E-MailWeiterleiten
LinkedInLinkedIn

Bundesverwaltungsgericht Urteil E-1180/2017

Urteilsdetails des Bundesverwaltungsgerichts E-1180/2017

Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung V
Dossiernummer:E-1180/2017
Datum:01.09.2017
Leitsatz/Stichwort:Asylwiderruf
Schlagwörter : Vorinstanz; Verfügung; Handlung; Bundesverwaltungsgericht; Taten; Asylwiderruf; Schweiz; Urteil; Polizei; Richter; Störung; Akten; Beurteilung; Verfahren; Befehl; Verfahren; Unschuldsvermutung; Verurteilung; Parteien; Hoffs; Flüchtling; Missbrauch; Massnahme; Beschwerdeführers; Vernehmlassung; ändig
Rechtsnorm: Art. 10 StGB ;Art. 10 StPO ;Art. 12 StGB ;Art. 14 StGB ;Art. 179s StGB ;Art. 18 StGB ;Art. 28 ZGB ;Art. 29 StGB ;Art. 52 VwVG ;Art. 63 VwVG ;Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
-

Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung V E-1180/2017

U r t e i l  v o m  1.  S e p t e m b e r  2 0 1 7

Besetzung Richter David R. Wenger (Vorsitz), Richterin Barbara Balmelli, Richterin Constance Leisinger, Gerichtsschreiberin Stefanie Brem.

Parteien A. , geboren am ( ), Türkei,

vertreten durch Ass. iur. Christian Hoffs,

HEKS Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende SG/AI/AR, ( ),

Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Asylwiderruf;

Verfügung des SEM vom 23. Januar 2017 / N ( ).

Sachverhalt:

A.

Der Beschwerdeführer wurde am 12. Januar 2012 in der Schweiz als Flüchtling anerkannt und ihm wurde Asyl gewährt.

B.

Mit Schreiben vom 1. November 2016 informierte das SEM den Beschwerdeführer, sie hätten Kenntnis darüber erhalten, dass er gemäss diversen Polizeirapporten und Strafbefehlen folgende Vergehen begangen habe:

  • Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung in einer Sitte und Anstand verletzenden Weise (§ 33 EG StGB),

  • Nötigung (Art. 181 StGB),

  • Drohung (Art. 180 StGB),

  • Missbrauch einer Fernmeldeanlage (Art. 179septies StGB),

  • Häusliche Gewalt, Tätlichkeiten (Art. 126 StGB),

  • Widerhandlung gegen formlose Wegweisung nach Polizeigesetz des Kantons B. ,

  • Ungehorsam gegen eine amtliche Verfügung (Art. 292 StGB),

  • Sachbeschädigung (Art. 144 StGB),

  • Vorsorgliche Massnahme im Rahmen Persönlichkeitsschutz (Art. 28b ZGB).

Das SEM wies ihn darauf hin, dass es unter diesen Umständen beabsichtige, ihm das Asyl zu widerrufen, und gewährte ihm in Hinblick auf den möglichen Erlass einer solchen Verfügung das rechtliche Gehör.

C.

Mit Schreiben vom 13. Dezember 2016 reichte der Beschwerdeführer nach einer gewährten Fristerstreckung beim SEM eine Stellungnahme ein.

D.

Mit Schreiben vom 23. Dezember 2016 stellte die Vorinstanz dem Beschwerdeführer auf sein Gesuch hin eine Kopie des Aktenverzeichnisses sowie Kopien der Akten zu, soweit sie dem Akteneinsichtsrecht unterlagen.

E.

Am 9. Januar 2017 reichte der Beschwerdeführer eine ergänzende Stellugnahme beim SEM ein.

F.

Mit Verfügung vom 23. Januar 2017 widerrief die Vorinstanz das Asyl des Beschwerdeführers.

G.

Mit Eingabe vom 22. Februar 2017 erhob der Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde und beantragte, die Verfügung des SEM vom 23. Januar 2017 sei aufzuheben und ihm sei das Asyl nicht zu widerrufen. In prozessualer Hinsicht beantragte er die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege, die Beiordnung eines amtlichen Rechtsbeistands sowie den Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses.

Der Beschwerde waren eine Fürsorgebestätigung vom 23. Februar 2017 sowie ein Bericht des Spitals B. vom 20. Oktober 2016 beigelegt.

H.

Mit Zwischenverfügung vom 14. März 2017 hiess der Instruktionsrichter das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung gut, ordnete dem Beschwerdeführer Ass. iur. Christan Hoffs als unentgeltlichen Rechtsverbeistand zu, verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses und gab der Vorinstanz Gelegenheit zur Einreichung einer Vernehmlassung.

I.

Am 29. März 2017 reichte die Vorinstanz eine Vernehmlassung ein.

J.

