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Bundesverwaltungsgericht Urteil F-1342/2020

Urteilsdetails des Bundesverwaltungsgerichts F-1342/2020

Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung VI
Dossiernummer:F-1342/2020
Datum:12.03.2020
Leitsatz/Stichwort:Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren)
Schlagwörter : Dublin; Dublin-III-VO; SEM-act; Frankreich; Mitgliedstaat; Über; Vorinstanz; Asylgesuch; Beziehung; Antrag; Beschwerdeführerinnen; Recht; Verfahren; Schweiz; Akten; Zuständigkeit; Bundesverwaltungsgericht; Vater; Überstellung; Urteil; Staat; Wegweisung; Verfügung; Ermessens; Schutz; Gehör; üglich
Rechtsnorm: Art. 63 VwVG ;Art. 83 AIG ;Art. 83 BGG ;Art. 97 ZGB ;
Referenz BGE:144 II 1
Kommentar:
-

Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung VI F-1342/2020

U r t e i l  v o m  1 2.  M ä r z  2 0 2 0

Besetzung Einzelrichterin Regula Schenker Senn,

mit Zustimmung von Richterin Barbara Balmelli, Gerichtsschreiberin Christa Preisig.

Parteien 1. A. , geboren am ( ),

2. B. , geboren am ( ), Sri Lanka, vertreten durch MLaw Joana Mösch, Beschwerdeführerinnen,

gegen

Staatssekretariat für Migration SEM,

Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Gegenstand Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren);

Verfügung des SEM vom 28. Februar 2020.

Sachverhalt:

A.

Die Beschwerdeführerin 1 reiste am 23. Oktober 2019 in die Schweiz ein und ersuchte um Asyl. Anlässlich der Personalienaufnahme vom 28. Oktober 2019 gab sie an, im ( ) Monat schwanger zu sein. Vater des ungeborenen Kindes sei ihr in der Schweiz niederlassungsberechtigter Verlobter, C. (Akten der Vorinstanz [SEM-act.] 11 Ziff. 1.14; 3.01; 5).

B.

Ein Abgleich der Fingerabdrücke der Beschwerdeführerin 1 mit der EURODAC-Datenbank ergab, dass sie am 3. April 2012 in Frankreich ein Asylgesuch gestellt hatte (SEM-act. 9; 12).

C.

Am 1. November 2019 gewährte die Vorinstanz der Beschwerdeführerin 1 gemäss Art. 5 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (nachfolgend: Dublin-III-VO) das rechtliche Gehör zu einem allfälligen Nichteintretensentscheid und einer Überstellung nach Frankreich (SEM-act. 17). Die Beschwerdeführerin 1 sagte dabei aus, sie habe seit der Einreichung ihres Asylgesuchs immer in Frankreich gelebt. Ihr Gesuch sei 2014 definitiv abgelehnt worden, seither sei sie in X. angemeldet gewesen und von ihrem Verlobten finanziell unterstützt worden. Sie habe ihn durch Bekannte und Verwandte kennengelernt, und sie hätten 2014 traditionell geheiratet. Die Ehe sei jedoch aufgrund ihres nicht geregelten Aufenthalts nicht staatlich registriert worden. Sie hätten sich fast jedes Wochenende und manchmal auch abends gesehen, wenn ihr Partner früher Feierabend gehabt habe. Sie sei nicht früher in die Schweiz gekommen, weil sie gedacht habe, sie könnte in Frankreich einen geregelten Aufenthaltsstatus bekommen. Gesundheitlich gehe es ihr schlecht, sie sei immer unruhig und angespannt. Sie könne nicht schlafen und habe starke Schmerzen in den Beinen (SEM-act. 17).

D.

Die Vorinstanz richtete am 4. November 2019 ein Informationsersuchen gemäss Art. 34 Dublin-III-VO an die französischen Behörden (SEMact. 15).

E.

