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 6. Dezember 2017 gestützt. Folglich müsse den Beschwerdeführenden bereits seit geraumer Zeit bewusst sein, dass sie aus Art. 51 Abs. 1 beziehungsweise 3 AsylG keine Ansprüche für sich ableiten könnten. Vor diesem Hintergrund erscheine es nun überaus stossend, wenn sie nun – notabene nach Missachtung der verweigerten Einreisebewilligung und der selbständigen illegalen Einreise in die Schweiz – durch eigenes Zutun die früheren Entscheide der Schweizer Behörden hinfällig werden lassen könnten.
In der Replik wird geltend gemacht, die ständigen Transfers von einer Unterkunft in die nächste und die damit verbundenen Schulwechsel seien für B. gemäss der Kinderärztin und der Klassenlehrerin ungünstig und für das Kindeswohl schädlich. Die Kinderärztin von B. empfehle eine Spieltherapie, um ihn in seiner Entwicklung zu unterstützen. Aufgrund der ständigen Umzüge habe die Kinderärztin eine Gefährdungsmel-
dung bei der KESB eingereicht. C. verfüge immer noch über keinerlei Ausweispapiere. Die schweizerischen Behörden hätten noch keine Geburtsurkunde ausgestellt und die irakischen Behörden würden die Ausstellung von Identitätspapieren verweigern. Eine befreundete Übersetzerin habe telefonisch angefragt und eine negative Antwort erhalten. Im Rahmen des vorliegenden Beschwerdeverfahrens habe die unterzeichnende Rechtsvertreterin mit E-Mails vom 17. sowie 24. Juli 2020 eine schriftliche Anfrage an die irakische Regierung gerichtet und um Ausstellung von Ausweispapieren für C. gebeten. Am 28. Juli 2020 habe schliesslich ein Telefongespräch zwischen der Rechtsvertreterin und einem Mitarbeiter der irakischen Vertretung stattgefunden. Die unterzeichnende Rechtsvertreterin habe erklärt, dass sie eine irakische Staatsbürgerin vertrete, die Ausweispapiere für ihr in der Schweiz geborenes Kind beantragen wolle. Der Vertreter habe erläutert, dass Ausweispapiere nur im Irak selber ausgestellt würden. Die Mutter und das Kind müssten in den Irak reisen, damit dort die notwendigen Informationen erhoben werden könnten, um die Papiere auszustellen. Als die Rechtsvertreterin daraufhin erwähnt habe, dass der Vater des Kindes Iraner sei, erklärte der Vertreter, Ausweispapiere würden in solchen Fällen keine ausgestellt, und habe das Gespräch beendet. C. sei folglich nach wie vor nicht im Besitz von irakischen Ausweispapieren und sei von den irakischen Behörden auch nicht als Staatsbürger anerkannt worden. Die Beschwerdeführerin sei neu bei Frau J. in psychologischer Behandlung. Eine Bestätigung werde nachgereicht. Es sei vorliegend unbestritten, dass die Voraussetzungen für die Einreise damals nicht erfüllt gewesen seien. Die Frage des Einbezugs in die Flüchtlingseigenschaft sei damals jedoch noch nicht entschieden worden. Der Auffassung des SEM, ein Einbezug in die Flüchtlingseigenschaft wäre vor dem Hintergrund der bisherigen Prozessgeschichte „stossend", könne deshalb nicht gefolgt werden. Es gehe hier um zwei verschiedene Anspruchsgrundlagen, die andere Voraussetzungen enthalten und damit nicht zu einem widersprüchlichen Ergebnis führen würden. Im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör beziehungsweise die Begründungspflicht scheine es in formeller Hinsicht problematisch, dass das SEM nicht offenlege, gestützt auf welche konkreten Überlegungen eine Wegweisung in den Irak im vorliegenden Fall faktisch als unzumutbar qualifiziert und warum die vorläufige Aufnahme angeordnet worden sei. Die Rechtsvertreterin verstehe die langjährige Rechtsprechung der Asylrekurskommission und des Bundesverwaltungsgerichts dahingehend, dass jeweils zu prüfen sei, ob die ganze Familie sich gegebenenfalls im Heimatland des nicht verfolgten Ehepartners niederlassen könne, wenn sie dies denn wolle. Die Be-