Mit Schreiben vom 29. März 2017 wurde dem Beschwerdeführer die Vernehmlassung zur Kenntnisnahme zugestellt.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Gemäss Art. 31 VGG ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung von Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG zuständig und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel - wie auch vorliegend - endgültig (Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG; Art. 105 AsylG [SR 142.31]).

    2. Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht. Der Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und 108 Abs. 1 AsylG; Art.48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.

Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige und unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).

3.

    1. Gemäss Art. 63 Abs. 2 AsylG widerruft das SEM das Asyl, wenn Flüchtlinge die innere oder die äussere Sicherheit der Schweiz verletzt haben, gefährden oder besonders verwerfliche strafbare Handlungen begangen haben. Ein solcher Widerruf setzt gemäss konstanter Rechtsprechung eine qualifizierte Asylunwürdigkeit im Sinn von Art. 53 AsylG voraus; mithin muss die „besonders verwerfliche Handlung“ qualitativ eine Stufe über der im Sinn von Art. 53 AsylG „verwerflichen Handlung“ stehen. Die in Frage stehende Straftat muss demnach mit einer erheblichen Strafe bedroht sein und eine gewisse Intensität aufweisen. Zudem muss bei der Würdigung einer strafbaren Handlung als „besonders verwerflich“ im Sinn von Art. 63 Abs. 2 AsylG der Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachtet werden (vgl. Entscheidungen und Mitteilungen der [vormaligen] Asylrekurskommission [EMARK] 2003 Nr. 11). Nach aktueller Praxis gelten (weiterhin) diejenigen Taten als „verwerfliche Handlungen“ im Sinne von Art. 53 AsylG, die als Verbrechen gemäss Art. 10 Abs. 2 StGB zu qualifizieren sind, die also mit einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht sind (vgl. dazu BVGE 2012/20 E. 4 S. 405 f.).

    2. Nach Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann auch eine Reihe von geringfügigeren Straftaten, welche für sich genommen das Kriterium der besonderen Verwerflichkeit nicht erfüllen, jedenfalls in Kombination mit einer verwerflichen Handlung (Verbrechen), einen Asylwiderruf gemäss Art. 63 Abs. 2 AsylG rechtfertigen. Mit diesem Widerrufsgrund sollen Personen von den mit der Asylgewährung verbundenen Vorteilen ausgeschlossen werden, die gravierend und rücksichtslos gegen die Rechtsnormen der Schweiz verstossen, deren Verhalten mithin auf Renitenz oder

      eine schlechte Gesinnung schliessen lässt (vgl. Urteil des BVGer E- 4824/2014 vom 16. Februar 2016 E. 6.2 f.).

    3. Die Vorinstanz begründete ihre Verfügung damit, der Beschwerdeführer sei im Jahr 2016 fünf Mal straffällig geworden. Drei der Straftaten würden mit Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bedroht. Bei den anderen zwei Delikten handle es sich um Übertretungen, die mit Busse bestraft würden. Zumeist seien die Rechtsgüter des Leibes oder der Freiheit betroffen. Die Häufigkeit der Taten lasse auf eine gewisse kriminelle Energie des Beschwerdeführers schliessen. Zudem sei er nicht gewillt, die schweizerische Rechtsordnung einzuhalten. Infolge der wiederholten Delinquenz, der gezeigten Missachtung gegenüber der körperlichen Integrität Dritter sowie seines nicht leichten Verschuldens seien die vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten als besonders verwerflich zu qualifizieren. Der Umstand, dass sich diese Beurteilung weitgehend auf Polizeirapporte stütze und der Beschwerdeführer die Vorwürfe teilweise bestreite, vermöge daran nichts zu ändern. Der Asylwiderruf habe keine Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft zur Folge. Der Beschwerdeführer könne sich weiterhin in der Schweiz aufhalten und einer Erwerbstätigkeit nachgehen, weshalb der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt sei.

    4. Der Beschwerdeführer bringt dagegen vor, keine der beschuldigten Straftaten falle unter die Kategorie der Verbrechen. Bei einigen der Tatbestände handle es sich sogar um Antragsdelikte, weshalb keine der vorgeworfenen Straftaten als besonders verwerflich qualifiziert werden könne. Selbst bei einer Kumulation würden sie nicht die Voraussetzung der besonderen Verwerflichkeit erfüllen, da es an der nötigen Intensität fehle. Zudem bestreite er die Taten. Bisher sei kein Schuldspruch ergangen. Aus den Einvernahmeprotokollen der Polizei sei ersichtlich, dass er nicht schuldig sei. Es sei Sache der Strafbehörden und nicht der Vorinstanz, über die Schuld zu urteilen. Zudem würden die ihm vorgeworfenen Tatbestände, selbst wenn er schuldig wäre, weder die Voraussetzung der besonderen Verwerflichkeit noch der genügenden Intensität erfüllen, weshalb von einem Asylwiderruf abzusehen sei.

