Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung VI |
Dossiernummer: | BVGE 2017 VII/4 |
Datum: | 26.07.2017 |
Leitsatz/Stichwort: | Familienzusammenführung (v.A.) |
Schlagwörter : | Familie; Urteil; Flüchtling; Schweiz; Familiennachzug; Kinder; Aufenthalt; Sozialhilfe; Recht; Flüchtlinge; Aufenthalts; Rechtsprechung; Interesse; Familienleben; Sozialhilfeabhängigkeit; Bundesrat; Urteile; Voraussetzung; Person; Migration; Beurteilung; Äthiopien; Familiennachzugs; Interessen |
Rechtsnorm: | Art. 23 EMRK ; |
Referenz BGE: | 135 I 143; 135 I 153; 139 I 330; 141 I 49; 143 I 21; 143 I 437 |
Kommentar: | - |
Auszug aus dem Urteil der Abteilung VI
i.S. A. gegen Staatssekretariat für Migration F2043/2015 vom 26. Juli 2017
Die HIV-positive und damals schwangere Beschwerdeführerin A., eritreische Staatsangehörige, wurde im Jahr 2011 als Flüchtling anerkannt und vorläufig in der Schweiz aufgenommen. Das Gesuch um Einbezug des im gleichen Jahr hierzulande geborenen Kinds in die vorläufige Aufnahme und Flüchtlingseigenschaft der Mutter hiessen die zuständigen Behörden gut.
Am 20. Mai 2014 ersuchte die Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 85 Abs. 7 AuG (SR 142.20) um Familiennachzug ihrer drei minderjährigen, in Eritrea und Äthiopien lebenden Kinder (geboren 2000, 2006 und 2010).
Das Staatssekretariat für Migration (SEM, nachfolgend: Vorinstanz) lehnte das Gesuch mit Verfügung vom 27. Februar 2015 ab. Es begründete seinen Entscheid insbesondere mit der bestehenden und weiterhin anzunehmenden Sozialhilfeabhängigkeit der Beschwerdeführerin.
Mit Rechtsmitteleingabe vom 31. März 2015 liess die Beschwerdeführerin unter anderem die Aufhebung der vorinstanzlichen Verfügung und Gutheissung des Familiennachzugs ihrer drei Kinder beantragen.
Die Vorinstanz schloss in ihrer Vernehmlassung vom 18. Mai 2015 auf Abweisung der Beschwerde.
Die Beschwerdeführerin hielt mit Replik vom 11. Juni 2015 an ihren Anträgen fest.
Eine Interessenabwägung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK führt das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Einzelfall zum Schluss, dass aufgrund der drohenden Gefahr einer fortgesetzten und erheblichen Sozialhilfeabhängigkeit der Beschwerdeführerin ein erhebliches und die privaten Interessen überwiegendes öffentliches Interesse an der Verweigerung der Familienzusammenführung besteht. Das Gericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
Der Wortlaut von Art. 85 Abs. 7 AuG deckt sich, von der dreijährigen Wartefrist für vorläufig Aufgenommene abgesehen, mit demjenigen des Familiennachzugs für Ehegatten und Kinder von Personen mit Aufenthaltsbewilligung nach Art. 44 AuG. Die Fristen zur Einreichung eines ordentlichen Nachzugsgesuchs sowie die Gutheissung nachträglich eingereichter Gesuche sind ebenfalls identisch formuliert (vgl. Art. 85 Abs. 7 AuG i.V.m. Art. 74 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit [VZAE, SR 142.201], Art. 47 AuG
i.V.m. Art. 73 sowie 75 VZAE). In historischer Auslegung ergibt sich im Weiteren, dass der vom Bundesrat vorgeschlagene Gesetzeswortlaut im Rahmen des Differenzbereinigungsverfahrens materiell-rechtlich angepasst wurde (vgl. den Antrag der Kommission zu Art. 14c des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer [ANAG, BS 1 121] in AB 2005 S 379 f.; vgl. ferner AB 2005 S 322, 340 ff. und AB 2005 N 1158 ff., auch zum Folgenden). Der Gesetzgeber beabsichtigte primär die Regelung des rechtlichen Status vorläufig Aufgenommener und damit deren verbesserte Integration. Im Speziellen wurden der uneingeschränkte Zugang zur Erwerbstätigkeit sowie der Familiennachzug mit einer Wartefrist von drei Jahren als Neuerung gegenüber dem Entwurf des Bundesrats hervorgehoben (vgl. insb. für die Kommission die Voten Trix Heberlein, AB 2005 S 340 f., und Philipp Müller, AB
2005 N 1159; vgl. demgegenüber die Botschaft vom 4. September 2002 zur Änderung des Asylgesetzes, zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung sowie zur Änderung des Bundesgesetzes über die Altersund Hinterlassenenversicherung [BBl 2002 6845, 6911] sowie
den entsprechenden Entwurf [BBl 2002 6938, 6958]). Aufgrund einer historischen, grammatikalischen und systematischen Auslegung ist deshalb bei der Beurteilung der Voraussetzungen von Art. 85 Abs. 7 Bst. ac AuG die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts im Anwendungsbereich von Art. 44 AuG analog zu übernehmen (vgl. Urteile des BGer 2C_1045/2014 vom 26. Juni 2015 E. 1.1.1 und 2C_639/2012 vom 13. Februar 2013 E. 1.2.1; Urteil des BVGer E7073/2013 vom 6. Oktober 2015 E. 4.2; RUEDI ILLES, in: Handkommentar zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG], 2010, Art. 85 N. 24, nachfolgend: SHK AuG).