hörden müssten laut Praxis der Asylrekurskommission im Rahmen der hypothetischen Wegweisungsprüfung prüfen, ob der Familie sowohl faktisch wie auch rechtlich die Möglichkeit offenstehe, sich im Heimatland des nichtverfolgten Ehepartners legal niederzulassen, wobei überdies selbstverständlich vorausgesetzt werde, dass der Flüchtling im Heimatland seines Ehepartners vor Verfolgung, menschenrechtswidriger Behandlung und Rückschiebung in den Verfolgerstaat geschützt sei (vgl. EMARK 1997 Nr. 22 S. 180). Fakt sei jedoch, dass D. von den dortigen Behörden nie irgendeinen Aufenthaltsstatus erhalten habe oder als Flüchtling anerkannt worden sei. Auch wenn er damals nicht in den Iran abgeschoben worden sei, sei eine künftige Abschiebung angesichts seines unsicheren Status nicht auszuschliessen. Es sei aus Sicht der Rechtsvertretung nicht ersichtlich, warum vorliegend auf eine Rückübernahmegarantie durch die irakischen Behörden verzichtet werden könne. D. habe im Rahmen seines Asylverfahrens zu seiner Papierlosigkeit im Irak Angaben gemacht. Zum damaligen Zeitpunkt sei das SEM offenkundig zum Ergebnis gekommen, dass seine diesbezüglichen Aussagen glaubhaft seien. Ansonsten hätte es gemäss Art. 31a Abs. 1 Bst. c AsylG gar nicht auf sein Asylgesuch eintreten dürfen und ihn in den Irak wegweisen müssen. Die Aufforderung des SEM, D. müsse diesbezüglich heute weitere Beweismittel einreichen, gehe daher fehl. In diesem Zusammenhang sei auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-1683/2013 vom 21. April 2015 hinzuweisen. Das Gericht habe es in diesem Fall abgelehnt, die bloss hypothetische Möglichkeit, eine andere ausländische Staatsbürgerschaft zu erwerben, als „besonderen Umstand" zu werten (vgl. hierzu E. 7.3.3). Aufgrund der aktuellen Aktenlage könne nicht davon ausgegangen werden, dass C. überhaupt irakischer Staatsbürger sei. Mit Blick auf die Rechtsprechung sei er deshalb in die Flüchtlingseigenschaft seines Vaters einzubeziehen. Darüber hinaus zeige das aktuelle Verhalten der irakischen Vertretung in der Schweiz auch auf, welchen Umgang die irakischen Behörden mit Iranern beziehungsweise deren Kindern im Irak pflegen würden. Als Kinder eines iranischen Flüchtlings seien sie mit Diskriminierungen konfrontiert und in ihrem Fortkommen behindert. Eine Rückkehr in den Irak erscheine aus gesundheitlicher und entwicklungspsychologischer Sicht unzumutbar. Das Bundesverwaltungsgericht habe im Urteil D-7013/2006 vom 2. Oktober 2007 festgehalten, dass dem Kindeswohl im Rahmen der hypothetischen Zumutbarkeitsprüfung eine vorrangige Bedeutung zukomme. Der Persönlichkeit des Kindes und seinen Lebensumständen sei umfassend Rechnung zu tragen. Eine Rückkehr in den Irak müsse auch deshalb als unzumutbar eingeschätzt werden.
Der Ehemann beziehungsweise Vater der Beschwerdeführenden wurde in der Schweiz als Flüchtling im Sinne von Art. 3 Abs. 1 AsylG anerkannt (vgl. Bst. A). Da die Beschwerdeführenden irakische Staatsangehörige sind, der Ehemann beziehungsweise Vater iranischer Staatsangehöriger ist, stellt sich die Frage, ob sich das gemischtnationale Ehepaar mit ihren Kindern im Nordirak niederlassen könnte (vgl. E. 4.4). Damit läge ein
«besonderer Umstand» im Sinne von Art. 51 Abs. 1 und 3 AsylG vor, der dem Einbezug der Beschwerdeführenden in die Flüchtlingseigenschaft entgegenstehen würde.