    5. Den Akten lässt sich entnehmen, dass der Beschwerdeführer mit Strafbefehl vom ( ) 2012 wegen Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung zu einer Busse von Fr. 100.- verurteilt wurde. Des Weiteren wurde gegen ihn im Jahr 2016 wegen wiederholten Missbrauchs einer Fernmeldeanlage, Sachbeschädigung, Nötigung, Drohung, einfacher Körperverletzung/Tätlichkeit, Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung durch renitentes Verhalten und Trunkenheit, Widerhandlung gegen formlose Wegweisung nach Polizeigesetz und Ungehorsam gegen eine amtliche Verfügung ein Strafverfahren eingeleitet. Zudem wurde gegen ihn am ( ) 2016 eine vorsorgliche Massnahme im Rahmen des Persönlichkeitsschutzes angeordnet. Die Anordnung einer vorsorglichen Massnahme ist als zivilprozessrechtliche Anweisung bei der Beurteilung des Asylwiderrufs unbeachtlich. Demzufolge ist der Strafbefehl vom ( ) 2012 das einzige rechtskräftige Urteil gegen den Beschwerdeführer. In sämtlichen anderen Strafverfahren, die ausschliesslich Vergehen und Übertretungen betreffen, sind bis anhin noch keine rechtskräftigen Urteile ergangen. Wenn die Vorinstanz folglich behauptet, der Beschwerdeführer sei im Jahr 2016 insgesamt fünfmal straffällig geworden, verfüge über eine gewisse kriminelle Energie, sei ein Wiederholungstäter und seine Schuld an den Straftaten sei nicht leicht, missachtet sie mit dieser Würdigungen den im Strafprozessrecht verankerten Grundsatz der Unschuldsvermutung. Gemäss der Unschuldsvermutung gilt, dass jede Person bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig gilt (Art. 10 Abs. 1 StPO). Als Ausfluss der Unschuldsvermutung muss für den Widerruf des Asyls grundsätzlich eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung vorliegen (vgl. MARTINA CARONI/TOBIAS GRASDORFMEYER/LISA OTT/NICOLE SCHEIBER, Migrationsrecht, 3. Aufl. 2014, S.351).

      Wie bereits festgestellt, liegt lediglich eine einzige rechtskräftigen strafrechtliche Verurteilung gegen den Beschwerdeführer vor. In sämtlichen weiteren Strafverfahren gilt die Unschuldsvermutung; diese Strafverfahren dürfen somit nicht für die Beurteilung eines Asylwiderrufs herangezogen werden. Somit bleibt einzig zu prüfen, ob die mit Strafbefehl vom ( ) 2012 ergangenen Verurteilung wegen Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung eine besonders verwerfliche Handlung im Sinne von Art. 63 Abs. 2 AsylG darstellt. Da es sich bei diesem Tatbestand lediglich um eine Übertretung handelt, die mit Busse bestraft wird, ist das Vorliegen der Voraussetzung „besonders verwerfliche Handlung“ offensichtlich zu verneinen; folglich erübrigt sich eine Verhältnismässigkeitsprüfung.

    6. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Vorinstanz das Asyl des Beschwerdeführers zu Unrecht widerrufen hat. Die Beschwerde ist demnach gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid des SEM vom 23. Januar 2017 ist aufzuheben und dem Beschwerdeführer ist weiterhin Asyl in der Schweiz zu gewähren.

4.

    1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (vgl. Art. 63 Abs. 1 VwVG).

    2. Dem vertretenen Beschwerdeführer ist angesichts seines Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom

      21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine Entschädigung für die ihm notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen.

      In der eingereichten Kostennote von Ass. iur. Christan Hoffs vom 22. Februar 2017 wird ein Aufwand von 6.5 Stunden inklusive einer Barauslage von Fr. 65.- ausgewiesen. Dies erscheint angemessen. Der Betrag von Fr. 1‘469.- (inkl. 8% Mehrwertsteuern) ist dem Beschwerdeführer als Parteientschädigung zuzusprechen und durch die Vorinstanz zu entrichten.

    3. Mit dem vorliegenden Urteil wird die mit Zwischenverfügung vom

14. März 2017 gewährte unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. (Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2.

Die Verfügung des SEM vom 23. Januar 2017 wird aufgehoben. Das dem Beschwerdeführer gewährte Asyl bleibt in Kraft.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.

4.

Das SEM wird angewiesen, dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 1‘469.- auszurichten.

5.

Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:

David R. Wenger Stefanie Brem

Versand:

Wollen Sie werbefrei und mehr Einträge sehen? Hier geht es zur Registrierung.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

Hier geht es zurück zur Suchmaschine.