Am 12. November 2019 führte die Vorinstanz mit der Beschwerdeführerin 1 ein erweitertes Dublin-Gespräch durch. In Ergänzung zu ihren Aussagen vom 1. November 2019 machte sie geltend, sie beabsichtige, ihren Partner in der Schweiz standesamtlich zu heiraten. Sie würden sich anlässlich der beim Zivilstandsamt vereinbarten Besprechung betreffend Kindsanerkennung auch bezüglich einer Heirat erkundigen. Sie reichte zudem ein Schreiben ihres Verlobten zu den Akten, in welchem dieser die Beziehung, die religiöse Hochzeit und den Wunsch nach dem Zusammenleben mit der Beschwerdeführerin 1 und dem erwarteten gemeinsamen Kind bestätigte (SEM-act. 18).

F.

Am ( ) 2019 wurde die Beschwerdeführerin 2 geboren (SEM-act. 22).

G.

Die französischen Behörden kamen am 10. Dezember 2019 dem Informationsersuchen des SEM vom 4. November 2019 nach und erteilten Auskunft zum Asylverfahren der Beschwerdeführerin 1 in Frankreich (SEMact. 24). Auf Ersuchen der Schweiz vom 19. Dezember 2019 hin ergänzten sie diese Angaben am 7. Februar 2020 (SEM-act. 44).

H.

Am 19. Dezember 2019 ersuchte das SEM die französischen Behörden um Rückübernahme der Beschwerdeführerin 1 und ihres Kindes gemäss Art. 18 Abs. 1 Bst. d Dublin-III-VO (SEM-act. 26). Dieses Gesuch blieb innerhalb der in den Art. 22 Abs. 1 und 6 und Art. 25 Abs. 1 Dublin-III-VO vorgesehenen Frist unbeantwortet (SEM-act. 34).

I.

Mit Schreiben vom 20. Dezember 2019 (zweiter Zustellversuch am 2. Januar 2020) gewährte das SEM C. das rechtliche Gehör zur Familienbeziehung (SEM-act. 30-32). Dieser gab in seinem Schreiben vom

9. Januar 2020 an, die Beschwerdeführerin 1 und er hätten all ihre Doku-

mente beim Zivilstandsamt Y.

eingereicht, sie müssten für die

Eheschliessung jedoch noch warten, bis ihr Kind zivilstandsrechtlich registriert sei. Im Übrigen bestätigte er, jedes Wochenende mit dem Auto zu seiner Partnerin gefahren zu sein und verwies auf Fotos der religiösen Trauung (SEM-act. 36).

J.

Am 16. Januar 2020 hiessen die französischen Behörden das Ersuchen um Übernahme der Beschwerdeführerinnen nachträglich gut (SEMact. 37).

K.

Mit Schreiben vom 31. Januar 2020 räumte die Vorinstanz der Beschwerdeführerin 1 erneut rechtliches Gehör hinsichtlich der Zuständigkeit Frankreichs für ihr Asylverfahren ein und forderte sie zur Einreichung von Belegen für die Dauer und «Gelebtheit» der Beziehung zu ihrem Verlobten auf (SEM-act. 42). Sie nahm am 7. Februar 2020 schriftlich Stellung und bekräftigte, dass die Ehevorbereitungen im Gang seien, das Zivilstandsamt Z. jedoch noch Unterlagen betreffend Vaterschaftsanerkennung aus V. benötige, weshalb noch nicht standesamtlich habe geheiratet werden können (SEM-act. 46). Mit Eingabe vom 11. Februar 2020 reichte sie zwei Schreiben von Freunden und eines ihrer Schwiegereltern zu den Akten, die bestätigen, dass eine religiöse Ehe und eine gelebte Beziehung vorlägen (SEM-act. 48).

L.

Mit Verfügung vom 28. Februar 2020 (selbentags eröffnet) trat das SEM in Anwendung von Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG (SR 142.31) auf das Asylgesuche der Beschwerdeführerin 1 nicht ein und verfügte die Überstellung von ihr und ihrer Tochter nach Frankreich. Gleichzeitig verfügte es den Vollzug der Wegweisung und stellte fest, einer allfälligen Beschwerde gegen den Entscheid komme keine aufschiebende Wirkung zu (SEM-act. 54; 55).