Im publizierten Urteil BVGE 2008/5 – in dem eine einlässliche Auseinandersetzung mit der Frage der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs in die drei damaligen kurdischen Provinzen des Nordiraks (Dohuk, Erbil, Suleimaniya) stattfand – hielt das Gericht fest, dass sich sowohl die Sicherheitsals auch die Menschenrechtslage in dieser Region im Verhältnis zum restlichen Irak relativ gut darstelle. Gestützt darauf kam es zum Schluss, dass ein Wegweisungsvollzug in die Provinzen Dohuk, Erbil und Suleimaniya unter der Voraussetzung zumutbar sei, dass die betreffende Person ursprünglich aus der Region stammt oder eine längere Zeit dort gelebt hat und über ein soziales Netz (Familie, Verwandtschaft oder Bekanntenkreis) oder über Beziehungen zu den herrschenden Parteien verfügt. Für alleinstehende Frauen und Familien mit Kindern sowie für Kranke und Betagte sei die Zumutbarkeit nur mit grosser Zurückhaltung zu bejahen (vgl. BVGE 2008/5 E. 7.5, insbesondere E. 7.5.1 und 7.5.8). Diese Praxis wurde in den folgenden Jahren in zahllosen Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts umgesetzt und bekräftigt. Im Zusammenhang mit dem Krieg in Syrien und der damit ausgelösten Flüchtlingswelle in die kurdischen Provinzen Nordiraks stellte das Bundesverwaltungsgericht im Referenzurteil E-3737/2015 vom 14. Dezember 2015 fest, dass die Sicherheitslage in den vier Provinzen der Autonomen Kurdischen Region (das KRG-Gebiet wird seit Anfang 2015 durch die Provinzen Dohuk, Erbil, Suleimaniya sowie der von Letzterer abgespalteten Provinz Halabja gebildet) zwar aufgrund dieser Umstände angespannt, aber grundsätzlich weiterhin stabil sei. Die Feststellung einer stabilen Sicherheitslage gelte auch für die Provinz Suleimaniya, was dort zu einem grossen Zustrom an intern vertriebenen Personen (Internally Displaced Persons, IDP) geführt habe. Die wachsende Bevölkerungszahl stelle eine Belastung der lokalen Wirtschaft und Infrastruktur dar und erschwere die Grundversorgung (vgl. Referenzurteil D-3737/2015
E. 7.4.3). Zum Schutz vor Infiltranten oder Sympathisanten des "Islamischen Staates" (auch Islamischer Staat im Irak und in der Levante [ISIL]
oder Islamischer Staat im Irak und in Syrien [ISIS]; nachfolgend IS) hat das KRG die Einreisebedingungen und die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Die lokale Bevölkerung soll Vertriebenen und Rückkehrern mit Misstrauen und Argwohn begegnen. Bei dieser Sachlage stellte das Gericht auch unter Berücksichtigung der mit der Beschwerde eingereichten Lageberichte fest, dass in den vier Provinzen der Autonomen Kurdischen Region nach wie vor nicht von einer Situation allgemeiner Gewalt im Sinn von Art. 83 Abs. 4 AuG auszugehen sei und keine konkreten Anhaltspunkte für die Annahme vorlägen, dies werde sich in absehbarer Zeit massgeblich verändern. Die langjährige Praxis gemäss BVGE 2008/5 für aus dieser Region stammende Kurden bleibe somit grundsätzlich weiterhin anwendbar. Angesichts der Belastung der behördlichen Infrastrukturen durch IDP sei allerdings jeweils der Prüfung des Vorliegens begünstigender individueller Faktoren – insbesondere denjenigen eines tragfähigen familiären Beziehungsnetzes (vgl. auch BVGE 2008/5 E. 7.5) – besonderes Gewicht beizumessen.