Aus den Materialien geht nicht hervor, dass die Räte bewusst von völkerrechtlichen Verpflichtungen abweichen wollten. Über die Geltung der Schubert-Praxis, wonach bei einem bewussten Abweichen vom Völkerrecht das Landesrecht Vorrang hat, braucht im vorliegenden Fall deshalb nicht entschieden zu werden. Zudem ist das Zulassungskriterium des Vorhandenseins hinreichender finanzieller Mittel und damit der Entlastung der Sozialhilfe und der öffentlichen Finanzen als Voraussetzung des Familiennachzugs konventionsrechtlich anerkannt (BGE 139 I 330 E. 3.2
m.w.H. zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR]). Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen von Art. 85 Abs. 7 Bst. ac AuG sind damit einer völkerrechtskonformen Auslegung grundsätzlich zugänglich (vgl. zur Frage der Völkerrechtskonformität der vorliegend nicht streitigen dreijährigen Wartefrist das Urteil 2C_639/2012
E. 4.5.2). Die Bewilligung im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen für einen Familiennachzug liegt mithin im pflichtgemäss auszuübenden Ermessen der Behörden. Ein Anspruch auf Erteilung besteht wie bereits ausgeführt grundsätzlich nicht (vgl. BGE 139 I 330 E. 2 m.w.H. [ ]).
Sozialhilfeunabhängigkeit wird in der Praxis grundsätzlich dann angenommen, wenn die Eigenmittel das Niveau erreichen, ab dem gemäss Richtlinie der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) kein Sozialhilfeanspruch resultiert (Urteil des BVGer E2371/2015 vom 3. November 2015 E. 5.1 m.w.H.; vgl. auch das Urteil des BGer 2C_674/2013
vom 23. Januar 2014 E. 4.4). Bei der Beurteilung der Sozialhilfeabhängigkeit nach Art. 85 Abs. 7 Bst. c AuG sind die statusspezifischen Umstände von Flüchtlingen mitzuberücksichtigen (Art. 74 Abs. 5 VZAE; vgl. BGE 139 I 330 E. 3.1 f. und Urteil 2C_674/2013 E. 3.1, je m.w.H. zum Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge [FK, SR 0.142.30], insb. mit Verweis auf Art. 23 FK, wonach Flüchtlingen ohne ausländerrechtliche Folgen « die gleiche Fürsorge und öffentliche Unterstützung wie den Einheimischen » geschuldet ist). Im Hinblick auf das öffentliche Interesse kann es sich rechtfertigen, den Familiennachzug eines (vorläufig aufgenommenen) Flüchtlings zu verweigern, wenn damit die Gefahr einer fortgesetzten und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit einhergeht (vgl. BGE 139 I 330 E. 3.2 und 4.1 m.w.H.). Dabei ist von den aktuellen Verhältnissen des hier anwesenheitsberechtigten Familienangehörigen sowie den wahrscheinlichen finanziellen Entwicklungen unter Berücksichtigung der finanziellen Möglichkeiten aller Familienmitglieder auf längere Sicht auszugehen. Die prospektive Einschätzung der künftigen Fürsorgeabhängigkeit setzt folglich eine Gesamtbetrachtung unter Einbezug der spezifischen flüchtlingsrechtlichen Situation voraus, wobei die Bemühungen des Flüchtlings, sich hier zu integrieren und für seine Familie eigenständig aufkommen zu können, sowie die mittelbis längerfristig zu erwartende Situation zu berücksichtigen sind (vgl. BGE 139 I 330
E. 4.1 m.H. sowie Urteil 2C_674/2013 E. 4.1 ff. [insb. E. 4.3 m.H. zur Rechtsprechung des EGMR]). Unternimmt der anerkannte Flüchtling alles ihm Zumutbare, um auf dem Arbeitsmarkt seinen eigenen und den Unterhalt der Familie möglichst autonom bestreiten zu können, und hat er auf dem Arbeitsmarkt wenigstens bereits teilweise Fuss gefasst, muss dies genügen, um das Familienleben in der Schweiz zuzulassen. Bedingung dafür ist, dass der anerkannte Flüchtling trotz dieser Bemühungen innerhalb der für den Familiennachzug geltenden Fristen unverschuldet keine Situation zu schaffen vermag, die es ihm erlaubt, die entsprechende Voraussetzung von Art. 85 Abs. 7 Bst. c AuG zu erfüllen, sich der Fehlbetrag in vertretbarer Höhe hält und in absehbarer Zeit vermutlich ausgeglichen werden kann (vgl. zum Ganzen BGE 139 I 330 E. 4.2 m.w.H.; vgl. auch die Urteile des BGer 2C_674/2013 E. 4 und 2C_320/2013 vom 11. Dezember 2013
