Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung I |
Dossiernummer: | A-6527/2019 |
Datum: | 29.07.2020 |
Leitsatz/Stichwort: | Mehrwertsteuer |
Schlagwörter : | Steuer; Steuerperiode; Verjährung; Forderung; MWSTG; Recht; Steuerforderung; Einsprache; Kontrolle; Sachverhalt; Mehrwertsteuer; Urteil; Einspracheentscheid; Festsetzung; Vorinstanz; Steuerperioden; Verjährungsfrist; Verfahren; Verfügung; Bundesverwaltungsgericht; Einschätzungsmitteilung; Festsetzungsverjährung; Verfahrens; Steuerpflichtigen; Entgelt; Erwägung; BVGer; Person |
Rechtsnorm: | Art. 13 BV ;Art. 34 MWSTG ;Art. 35 MWSTG ;Art. 39 MWSTG ;Art. 40 MWSTG ;Art. 42 MWSTG ;Art. 43 MWSTG ;Art. 48 BGG ;Art. 48 VwVG ;Art. 52 VwVG ;Art. 63 VwVG ;Art. 64 VwVG ;Art. 71 MWSTG ;Art. 78 MWSTG ;Art. 81 MWSTG ; |
Referenz BGE: | 119 V 347; 126 II 1; 130 V 1; 131 II 200; 133 II 35; 133 II 366; 134 V 315; 137 II 17; 138 II 169; 140 II 202; 140 II 248; 142 II 182; 144 I 340 |
Kommentar: | Geiger, Schluckebier, Kommentar zum Bundesgesetz über die Mehrwertsteuer [nachfolgend: MWSTG-Kommentar ], Art. 34 MWSTG, 2019 Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
Abteilung I
A-6527/2019
Besetzung Richter Daniel Riedo (Vorsitz), Richterin Annie Rochat Pauchard, Richterin Sonja Bossart Meier,
Gerichtsschreiberin Zulema Rickenbacher.
[ ],
vertreten durch
Simone Gasser, Rechtsanwältin, [ ],
Beschwerdeführerin,
gegen
Hauptabteilung Mehrwertsteuer, [ ],
Vorinstanz.
Gegenstand MWST; Verjährung (2011-2013).
Bei der A. AG (nachfolgend: Steuerpflichtige) handelt es sich gemäss Eintrag im Handelsregister um eine im Immobiliengeschäft tätige Gesellschaft. Seit dem [Datum] 2004 ist sie im Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen der Eidgenössischen Steuerverwaltung (nachfolgend: ESTV) eingetragen. Gemäss Kontrollbericht Nr. [ ] vom [Datum] 2017 rechnet die Steuerpflichtige nach vereinnahmten Entgelten ab (vgl. nachfolgend E. 2.1.2 und E. 3.2)
Anlässlich einer gemäss Modul 11 des Kontrollberichts «im Frühsommer 2015» bzw. gemäss angefochtenem Einspracheentscheid «im April 2016» (recte wohl April 2015) mündlich angekündigten Mehrwertsteuerkontrolle wurden die Steuerperioden 2011 bis und mit 2013 (Zeitraum vom
1. Januar 2011 bis zum 31. Dezember 2013) überprüft. Vor Ort begonnen wurde mit der Kontrolle gemäss Modul 11 des Kontrollberichts im «Herbst 2015». Im Zuge dieser Kontrolle wurde festgestellt, dass die Bücher der Steuerpflichtigen nicht in Ordnung waren.
Mit Einschätzungsmitteilung Nr. [ ] vom 17. März 2017 setzte die ESTV die Steuerforderung - gemäss den gestützt auf die Kontrolle vorgenommenen Korrekturen - für die genannten Steuerperioden fest. Die Einschätzungsmitteilung ging der Steuerpflichtigen gemäss Zustellnachweis am 27. März 2017 zu.