Bei den Beschwerdeführenden und D. handelt es sich um eine Familie mit minderjährigen Kindern, welche vor der Ausreise in der Provinz Suleimaniya gelebt hat. Die Beschwerdeführerin verfügt dort zwar mit ihren Eltern und Geschwistern über ein Beziehungsnetz und ist mit einem abgeschlossenen (…)-studium gut ausgebildet. Dennoch war sie im Irak nie im Arbeitsmarkt integriert und kümmerte sich um ihr Kind und den Haushalt. D. s Arbeitserfahrung beschränkt sich auf Arbeiten als Tagelöhner. Es ist vor diesem Hintergrund nicht davon auszugehen, dass er in der Lage wäre, eine Existenzgrundlage für seine inzwischen vierköpfige Familie zu erarbeiten. Zudem werden sie als Rückkehrer beziehungsweise D. als Ausländer im Nordirak auf Misstrauen der Bevölkerung und eine überlastete Infrastruktur stossen. Nebst diesen erschwerenden Umständen fällt ins Gewicht, dass die Beschwerdeführerin an einer DiabetesErkrankung und einer mittelgradig depressiven Episode leidet. Der Sohn B. ist gemäss seiner Kinderärztin aufgrund der zurückliegenden Trennung von seinem Vater und der ständigen Umzüge in der Schweiz in seiner emotionalen Entwicklung gefährdet und benötigt eine Psychotherapie. Ein erneuter allfälliger Wohnortswechsel aus der Schweiz in den Irak und damit eine erneute Instabilität in seinem Alltagssystem würde dem Kindeswohl entgegenstehen. Die medizinische Versorgung im Nordirak ist insgesamt als mangelhaft zu bezeichnen. Geringfügige gesundheitliche Beschwerden können zwar in der Regel in den Städten behandelt werden, aber auch dort besteht ein Mangel an adäquater Infrastruktur, qualifiziertem Personal und Medikamenten (vgl. BVGE 2008/5 E. 7.5.6). Angesichts
der rudimentären und teilweise mangelhaften medizinischen Versorgungslage im Nordirak ist zu erwarten, dass bei einer allfälligen Rückkehr nach Suleimaniya die emotionale Entwicklung von B. gefährdet und die nötige Behandlung hierfür nicht vorhanden wäre. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung, wonach die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs bei Familien mit minderjährigen Kindern nur mit grosser Zurückhaltung anzunehmen ist, und in Anbetracht dessen, dass es dem Vater, als Ausländer im Nordirak, kaum möglich sein würde, für seine vierköpfige Familie eine Existenzgrundlage zu schaffen sowie unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Probleme der Beschwerdeführerin und von B. ist der Vollzug der Wegweisung in den Nordirak als hypothetisch nicht zumutbar zu beurteilen. Die Tatsache der unterschiedlichen Staatsangehörigkeit der beiden Ehegatten erweist sich demnach nicht als "besonderer Umstand" im Sinne des Art. 51 Abs. 1 und 3 AsylG. Dem Einbezug der Ehefrau und der beiden Söhne in die Flüchtlingseigenschaft des Ehemannes steht somit nichts entgegen.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen und die Dispositivziffern 2-8 der angefochtenen Verfügung des SEM vom 5. Mai 2020 sind aufzuheben. Das SEM ist anzuweisen, die Beschwerdeführerin und B. gestützt auf Art. 51 Abs. 1 AsylG und C. gestützt auf Art. 51 Abs. 3 AsylG derivativ als Flüchtlinge anzuerkennen und ihnen in der Schweiz Asyl zu gewähren. Angesichts des Ausgangs des Verfahrens erübrigt es sich, auf die weiteren Anträge einzugehen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten aufzuerlegen (vgl. Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG).
Sodann ist den vertretenen Beschwerdeführenden angesichts ihres Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine Entschädigung für die ihnen notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen. In der Kostennote vom 24. September 2020 weist die Rechtsvertreterin einen zeitlichen Aufwand von 20,35 Stunden zu einem Stundenansatz von Fr. 220.- sowie Spesen von Fr. 161.90 aus. Der zeitliche Aufwand hinsichtlich der Verfassung der Beschwerde und der Replik sowie auch mehrerer
Telefonate und Schreiben zum Verfahrensstand erscheint nicht vollumfänglich angemessen beziehungsweise notwendig und ist deshalb auf 17 Stunden zu kürzen. Ausgehend von der Kostennote und gestützt auf die in Betracht zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 9–13 VGKE) ist den Beschwerdeführenden zulasten des SEM eine Parteientschädigung von Fr. 4203.– (inklusive Spesen und Mehrwertsteuerzuschlag i.S.v. Art. 9 Abs. 1 Bst. c VGKE) zuzusprechen.
(Dispositiv nächste Seite)
Die Beschwerde wird gutgeheissen.
Die Verfügung des SEM vom 5. Mai 2020 wird in den Dispositivziffern 2-8 aufgehoben. Das SEM wird angewiesen, den Beschwerdeführenden Asyl zu gewähren.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Das SEM wird angewiesen, den Beschwerdeführenden eine Parteientschädigung in der Höhe von Fr. 4203.– zu entrichten.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführenden, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.
Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:
Walter Lang Sarah Ferreyra
Versand:
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