E. 4, m.w.H. zur Rechtsprechung des EGMR).
Die Beschwerdeführerin lebt seit sechs Jahren in der Schweiz und hat hier ihr jüngstes Kind zur Welt gebracht. ( ). Gemäss den Akten erzielt die Beschwerdeführerin (mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag zu
einem Beschäftigungsgrad von 60 Prozent als Pflegehelferin Schweizerisches Rotes Kreuz) ein Nettoeinkommen von Fr. 2 009.80. Ihre Ausgaben belaufen sich insgesamt auf Fr. 3 662.20 ( ). Der gemäss SKOS-Richtlinie budgetierte Auszahlungsbetrag der Sozialhilfe mit Stand vom Mai 2015 belief sich somit auf Fr. 1 652.40 ([ ]). Gestützt auf diesen Sachverhalt ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin derzeit von der Sozialhilfe abhängig ist ([ ]).
Nebst der aktuellen Situation ist jedoch auch die voraussichtlich künftige Entwicklung der Sozialhilfeabhängigkeit zu berücksichtigen: Mit dem Familiennachzug der drei minderjährigen Kinder würde gemäss den von der Beschwerdeführerin nicht widerlegten beziehungsweise bestrittenen Angaben der Vorinstanz respektive des kantonalen Migrationsamts die Beschwerdeführerin aufgrund der zu erwartenden Familienzulagen bei gleichbleibenden Anstellungsbedingungen ein geschätztes monatliches Einkommen von Fr. 3 580.- erzielen. Demgegenüber würden sich die Ausgaben nach den SKOS-Richtlinien auf gut Fr. 4 197.- belaufen ([ ]). ( ). Die Beschwerdeführerin scheint äusserst bemüht, sich in der Schweiz beruflich und sozial zu integrieren. Es ist jedoch davon auszugehen, dass im Falle des Nachzugs der drei minderjährigen Kinder ( ) zusätzliche Kosten anfallen würden und sie diese mit ihrem derzeitigen Lohn nicht decken könnte. Zudem wäre fraglich, inwiefern die Beschwerdeführerin angesichts der Betreuung von vier minderjährigen Kindern ihr Arbeitspensum aufrechterhalten könnte. Es ist demzufolge auch in Zukunft von einer weiter bestehenden Sozialhilfeabhängigkeit beziehungsweise im Fall der Gutheissung des Gesuchs von deren erheblichen Erhöhung auszugehen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer psychischen Leiden den geplanten Beginn für die berufsbegleitende Ausbildung für eine verkürzte Lehre zur Fachfrau Gesundheit verschieben musste ([ ]). Auch wenn sie angesichts des Vorgebrachten sehr bemüht ist, künftig nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig zu sein, bleibt zu bezweifeln, ob sie mit dem Familiennachzug der drei minderjährigen Kinder und den daraus resultierenden Pflichten ihr Arbeitspensum mindestens gewährleisten und ihre Ausbildung wahrnehmen könnte. Die Beschwerdeführerin bestätigte sodann selbst, im Falle des Nachzugs der minderjährigen Kinder ohne Ehemann ihr Arbeitspensum nicht steigern zu können ([ ]). Die Tatsache, dass sie ein Nachzugsgesuch für ihren Ehemann unterlassen hat, muss ihr zugeschrieben werden. Damit ist im vorliegenden
Fall von einer fortgesetzten und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit auszugehen (vgl. BGE 139 I 330 E. 3.2 und 4.1 m.w.H.). Zumindest eines der kumulativen Kriterien von Art. 85 Abs. 7 AuG ist damit nicht erfüllt.