M.

Mit Beschwerde vom 6. März 2020 an das Bundesverwaltungsgericht beantragte die Beschwerdeführerin, die Verfügung vom 28. Februar 2020 sei aufzuheben und auf ihr Asylgesuch sei einzutreten, eventualiter sei die Sache zur rechtsgenüglichen Sachverhaltsabklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht beantragte sie die Gewährung der aufschiebenden Wirkung und die Aussetzung von Vollzugshandlungen. Ferner beantragte sie die unentgeltliche Prozessführung und den Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses (Akten des Bundesverwaltungsgerichts [BVGer-act.] 1).

N.

Am 9. März 2020 lagen dem Bundesverwaltungsgericht die vorinstanzlichen Akten in elektronischer Form vor (vgl. Art. 109 Abs. 3 AsylG). Gleichentags verfügte die Instruktionsrichterin gestützt auf Art. 56 VwVG einen superprovisorischen Vollzugsstopp (BVGer-act. 2).

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Verfügungen der Vorinstanz betreffend Nichteintreten auf das Asylgesuch und Wegweisung sind mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht anfechtbar (Art. 31 ff. VGG i.V.m. Art. 5 VwVG). Dieses entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel - und so auch vorliegend - endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

    2. Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

    3. Die Beschwerdeführerin 1 und ihre Tochter sind als Verfügungsadressaten zur Beschwerde legitimiert. Auf das im Übrigen fristund formgerecht eingereichte Rechtsmittel ist einzutreten (Art. 105 und Art. 108 Abs. 3 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 VwVG).

    4. Über offensichtlich unbegründete Beschwerden wird in einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise einer zweiten Richterin entschieden (Art. 111 Bst. e AsylG), wobei es sich - wie nachfolgend aufgezeigt wird - vorliegend um eine solche handelt. Auf die Durchführung eines Schriftenwechsels ist zu verzichten und das Urteil nur summarisch zu begründen (Art. 111a Abs. 1 und 2 AsylG).

2.

Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).Bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, mit denen es das SEM ablehnt, das Asylgesuch auf seine Begründetheit hin zu überprüfen (Art. 31a Abs. 1-3 AsylG), ist die Beurteilungskompetenz der Beschwerdeinstanz grundsätzlich auf die Frage beschränkt, ob die Vorinstanz zu Recht auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 3.1; 2012/4 E. 2.2, je m.w.H.).

3.

    1. Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsuchende in einen Drittstaat ausreisen können, der für die Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist (Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG). Zur Bestimmung des staatsvertraglich zuständigen Staates prüft das SEM die Zuständigkeitskriterien gemäss Dublin-III-VO. Führt diese Prüfung zur Feststellung, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylgesuchs zuständig ist, tritt das SEM, nachdem der betreffende Mitgliedstaat einer Überstellung oder Rücküberstellung zugestimmt hat, auf das Asylgesuch nicht ein (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 6.2).

    2. Gemäss Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO wird jeder Asylantrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Asylantrag gestellt wird (Art. 20 Abs. 1 Dublin-III-VO). Im Fall eines sogenannten Aufnahmeverfahrens (engl.: «take charge») sind die in Kapitel III (Art. 8-15 Dublin-III-VO) genannten Kriterien in der dort aufgeführten Rangfolge (Prinzip der Hierarchie der Zuständigkeitskriterien; vgl. Art. 7 Abs. 1 Dublin-III-VO) anzuwenden, und es ist von der Situation im Zeitpunkt, in dem der Antragsteller erstmals einen Antrag in einem Mitgliedstaat gestellt hat, auszugehen (Art. 7 Abs. 2 Dublin-III-VO). Im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens (engl.: «take back») findet demgegenüber grundsätzlich keine (erneute) Zuständigkeitsprüfung nach Kapitel III statt (vgl. zum Ganzen BVGE 2017 VI/5 E. 6.2 und 8.2.1 m.w.H.).