Mit Schreiben vom 10. April 2017 bestritt die Steuerpflichtige die Richtigkeit der Einschätzungsmitteilung vom 17. März 2017, wobei die Begründung erst in Aussicht gestellt wurde. Mit Schreiben vom 3. Juli 2017 ersuchte die Steuerpflichtige um eine Fristerstreckung zur Einreichung der Begründung bis «vorläufig Ende September 2017». Es folgten diverse Fristerstreckungsgesuche, bis die Steuerpflichtige schliesslich mit Eingabe vom 26. Januar 2018 die Begründung ihrer Bestreitung vom 10. April 2017 nachreichte. Soweit hier interessierend, äusserte sich die Steuerpflichtige dahingehend, dass die Umsatzaufrechnungen korrekt erscheinen würden, dass jedoch ein spiegelbildlicher Vorsteuerabzug bei ihrer Schwesternunternehmung, der B. AG, zu berücksichtigen sei, sofern diese einen solchen nachträglich noch nicht geltend gemacht habe. Sodann wurde eingewendet, die ESTV habe für das Jahr 2010 zu Unrecht den alten MWSTSatz von 7.6% und nicht denjenigen von 8% angewendet.
Nach Prüfung der Vorbringen der Steuerpflichtigen, erliess die ESTV am 11. März 2019 eine Verfügung. Mit dieser setzte sie die Steuerforderung für die Steuerperioden 2010 bis und mit 2013 fest. Dabei ergab sich eine Steuerkorrektur zu Gunsten der ESTV im Betrag von insgesamt Fr. 595'832.-- zuzüglich Verzugszins von 4% ab dem 31. August 2012 nach.
Gegen die genannte Verfügung erhob die Steuerpflichtige mit Eingabe vom 5. April 2019 Einsprache und stellte folgende Anträge:
Es sei festzustellen, dass die Mehrwertsteuerforderung gegenüber der Steuerpflichtigen verjährt sei.
Eventualiter: Das Einspracheverfahren sei bis auf Weiteres zu sistieren.
Subeventualiter: Die Verfügung vom 11. März 2019 sei aufzuheben und die Mehrwertsteuerforderung gegenüber der Steuerpflichtigen sei für die Steuerperioden 2010 - 2013 neu festzusetzen.
Anlässlich ihres Einspracheentscheides vom 7. November 2019 hielt die ESTV fest, betreffend die Steuerperiode 2010 sei die Festsetzungsverjährung bereits eingetreten, zumal die Verjährungsfrist am 2. März 2011 neu begonnen und durch die Einschätzungsmitteilung vom 17. März 2017 nicht rechtzeitig unterbrochen worden sei. Entsprechend wurde die Einsprache der Steuerpflichtigen in diesem Punkt gutgeheissen und die von der ESTV vorgenommenen Korrekturen betreffend die Steuerperiode 2010 annulliert. Betreffend die Steuerperioden 2011 und 2012 wurden demgegenüber folgende Nachforderungen geltend gemacht: Fr. 405'473.-- (2011) und Fr. 94'200.-- (2012). Für die Steuerperiode 2013 ergab die Neuberechnung eine Differenz zu Gunsten der Steuerpflichtigen in Höhe von Fr. 43'862.--. Demgemäss forderte die ESTV von der Steuerpflichtigen für die Steuerperioden 2011 bis und mit 2013 insgesamt Fr. 455'811.-- zuzüglich Verzugszins von 4% ab dem 31. August 2012 nach.
Mit Eingabe vom 9. Dezember 2019 erhob die Steuerpflichtige (nachfolgend: Beschwerdeführerin) gegen den genannten Einspracheentscheid Beschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht. Beantragt wird - unter Kostenund Entschädigungsfolge zu Lasten der ESTV - die Aufhebung des angefochtenen Entscheides mit der Feststellung, dass die Mehrwertsteuerforderungen gemäss angefochtenem Entscheid für die Steuerperioden 2010 bis und mit 2013 verjährt seien.
Mit Vernehmlassung vom 17. April 2020 beantragt die ESTV (nachfolgend: Vorinstanz), die Beschwerde sei in Bezug auf die Steuerperiode 2011 aufgrund eingetretener Verjährung gutzuheissen, im Übrigen aber abzuweisen und der angefochtene Einspracheentscheid zu bestätigen; dies unter Kostenfolge zu Lasten der Beschwerdeführerin.
Auf die konkreten Ausführungen der Parteien sowie die eingereichten Unterlagen wird - soweit entscheidwesentlich - im Rahmen der nachfolgenden Erwägungen eingegangen.
Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Vorliegend stellt der angefochtene Einspracheentscheid vom 7. November 2019 eine solche Verfügung dar. Eine Ausnahme nach Art. 32 VGG liegt nicht vor. Die Vorinstanz ist zudem eine Behörde im Sinn von Art. 33 VGG. Das Bundesverwaltungsgericht ist demnach für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde zuständig.
Das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht richtet sich nach dem VwVG, soweit das VGG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG).
Die Beschwerdeführerin ist als Adressatin des angefochtenen Einspracheentscheides zur Beschwerde legitimiert (vgl. Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die im Übrigen fristund formgerecht eingereichte Beschwerde (Art. 50 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 VwVG) ist - unter Vorbehalt des nachfolgend unter Erwägung 1.4 Gesagten - einzutreten.
Anfechtungsobjekt im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht bildet einzig der vorinstanzliche Entscheid (vorliegend der Einspracheentscheid vom 7. November 2019), soweit er im Streit liegt. Das Anfechtungsobjekt bildet den Rahmen, welcher den möglichen Umfang des Streitgegenstandes begrenzt (BGE 133 II 35 E. 2). Letzterer darf im Laufe des Beschwerdeverfahrens eingeschränkt, jedoch nicht erweitert oder qualitativ verändert werden (vgl. BGE 131 II 200 E. 3.2; BVGE 2010/19 E. 2.1; statt vieler: Urteil des BVGer A-477/2018 vom 11. September 2018 E. 1.5). Gegenstand des Beschwerdeverfahrens kann nur sein, was Gegenstand
des erstinstanzlichen Verfahrens war oder nach richtiger Gesetzesauslegung hätte sein sollen (BVGE 2010/12 E. 1.2.1). Worüber die erste Instanz nicht entschieden hat und auch nicht entscheiden musste, darf auch die zweite Instanz grundsätzlich nicht bestimmen (vgl. statt vieler: Urteil des BVGer A-5445/2017 vom 3. Januar 2019 E 1.4.1).
Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz bereits im Rahmen des Einspracheentscheides entschieden, dass die Festsetzungsverjährung betreffend die Steuerperiode 2010 eingetreten ist. Entsprechend wurde die Einsprache in diesem Punkt gutgeheissen und die diesbezügliche Nachforderung von der Vorinstanz aufgehoben (vgl. Sachverhalt Bst. A.g). Somit ist die Beschwerdeführerin in Bezug auf die Steuerperiode 2010 nicht mehr beschwert, womit diese Steuerperiode auch nicht Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens bilden kann. In diesem Umfang ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.
Im Beschwerdeverfahren gilt der Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen. Das Bundesverwaltungsgericht ist verpflichtet, auf den unter Mitwirkung der Verfahrensbeteiligen festgestellten Sachverhalt die richtigen Rechtsnormen und damit jenen Rechtssatz anzuwenden, den es als den zutreffenden erachtet, und ihm jene Auslegung zu geben, von der es überzeugt ist (BGE 119 V 347 E. 1a; ANDRÉ MOSER/MICHAEL BEUSCH/LORENZ KNEUBÜHLER, Prozessieren vor dem Bundesverwaltungsgericht, 2013, Rz. 1.54).
Gemäss der Untersuchungsmaxime trägt die Behörde die Beweisführungslast (sog. subjektive oder formelle Beweislast). Gelangt der Richter trotz genügender Abklärung des Sachverhalts unter Respektierung des Untersuchungsgrundsatzes und aufgrund der (freien) Beweiswürdigung (vgl. Art. 81 Abs. 3 MWSTG) nicht zur Überzeugung, eine rechtserhebliche Tatsache habe sich verwirklicht, so stellt sich die Frage, ob zum Nachteil der Steuerbehörde oder des Steuerpflichtigen zu entscheiden ist, mit anderen Worten, wer die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen hat (sog. materielle Beweislast; zum Ganzen: Urteil des BVGer A-5892/2018 vom 4. Juli 2019 E. 1.5.2). Im Steuerrecht gilt grundsätzlich, dass die Steuerbehörde für die steuerbegründenden und steuererhöhenden Tatsachen beweisbelastet ist, während der steuerpflichtigen Person der Nachweis der Tatsachen obliegt, welche die Steuerschuld mindern oder aufheben (statt vieler: BGE 140 II 248 E. 3.5, 121 II 257 E. 4 c/aa und E. 3 c sowie Urteile des
BVGer A-3050/2015 vom 6. Oktober 2015 E. 1.4 und A-5556/2019 vom 28. Mai 2020 E. 1.3.2).