Art. 8 Ziff. 1 EMRK garantiert den Schutz des Familienlebens, welches in erster Linie die Kernfamilie, das heisst die Gemeinschaft der Ehegatten mit ihren minderjährigen Kindern, umfasst (vgl. BGE 135 I 143
E. 1.3.2 und 129 II 11 E. 2). Die Garantie kann verletzt sein, wenn einer ausländischen Person, deren Familienangehörige in der Schweiz weilen, die Anwesenheit untersagt und damit das Familienleben vereitelt wird. Das in Art. 8 EMRK beziehungsweise Art. 13 BV geschützte Recht ist berührt, wenn eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt wird, ohne dass es dieser möglich beziehungsweise zumutbar wäre, ihr Familienleben andernorts zu pflegen (BGE 143 I 21 E. 5.1 und 139 I 330 E. 2.1, je m.w.H.). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung können sich auch solche Personen auf Art. 8 EMRK berufen, die kein gefestigtes Aufenthaltsrecht haben, deren Anwesenheit in der Schweiz jedoch faktisch als Realität hingenommen wird beziehungsweise aus objektiven Gründen hingenommen werden muss (vgl. Urteile des BGer 2C_360/2016 vom 31. Januar 2017 E. 5.2 ff. und 2C_639/2012 E. 4.4 ff. m.H.; vgl. zur Rechtsprechung des EGMR die Urteile Jeunesse gegen Niederlande vom 3. Oktober 2014, 12738/10, § 103 ff. m.w.H.; Agraw gegen Schweiz vom 29. Juli 2010, 3295/06, § 44 ff. und Mengesha Kimfe gegen Schweiz vom 29. Juli 2010, 24404/05, § 61 ff.).
Gemäss der Definition von Art. 3 Abs. 1 AsylG (SR 142.31) sind Flüchtlinge Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft anerkannt wird, bei denen aber Asylausschlussgründe vorliegen (z.B. subjektive Nachfluchtgründe, d.h. die Schaffung von Fluchtgründen durch oder nach Ausreise aus dem Heimatland), erhalten in der Schweiz den Status der vorläufigen Aufnahme (vgl. Art. 83 Abs. 8 AuG i.V.m. Art. 53 und 54 AsylG). Anerkannte Flüchtlinge, ob vorläufig aufgenommen oder mit Asyl, können in der Regel nicht nur vorüber gehend, sondern langfristig nicht mehr in ihren Herkunftsstaat zurückkehren (s. den Bericht des Bundesrats vom 12. Oktober 2016 « Vorläufige Aufnahme und Schutzbedürftigkeit: Analyse und Handlungsoptionen », insb. S. 9, 18 ff. und 30 ff. [< https://www.sem.admin.ch > Publikationen
& Service > Allgemeine Berichte, abgerufen am 15. Juni 2017; nachfolgend: Bericht Bundesrat]). Ihr Aufenthalt in der Schweiz muss in den vorwiegenden Fällen zumindest faktisch als Realität hingenommen werden (Bericht Bundesrat, S. 18; CARONI et al., Migrationsrecht, 3. Aufl. 2014,
S. 289 f.). Sowohl die Tatsache, dass ein Grossteil der vorläufig aufge-
nommenen Flüchtlinge in der Schweiz verbleibt, als auch die Notwendigkeit einer Einzelfallbeurteilung hinsichtlich der Dauer des Aufenthalts wurde bereits vom Gesetzgeber festgestellt (vgl. Voten Trix Heberlein, AB 2005 S 340 f., Christoph Blocher, AB 2005 S 343 und Philipp Müller, AB 2005 N 1159). Angesichts der zunehmenden Aufweichung des Begriffs des faktischen Anwesenheitsrechts durch das Bundesgericht (vgl. Urteile 2C_360/2016 E. 5.2 ff. und 2C_639/2012 E. 1.2.2, E. 4.4 ff., insb. E. 4.5.2
e contrario m.w.H. [« on peut douter que de simples considérations financières permettent de justifier le refus d'une demande de regroupement familial sous l'angle de l'art. 8 § 2 CEDH, lorsqu'un des membres de la famille est titulaire d'une admission provisoire »]; vgl. ferner BGE 143 I 437 E. 4.1, in welchem das Bundesgericht unabhängig vom Aufenthaltsstatus der Beschwerdeführenden [abgewiesene Asylsuchende] eine Berufung auf Art. 8 EMRK bejahte, BGE 141 I 49 E. 3.7 am Ende sowie Urteil 2C_1045/2014 E. 1.1.1 ff.), der ständigen Rechtsprechung des EGMR (vgl. insb. die Urteile Jeunesse § 103 ff., Tanda-Muzinga gegen Frankreich vom 10. Juli 2014, 2260/10, § 75 f., 82 und Mugenzi gegen