    3. Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in jenem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2012/C 326/02, nachfolgend: EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen, ist zu prüfen, ob aufgrund dieser Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Kann kein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden, wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat (Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO).

    4. Der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist verpflichtet, einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dessen Antrag abgelehnt wurde und der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat

      oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Massgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wiederaufzunehmen (Art. 18 Abs. 1 Bst. d Dublin-III-VO).

    5. Jeder Mitgliedstaat kann abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO beschliessen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist (Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO; sog. Selbsteintrittsrecht).

4.

    1. Das SEM hat gestützt auf den Abgleich der Fingerabdrücke der Beschwerdeführerin 1 mit der EURODAC-Datenbank (SEM-act. 9) ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 Bst. d Dublin-III-VO an die französischen Behörden gestellt (SEM-act. 26). Diese liessen das Übernahmeersuchen innerhalb der in Art. 25 Abs. 1 Dublin-III-VO vorgesehenen Frist unbeantwortet, womit sie die Zuständigkeit Frankreichs implizit anerkannten (vgl. Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO). Sie stimmten der Übernahme beider Beschwerdeführerinnen zudem nachträglich ausdrücklich zu (SEM-act. 37). Die grundsätzliche Zuständigkeit Frankreichs ist somit gegeben.

    2. Die Beschwerdeführerinnen bestreiten die Zuständigkeit Frankreichs für die Durchführung ihres Asylund Wegweisungsverfahrens grundsätzlich nicht. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen in Frankreich systemische Schwachstellen aufwiesen. Die mit Hinweisen auf die beigelegte «Notiz Frankreich» der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, Erfahrungsberichte von Asylsuchenden und Zeitungsartikel von den Beschwerdeführerinnen geäusserte Kritik am französischen Asylsystem gibt keinen Anlass zu einer Änderung der Rechtsprechung. Das Bundesverwaltungsgericht geht trotz der in der Beschwerde geäusserten Befürchtung, bei einer Überstellung nach Frankreich als alleinstehende Mutter mit einem nunmehr ( ) Kind nicht angemessen untergebracht und betreut zu werden, davon aus, Asylsuchende in Frankreich erhielten die von der Aufnahmerichtlinie garantierten Grundleistungen und hätten dort somit auch keine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu befürchten (vgl. zuletzt etwa Urteil des BVGer F-612/2020 vom 11. Februar 2020 E. 5.2 m.H.). Es gibt somit keinen Grund für die Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO.

5.

    1. Die Beschwerdeführerin1 macht allerdings geltend, eine Wegweisung würde aufgrund ihrer bevorstehenden zivilrechtlichen Trauung mit ihrem in der Schweiz niederlassungsberechtigten Verlobten - dem Vater der Beschwerdeführerin 2 - gegen Art. 8 EMRK verstossen. Sie fordert damit die Anwendung von Art. 9 und 16 Dublin-III-VO sowie der Ermessensklausel von Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO, respektive der - das Selbsteintrittsrecht im Landesrecht konkretisierenden - Bestimmung von Art. 29a Abs. 3 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311), gemäss welcher das SEM das Asylgesuch «aus humanitären Gründen» auch dann behandeln kann, wenn dafür gemäss Dublin-III-VO ein anderer Staat zuständig wäre.

    2. Art. 16 Dublin-III-VO ist gemäss Wortlaut vorliegend von Vornherein nicht einschlägig. Bei der in dieser Bestimmung genannten familiären Beziehung muss es sich bei der anwesenheitsberechtigten Person um ein Kind, einen Elternteil oder ein Geschwister der antragsstellenden Person handeln (vgl. CHRISTIAN FILZWIESER/ANDREA SPRUNG, Dublin III-Verordnung, Das Europäische Asylzuständigkeitssystem, 2. Aufl. 2014, K1 zu Art. 16 Dublin-III-VO). Beide Beschwerdeführerinnen stehen nicht in einer solchen Beziehung zu C. .