Nach den allgemeinen intertemporalen Regeln sind in verfahrensrechtlicher Hinsicht diejenigen Rechtssätze massgebend, welche im Zeitpunkt der Beschwerdebeurteilung Geltung haben (vgl. BGE 130 V 1
E. 3.2); dies unter Vorbehalt spezialgesetzlicher Übergangsbestimmungen. In materieller Hinsicht sind dagegen grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts Geltung hatten (vgl. BGE 134 V 315 E. 1.2; zum Ganzen: Urteil des BVGer A-5445/2017 vom 3. Januar 2019 E. 1.6.1).
Der vorliegende Sachverhalt betrifft die Steuerperioden 2011, 2012 und 2013. Damit kommt in materieller Hinsicht das am 1. Januar 2010 in Kraft getretene Mehrwertsteuergesetz - in der jeweils gültigen Fassung - zur Anwendung. Dies gilt insbesondere auch für die Bestimmungen zur Verjährung, zumal es sich dabei nicht um Verfahrensrecht sondern ein materiell-rechtliches Institut handelt (BGE 137 II 17 E. 1.1, BGE 126 II 1 E. 2a; Urteil des BVGer A-5410/2016 vom 8. November 2017 E. 1.3.2; MICHAEL BEUSCH, Der Untergang der Steuerforderung, 2012, S. 282 m.w.H.).
Gemäss Art. 1 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 12. Juni 2009 über die Mehrwertsteuer (Mehrwertsteuergesetz, MWSTG; SR 641.20) erhebt der Bund gestützt auf Art. 130 BV eine allgemeine Verbrauchssteuer nach dem System der Netto-Allphasensteuer (Mehrwertsteuer). Die Steuer bezweckt die Besteuerung des nicht unternehmerischen Endverbrauchs im Inland (Art. 1 Abs. 1 MWSTG). Soweit hier interessierend, wird als Mehrwertsteuer eine Steuer auf den im Inland von steuerpflichtigen Personen gegen Entgelt erbrachten Leistungen erhoben (Inlandsteuer; Art. 1 Abs. 2 Bst. a MWSTG).
Über die Steuer wird grundsätzlich nach vereinbarten Entgelten abgerechnet (vgl. Art. 39 Abs. 1 MWSTG), wobei die ESTV der steuerpflichtigen Person auf Antrag gestattet, über die Steuer nach vereinnahmten Entgelten abzurechnen (Art. 39 Abs. 2 MWSTG). Im Falle der Abrechnung nach vereinnahmten Entgelten - wie sie die Beschwerdeführerin vornimmt (vgl. Sachverhalt Bst. A.a) - entsteht die Umsatzsteuerschuld mit der Vereinnahmung des Entgelts (Art. 40 Abs. 2 MWSTG).
Die Veranlagung und Entrichtung der Inlandsteuer erfolgt nach dem Selbstveranlagungsprinzip. Dies bedeutet, dass der Leistungserbringer selbst für die Feststellung der Mehrwertsteuerpflicht bzw. -forderung verantwortlich ist (vgl. BGE 140 II 202 E. 5.4; Urteile des BVGer A-1418/2018 vom 24. April 2019 E. 2.2, A-2788/2018 vom 27. September 2018 E. 2.6; nichts daran ändert, dass neuere deutschsprachige Bundesgerichtsentscheide von «modifizierter Selbstveranlagung» sprechen [BGE 144 I 340 E. 2.2.1, mit Hinweisen]; vgl. zum Ganzen: Urteil des BVGer A-2978/2019 vom 30. April 2020 E. 2.2.1).