Frankreich vom 10. Juli 2014, 52701/09, § 54 f., 62, je m.w.H.) sowie der zitierten Analyse des Bundesrats erscheint es angezeigt, bei Familiennachzuggesuchen von (vorläufig aufgenommenen) Flüchtlingen betreffend deren Ehegatten und minderjährige Kinder ein faktisches Aufenthaltsrecht anzunehmen und die Dauer des Aufenthalts erst in der Güterabwägung zu berücksichtigen. Dabei geht es nicht um die Vorwegnahme eines Anspruchs auf Familiennachzug, sondern lediglich um die Prüfung, ob dem Familienleben des Flüchtlings bei der Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen in zureichender Weise Rechnung getragen wurde (vgl. Urteil 2C_674/2013 E. 4.3 mit Verweis auf das Urteil 2C_320/2013 E. 3.3.3). Die weiteren einzelfallspezifischen Umstände insbesondere die Inkaufnahme der Trennung der Familie, allfällige Kontaktmöglichkeiten in einem Drittstaat sowie die Beurteilung des weiteren Verbleibs in der Schweiz angesichts der Situation im Heimatland sind ebenfalls in die
Interessenabwägung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK miteinzubeziehen ([ ] vgl. ferner ZÜND/HUGI YAR, Aufenthaltsbeendende Massnahmen im schweizerischen Ausländerrecht, insbesondere unter dem Aspekt des Privatund Familienlebens, EuGRZ 2013, N. 29 ff. m.w.H.; PETER UEBERSAX, Die EMRK und das Migrationsrecht aus der Sicht der Schweiz, in: EMRK und die Schweiz, 2010, S. 231 f.; MARTINA CARONI, in: SHK AuG, a.a.O., Vorbemerkungen zu Art. 4252 N. 57).
Aufgrund ihrer Anerkennung als (vorläufig aufgenommener) Flüchtling sowie angesichts der Tatsache, dass eine Aufhebung ihres rechtlichen Status in absehbarer Zukunft nicht anzunehmen ist, kann im Fall der Beschwerdeführerin im Sinne des soeben Erwähnten ein faktisches Aufenthaltsrecht angenommen werden.
Die Beziehung zwischen der Beschwerdeführerin und ihren drei minderjährigen Kindern ist unter dem Blickwinkel von Art. 8 EMRK differenziert zu betrachten. Die beiden jüngeren Kinder leben zusammen mit ihrem Vater in Äthiopien. Im Jahr 2015 besuchte die Beschwerdeführerin gemeinsam mit ihrem jüngsten Kind ihren Ehemann sowie die beiden Kinder während vier Wochen ([ ]). Angesichts der Ausführungen ist von einer glaubhaften, nahen und echten Beziehung zwischen ihr und ihren beiden in Äthiopien lebenden Kindern auszugehen. Der älteste Sohn, mittlerweile 17-jährig, lebt gemäss Akten nach wie vor in Eritrea bei seiner Grossmutter mütterlicherseits ([ ]). Über eine tatsächlich gelebte Beziehung zwischen der Mutter und ihrem ältesten Sohn, zu dessen leiblichen Vater die Beschwerdeführerin keinen Kontakt hat, lassen sich den Akten keine Angaben entnehmen. Mit Verweigerung des Familiennachzugs besteht ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK bezüglich der beiden jüngeren Kinder, nicht jedoch betreffend das älteste Kind (vgl. Urteil 2C_1045/2014 E. 1.1.2 m.w.H. zur Rechtsprechung des Bundesgerichts sowie E. 1.1.3 mit Verweis auf das Urteil 2C_639/2012).
Im Weiteren erscheint es der Beschwerdeführerin und ihrem in der Schweiz geborenen Kind « nicht von vornherein ohne Weiteres zumutbar », das Familienleben im Ausland, namentlich Äthiopien, zu führen (vgl. BGE 135 I 153 E. 2.1 m.H. sowie Urteil des BGer 2C_914/2014 vom
18. Mai 2015 E. 4.3.1 am Ende, auch zum Folgenden). Dementsprechend ist eine Interessenabwägung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK geboten, welche sämtlichen Umständen des Einzelfalls umfassend Rechnung trägt. Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff hinsichtlich der Verweigerung des Familiennachzugs bezüglich der (beiden in Äthiopien lebenden) Kinder gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRK gerechtfertigt ist.
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