5.3

      1. Das in Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Familienlebens könnte berührt sein, wenn die Überstellung der Beschwerdeführerinnen nach Frankreich eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung zu einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigen würde, ohne dass es dieser möglich beziehungsweise zumutbar wäre, ihr Familienleben andernorts zu pflegen (BGE 144 II 1 E. 6.1 m.H.; 139 I 330 E. 2.1 und E. 2.3). C. verfügt über eine Niederlassungsbewilligung und damit über ein gefestigten Anwesenheitsrecht in der Schweiz.

      2. Zum geschützten Familienkreis gehört in erster Linie die Kernfamilie, das heisst die Gemeinschaft der Ehegatten mit ihren minderjährigen Kindern (BGE 144 II 1 E. 6.1; 135 I 143 E. 1.3.2). Die Beschwerdeführerin 1 und C. machen übereinstimmend geltend, sich im Jahr 2014 in X. religiös getraut zu haben. Sie haben sich jedoch trotz Wissen um die fehlende Rechtskraft der religiösen Trauung und das Primat der Zivilehe (vgl. Art. 97 Abs. 3 ZGB), das beim niederlassungsberechtigten C. vorausgesetzt werden darf, nicht zivilrechtlich trauen lassen.

        Es liegt demnach zum heutigen Zeitpunkt keine rechtsgültig geschlossene Ehe vor, weshalb die Partnerschaft unter diesem Blickwinkel nicht unter den Begriff der Kernfamilie subsumiert werden kann. Daran ändern auch die der Vorinstanz eingereichten undatierten Fotos der Trauung und drei Bestätigungsschreiben von Verwandten und Bekannten nichts. Ähnlich verhält es sich mit der Beziehung C. zur Beschwerdeführerin 2. Zwar wird geltend gemacht, C. habe am 20. März 2020 auf dem

        Zivilstandsamt V.

        einen Termin betreffend Vaterschaftsanerken-

        nung. Sein Verwandtschaftsverhältnis zum ( ) Mädchen steht rechtlich derzeit jedoch noch nicht fest und es bleibt unklar, ob die Anerkennung am

        20. März 2020 dann tatsächlich erfolgen wird.

      3. Neben rechtlich begründeten familiären Verhältnissen beziehungsweise gültig geschlossenen Ehen fallen auch faktische Beziehungen in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK, sofern sie genügend nahe sowie echt sind und tatsächlich gelebt werden. Die partnerschaftliche Beziehung muss dabei seit Langem eheähnlich gelebt werden und bezüglich Art und Stabilität in ihrer Substanz einer Ehe gleichkommen. Als wesentliche Faktoren für eine tatsächlich gelebte Beziehung sind der gemeinsame Haushalt, die finanzielle Verflochtenheit, die Länge und Stabilität der Beziehung, sowie das Interesse und die Bindung der Partner aneinander, etwa durch Kinder oder andere Umstände, wie beispielsweise die Übernahme von wechselseitiger Verantwortung, zu berücksichtigen (BGE 144 II 1 E. 6.1; 135 I 143