Gemäss Art. 34 Abs. 1 Bst. a MWSTG wird die Mehrwertsteuer je
«Steuerperiode» erhoben. Als Steuerperiode gilt grundsätzlich das Kalenderjahr (vgl. Art. 34 Abs. 2 und Abs. 3 MWSTG). Dies stellt gegenüber dem bis Ende 2009 geltenden Recht insofern eine Neuerung dar, als dass die Steuerperiode erstmals klar definiert wird (MICHAEL BEUSCH, in: Geiger/Schluckebier [Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über die Mehrwertsteuer [nachfolgend: MWSTG-Kommentar 2019], 2. Aufl. 2019, N 5 zu Art. 34). Innerhalb der Steuerperiode erfolgt die Abrechnung der Steuer in der Regel vierteljährlich (Art. 35 Abs. 1 Bst. a MWSTG). Das heisst, eine Steuerperiode umfasst grundsätzlich vier «Abrechnungsperioden» à drei Monate (Quartalsabrechnungen). Nach Art. 71 Abs. 1 MWSTG hat die steuerpflichtige Person gegenüber der ESTV innert 60 Tagen nach Ablauf der Abrechnungsperiode unaufgefordert in der vorgeschriebenen Form über die Steuerforderung abzurechnen.
Rechtskräftig wird die Steuerforderung durch eine in Rechtskraft erwachsene Verfügung, einen in Rechtskraft erwachsenen Einspracheentscheid oder ein in Rechtskraft erwachsenes Urteil (Art. 43 Abs. 1 Bst. a MWSTG), die schriftliche Anerkennung oder die vorbehaltlose Bezahlung einer Einschätzungsmitteilung durch die steuerpflichtige Person (Art. 43 Abs. 1 Bst. b MWSTG) oder den Eintritt der Festsetzungsverjährung (Art. 43 Abs. 1 Bst. c MWSTG).
Das Recht, eine Steuerforderung festzusetzen, verjährt gemäss Art. 42 Abs. 1 MWSTG fünf Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden ist («relative Verjährungsfrist»).
Die Verjährung kann unterbrochen werden. Das bedeutet, dass die Verjährungsfrist im Zeitpunkt des Zugangs der verjährungsunterbrechenden
Erklärung oder Handlung neu zu laufen beginnt (BAUMGARTNER/CLAVADETSCHER/KOCHER, Vom alten zum neuen Mehrwertsteuergesetz, 2010, § 8 N 45). Wird die Verjährung durch die steuerpflichtige Person unterbrochen, beträgt die relative Frist ab Unterbrechung wiederum fünf Jahre. Wird die Verjährung hingegen durch die ESTV oder eine Rechtsmittelinstanz unterbrochen, so beträgt die neu beginnende Frist zwei Jahre (vgl. Art. 42 Abs. 3 MWSTG). Diese relative Verjährungsfrist kann bis zum Zeitpunkt der «absoluten Festsetzungsverjährung» (vgl. nachfolgend E. 2.3.2) unterbrochen werden (Art. 42 Abs. 2 und Abs. 6 MWSTG; vgl. BLUM, in: MWSTG-Kommentar 2019, N 32 zu Art. 78).
Verjährungsunterbrechend wirken gemäss Art. 42 Abs. 2 MWSTG eine
«auf Festsetzung oder Korrektur der Steuerforderung gerichtete empfangsbedürftige schriftliche Erklärung», eine «Verfügung», ein «Einspracheentscheid» oder ein «Urteil». Sodann wird die Verjährungsfrist auch mit der (schriftlichen) Ankündigung einer Kontrolle nach Art. 78 Abs. 3 MWSTG oder mit dem Beginn einer unangekündigten Kontrolle unterbrochen.
Das Recht, die Steuerforderung festzusetzen, verjährt in jedem Fall zehn Jahre nach Ablauf der Steuerperiode, in der die Steuerforderung entstanden ist («absolute Verjährungsfrist»; Art. 42 Abs. 6 MWSTG).
Die Verjährung der Mehrwertsteuerforderung ist von Amtes wegen zu prüfen (BGE 142 II 182 E. 3.2.1, BGE 138 II 169 E. 3.2, BGE 133 II 366
E. 3.3; BVGE 2009/12 E. 6.3.1).
Im vorliegenden Verfahren bestreitet die Beschwerdeführerin die konkrete Höhe der mit Einspracheentscheid vom 7. November 2019 festgesetzte Steuernachforderung von gesamthaft Fr. 455'811.-- für die Steuerperioden 2011 bis und mit 2013 nicht. Sie verweist lediglich darauf, dass die Festsetzungsverjährung betreffend die Steuerperioden 2010 - 2013 bereits eingetreten sei (vgl. Sachverhalt Bst. B.a). Somit bildet weder die Begründetheit noch die Höhe der Forderung Streitgegenstand (E. 1.4) und es ist im Rahmen des vorliegenden Verfahrens einzig die Verjährungsfrage betreffend die Steuerperioden 2011, 2012 und 2013 zu klären. Was die Steuerperiode 2010 betrifft, wird auf Erwägung 1.4.2 verwiesen.
Das Gericht hat den Eintritt der Verjährung von Amtes wegen zu prüfen (vgl. E. 2.3.3). Das bedeutet, dass ein Beschwerdeführer die Verjährung
nicht selbst geltend zu machen braucht, damit sie - falls eingetreten - berücksichtigt wird. Umgekehrt hat dies auch zu bedeuten, dass das Gericht den Eintritt der Verjährung ebenso unabhängig zu prüfen hat, wenn die Vorinstanz - wie im vorliegenden Fall - anlässlich der Vernehmlassung im Beschwerdeverfahren zum Ergebnis gelangt, die Festsetzungsverjährung sei in Bezug auf eine bestimmte Steuerperiode bereits eingetreten (vgl. nachfolgend E. 3.2.1.3).
Wie erwähnt, verjährt das Recht, eine Steuerforderung festzusetzen, fünf Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden ist (E. 2.3.1). Die «Steuerforderung» bzw. die «Steuerschuld» entsteht gemäss Gesetz im Falle der Abrechnung nach vereinnahmten Entgelten
wie sie die Beschwerdeführerin vornimmt (Sachverhalt Bst. A.a) - zum Zeitpunkt der Vereinnahmung des Entgelts (E. 2.1.2).
Für die hier zu prüfenden Steuerperiode 2011 bedeutet dies im vorliegenden Fall Folgendes:
Alle Entgelte, welche die Beschwerdeführerin im Jahr 2011 für steuerbare Leistungen vereinnahmt hat, sind für die Berechnung der Steuerschuld bzw. Steuerforderung für die Steuerperiode 2011 heranzuziehen (vgl. E. 2.1.2). Daraus folgt, dass die gesamte Steuerschuld bzw. Steuerforderung für die Steuerperiode 2011 zwischen dem 1. Januar 2011 und dem 31. Dezember 2011 entstanden ist. Da das Recht, die Steuerforderung festzusetzen, nach dem unmissverständlichen Gesetzeswortlaut, fünf Jahre «nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem die Steuerforderung entstanden ist» endet, begann die Verjährungsfrist für die gesamte Steuerforderung der Steuerperiode 2011 am 1. Januar 2012 und hätte - ohne Unterbruch - am 31. Dezember 2016 geendet. Daraus wird ersichtlich, dass die Argumentation der Beschwerdeführerin, wonach jede einzelne Quartalsabrechnung eine eigene Verjährungsfrist auslöse, welche individuell unterbrochen werden müsse, jeder Grundlage entbehrt.
Wie in Erwägung 2.3.1 festgehalten, kann die Festsetzungsverjährung unterbrochen werden. Dies geschieht gemäss Gesetz u.a. durch eine auf Festsetzung oder Korrektur der Steuerforderung gerichtete empfangsbedürftige schriftliche Erklärung, eine Verfügung, einen Einspracheentscheid oder ein Urteil. Da Verfügungen im Gesetz explizit neben den «empfangsbedürftigen schriftlichen Erklärungen» genannt werden, steht - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin - fest, dass Letztere keine
Verfügungen sein und auch keinen Verfügungscharakter aufweisen müssen. Auch Einschätzungsmitteilungen sind schriftliche Erklärungen, welche der Festsetzung bzw. Korrektur der Steuerforderung dienen. Dass ihnen verjährungsunterbrechende Wirkung zukommt, hat das Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden (vgl. Urteil A-6544/2012 vom 12. September 2013 E. 4.5).