        E. 3.1; Urteile des BGer 2C_880/2017 vom 3. Mai 2018 E. 3.1; 2C_208/2015 vom 24. Juni 2015 E. 1.2; Urteil des BVGer F-6672/2019 vom 3. Januar 2020 E. 6.3.3). Die Beschwerdeführerin 1 reichte trotz mehrmaligen Aufforderungen der Vorinstanz, die ihr hierzu dreimal das rechtliche Gehör gewährt und sie explizit zur Einreichung von Belegen eingeladen hat (vgl. 17; 18; 42), keine beweiskräftigen Dokumente zu den Akten. Aktenkundig sind einzig undatierte Fotos der religiösen Trauung (SEMact. 38), schriftliche Auskünfte von C. (SEM-act. 36), ein von der Beschwerdeführerin 1 und C. unterzeichnetes Spitalformular aus dem Jahr 2018 (SEM-act. 40), drei kurze Bestätigungsschreiben von Verwandten und Bekannten (SEM-act. 48) sowie eine E-Mail der Zivilstandsbeamtin von Z. , wonach mit dem Ehevorbereitungsverfahren weitergefahren werden könne, sobald die Vaterschaftsanerkennung stattgefunden habe (BVGer-act. 1 Beilage 2). Allen genannten Belegen kann jedoch nichts hinreichend Konkretes betreffend die Intensität, Stabilität und Ernsthaftigkeit einer gelebten Beziehung entnommen werden.

      4. Zusammengefasst kann zum heutigen Zeitpunkt nicht von einer zivilrechtlichen Trauung und einem rechtlich oder biologisch begründeten Vaterschaftsverhältnis ausgegangen werden. Die eingereichten Belege vermögen nicht darzulegen, dass von einer partnerschaftlichen Beziehung auszugehen wäre, die seit Langem eheähnlich gelebt worden wäre und bezüglich Art und Stabilität in ihrer Substanz einer Ehe gleichkommen würde. Die Vorinstanz hat die diesbezügliche Sachund Rechtslage durch die mehrmalige Gewährung des rechtlichen Gehörs und gezielten Nachfragen nach dem Stand der zivilstandsrechtlichen Verfahren betreffend Eheschliessung und Vaterschaftsanerkennung ausreichend abgeklärt, weshalb keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliegt. Aus demselben Grund ist unter Abweisung des entsprechenden Antrags auch keine Rückweisung der Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz angezeigt.

    1. Soweit die Beschwerdeführerin 1 und ihr Kind sich darauf berufen, dass das Ehevorbereitungsverfahren eingeleitet und der Termin für die Vaterschaftsanerkennung für den 20. März 2020 vereinbart worden sei, sind sie darauf hinzuweisen, dass beide Verfahren ihre Anwesenheit nicht erfordern. Es fragt sich ohnehin, weshalb die entsprechenden Verfahren nicht schon längst und nicht erst unter dem Druck der drohenden Wegweisung im Dublin-Verfahren eingeleitet worden sind. So kann die Kindsanerkennung gemäss Art. 11 Abs. 2 der Zivilstandsverordnung vom 28. April 2004 (ZStV, SR 211.112.2) bereits vor der Geburt erfolgen. Es ist der Beschwerdeführerin 1 und ihrem Kind jedoch unbenommen, für die Eheschliessung zu gegebener Zeit einen Antrag auf eine entsprechende Kurzaufenthaltsbewilligung und ein Gesuch um Familiennachzug zu stellen. Auf letzteren

      hat C.

      als Niederlassungsberechtigter gemäss Art. 43 AIG

      (SR 142.20) ohnehin grundsätzlich einen Anspruch. Diesen hat er gestützt auf das AIG bei der zuständigen kantonalen Migrationsbehörde geltend zu machen. Das von den Beschwerdeführerin 1 eingeleitete Asylverfahren ist hierfür nicht das geeignete rechtliche Instrument, verfolgt es doch primär nicht den Zweck einer Familienzusammenführung, sondern dient der Klärung der Frage, ob die antragsstellende Person internationalen Schutzes bedarf. Somit kommt vorliegend Art. 9 Dublin-III-VO nicht zur Anwendung. Die Beschwerdeführerinnen und C. sind für den Familiennachzug auf den kantonalen Rechtsweg zu verweisen.