Im vorliegenden Fall begann die Verjährungsfrist am 1. Januar 2012 zu laufen und hätte ohne Unterbrechung am 31. Dezember 2016 geendet (E. 3.2.1.1). Da die Einschätzungsmitteilung der ESTV der Beschwerdeführerin erst am 27. März 2017 zugegangen ist (vgl. Sachverhalt Bst. A.c), geht die Vorinstanz (allerdings erst seit ihrer Vernehmlassung im vorliegenden Beschwerdeverfahren) davon aus, dass die Festsetzungsverjährung betreffend die Steuerperiode 2011 bereits eingetreten ist - und zwar selbst unter ihrer Annahme, dass der 4. Quartalsabrechnung, welche am 21. März 2012 eingereicht worden war, verjährungsunterbrechende Wirkung zukomme. Das Gericht erachtet letztere Annahme als fraglich, verzichtet aber an dieser Stelle auf weitere Ausführungen diesbezüglich, zumal sich die Beantwortung dieser Frage im vorliegenden Fall als nicht entscheidrelevant erweist. Dass die Verjährung eingetreten ist würde jedenfalls zutreffen, sofern zwischen dem 1. Januar 2012 und dem 31. Dezember 2016 keine anderweitige verjährungsunterbrechende Handlung stattgefunden hat. Wie es sich damit verhält, ist aufgrund des in Erwägung 3.1 Gesagten im Folgenden zu prüfen.
Neben der hier bereits beschriebenen Unterbrechungshandlung (Einschätzungsmitteilung) wirkt beispielsweise auch eine von der ESTV durchgeführte Kontrolle verjährungsunterbrechend. Wie in Erwägung 2.3.1 erwähnt, werden Kontrollen in Angekündigte und Unangekündigte unterschieden, wobei erstere die Regel sind. Nur in begründeten Fällen kann eine «unangekündigte Kontrolle» durchgeführt werden (Art. 78 Abs. 3 MWSTG). Daraus folgt - soweit hier interessierend - dass eine formell inkorrekt angekündigte Kontrolle nicht automatisch als «unangekündigte Kontrolle» im Sinne des Gesetzes gewertet werden und somit nicht ohne Weiteres nach den diesbezüglichen Bestimmungen hinsichtlich der Verjährungsunterbrechung vorgegangen werden kann.
Das Gesetz sieht vor, dass die Verjährungsfrist im Falle einer angekündigten Kontrolle mit (Zugang) der schriftlichen Ankündigung bei der steuerpflichtigen Person unterbrochen wird. Bei unangekündigten Kontrollen erfolgt der Unterbruch mit Beginn der Kontrolle (E. 2.3.1). Im vorliegenden
Fall hat unbestrittenermassen eine angekündigte Kontrolle stattgefunden, wobei die Ankündigung nur mündlich erfolgt ist. Ob dies dazu führt, dass die Kontrolle überhaupt nicht verjährungsunterbrechend wirkt, oder ob allenfalls auch auf den Zeitpunkt der mündlichen Ankündigung abgestellt werden könnte, wäre durch Auslegung zu eruieren. Anlässlich des hier zu beurteilenden Falles erübrigt sich dies allerdings, zumal das genaue Datum der mündlichen Ankündigung nicht festgehalten worden bzw. nicht aktenkundig ist (vgl. Sachverhalt Bst. A.b). Da sich die verjährungsunterbrechende Wirkung einer Ankündigung der Kontrolle vorliegend zu Gunsten der ESTV auswirken würde, wäre diese für den Umstand beweisbelastet, dass die (bloss mündliche) Ankündigung der Kontrolle tatsächlich nicht vor dem 27. März 2015 erfolgt ist, sondern innerhalb der entsprechenden zweijährigen Frist der Festsetzungsverjährung bis zum 27. März 2017 (Zustellung der Einschätzungsmitteilung; vgl. Sachverhalt Bst. A.c). Dass ihr dieser Nachweis einzig mit dem Hinweis, die Ankündigung der Kontrolle habe
«im Frühsommer 2015» bzw. «im April 2015» (vgl. Sachverhalt Bst. A.b) stattgefunden misslingt, wird auch ihr selbst bewusst gewesen sein, ist sie doch zum Schluss gekommen, dass die Verjährung bereits eingetreten sei.
Andere verjährungsunterbrechende Handlungen sind im vorliegenden Fall weder ersichtlich noch werden solche geltend gemacht. Angesichts dessen, ist dem Antrag der Vorinstanz auf Gutheissung der Beschwerde in Bezug auf die Steuerperiode 2011 stattzugeben.
Im Weiteren ist auf die Steuerperioden 2012 und 2013 einzugehen:
Entsprechend dem in Erwägung 3.2.1.1 Dargelegten, begann die Verjährungsfrist für die Festsetzung der Steuerforderung betreffend die Steuerperiode 2012 am 1. Januar 2013 und hätte ohne Unterbrechung am
31. Dezember 2017 geendet (E. 2.3.1). Daraus wird ersichtlich, dass die Unterbrechung durch die ESTV mit Einschätzungsmitteilung vom 17. März 2017 (vgl. Sachverhalt Bst. A.c) rechtzeitig erfolgt ist. Im Weiteren wurde die Verjährungsfrist spätestens mit der Verfügung der Vorinstanz vom
11. März 2019 (vgl. Sachverhalt Bst. A.e) erneut rechtzeitig unterbrochen. Die nächsten Unterbrüche erfolgten durch die Beschwerdeführerin mit Einsprache vom 5. April 2019 sowie durch die Vorinstanz mit Einspracheentscheid vom 7. November 2019. Die absolute Verjährungsfrist betreffend die Steuerperiode 2012 tritt mit Ablauf des 31. Dezember 2022 ein.
Da die relative Festsetzungsverjährung betreffend die Steuerperiode 2012 wie gezeigt noch nicht eingetreten ist, ist sie es im vorliegenden
Fall auch für die Steuerperiode 2013 nicht. Dasselbe gilt selbstredend hinsichtlich der absoluten Verjährung (vgl. E. 2.3.2).
Die Verfahrenskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt; unterliegt diese nur teilweise, so werden die Verfahrenskosten ermässigt (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Insgesamt sind die Verfahrenskosten auf Fr. 8’500.-- festzusetzen (vgl. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE; SR 173.320.2]) und der - unter Berücksichtigung des Nichteintretens auf das Begehren bezüglich der Steuerperiode 2010 - zu rund 25% unterliegenden Beschwerdeführerin im Umfang von Fr. 2'125.-- aufzuerlegen. Letzterer Betrag ist dem geleisteten Kostenvorschuss von Fr. 8'500.-- zu entnehmen. Der Restbetrag von Fr. 6’375.-- ist der Beschwerdeführerin nach Eintritt der Rechtskraft des vorliegenden Urteils zurückzuerstatten.
Der Vorinstanz können keine Verfahrenskosten auferlegt werden (Art. 63 Abs. 2 VwVG).
Der teilweise obsiegenden Beschwerdeführerin ist für die notwendigen und verhältnismässig hohen Kosten ihrer Vertretung eine reduzierte Parteientschädigung zuzusprechen (vgl. Art. 64 Abs. 1 VwVG; Art. 7 Abs. 2 VGKE). Die Beschwerdeführerin hat keine Kostennote eingereicht. In Anwendung von Art. 14 Abs. 2 VGKE und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände erscheint eine reduzierte Parteientschädigung von praxisgemäss Fr. 9'500.-- als angemessen.
Die Beschwerde wird in Bezug auf die Steuerperiode 2011 gutgeheissen, im Übrigen aber abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.
Die Verfahrenskosten werden auf Fr. 8’500.-- festgesetzt und der Beschwerdeführerin im Umfang von Fr. 2’125.-- auferlegt. Letzterer Betrag wird dem geleisteten Kostenvorschuss von Fr. 8’500.-- entnommen. Der Restbetrag von Fr. 6’375.-- wird der Beschwerdeführerin nach Eintritt der Rechtskraft des vorliegenden Urteils zurückerstattet.
Die Vorinstanz wird verpflichtet, der Beschwerdeführerin eine reduzierte Parteientschädigung in der Höhe von Fr. 9'500.-- zu bezahlen.
Dieses Urteil geht an:
die Beschwerdeführerin (Gerichtsurkunde)
die Vorinstanz (Ref-Nr. [ ]; Gerichtsurkunde)
Für die Rechtsmittelbelehrung wird auf die nächste Seite verwiesen.
Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:
Daniel Riedo Zulema Rickenbacher
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen nach Eröffnung beim Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten geführt werden (Art. 82 ff., 90 ff. und 100 BGG). Die Frist ist gewahrt, wenn die Beschwerde spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht eingereicht oder zu dessen Handen der Schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung übergeben worden ist (Art. 48 Abs. 1 BGG). Die Rechtsschrift ist in einer Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift zu enthalten. Der angefochtene Entscheid und die Beweismittel sind, soweit sie die beschwerdeführende Partei in Händen hat, beizulegen (Art. 42 BGG).
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