    2. Im Übrigen lassen sich den Akten keine Hinweise entnehmen, wonach die Beschwerdeführerinnen an gesundheitlichen Beschwerden litten, die einer Überstellung nach Frankreich entgegenstünden. Die im ersten Dublin-Gespräch geäusserten gesundheitlichen Probleme der Beschwerdeführerin 1 (SEM-act.17) standen im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft. Die Geburt ist gemäss Geburtsbericht komplikationslos verlaufen (SEM-act. 22). Frankreich ist verpflichtet, ihnen bei entsprechendem Bedarf die erforderliche medizinische Versorgung, die zumindest die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten und schweren psychischen Störungen umfasst, zugänglich zu machen (Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates 2013/33/EU vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen).

    3. Soweit die Beschwerdeführerinnen sinngemäss das Vorliegen von

      «humanitären Gründen» geltend machen, ist Folgendes festzuhalten: Gemäss Praxis des Bundesverwaltungsgerichts verfügt das SEM bei der Anwendung der Kann-Bestimmung von Art. 29a Abs. 3 AsylV 1 über einen Ermessensspielraum (vgl. BVGE 2015/9 E. 7 f.). Es beschränkt seine Beurteilung im Wesentlichen darauf, ob das SEM den Sachverhalt diesbezüglich korrekt und vollständig erhoben, allen wesentlichen Umständen Rechnung getragen und seinen Ermessensspielraum genutzt hat (vgl. Art. 106 Abs. 1 Bst. a und b AsylG). Die angefochtene Verfügung ist unter diesem Blickwinkel nicht zu beanstanden; insbesondere sind den Akten keine Hinweise auf einen Ermessensmissbrauch oder ein Überrespektive Unterschreiten des Ermessens zu entnehmen.

    4. Nach dem Gesagten besteht kein Grund für eine Anwendung der Ermessensklauseln von Art. 17 Dublin-III-VO. Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass die Dublin-III-VO den Schutzsuchenden kein Recht einräumt, den ihren Antrag prüfenden Staat selber auszuwählen (vgl. auch BVGE 2010/45 E. 8.3). Somit bleibt Frankreich der für die Behandlung des Asylverfahrens der Beschwerdeführerin 1 und ihrer Tochter zuständige Mitgliedstaat gemäss Dublin-III-VO.

6.

Das SEM ist demnach zu Recht in Anwendung von Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG auf das Asylgesuch der Beschwerdeführerin 1 und ihrer Tochter nicht eingetreten. Da sie nicht im Besitz einer gültigen Aufenthaltsoder Niederlassungsbewilligung sind, wurde die Überstellung nach Frankreich in Anwendung von Art. 44 AsylG ebenfalls zu Recht angeordnet (Art. 32 Bst. a AsylV 1).

7.

Nachdem das Fehlen von Überstellungshindernissen bereits Voraussetzung des Nichteintretensentscheides gemäss Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG ist, sind allfällige Vollzugshindernisse gemäss Art. 83 Abs. 3 und 4 AIG (SR 142.20) unter diesen Umständen nicht mehr zu prüfen (vgl. BVGE 2015/18 E. 5.2 m.w.H.).

8.

Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen und die Verfügung des SEM zu bestätigen. Das Beschwerdeverfahren ist mit vorliegendem Urteil abgeschlossen, weshalb sich der Antrag auf Gewährung der aufschiebenden Wirkung als gegenstandslos erweist. Der am 9. März 2020 angeordnete Vollzugsstopp fällt mit dem vorliegenden Urteil dahin.

9.

Das mit der Beschwerde gestellte Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung ist abzuweisen, da die Begehren - wie sich aus den vorstehenden Erwägungen ergibt - als aussichtslos zu bezeichnen sind. Die Verfahrenskosten sind demnach der Beschwerdeführerin 1 aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG) und auf insgesamt Fr. 750.- festzusetzen (Art. 1-3 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]).

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.

Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird abgewiesen.

3.

Die Verfahrenskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdeführerin 1 auferlegt. Dieser Betrag ist innert 30 Tagen ab Versand des Urteils zugunsten der Gerichtskasse zu überweisen.

4.

Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerinnen, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.

Die Einzelrichterin: Die Gerichtsschreiberin:

Regula Schenker Senn Christa Preisig

Versand:

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