Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung V |
Dossiernummer: | E-2231/2015 |
Datum: | 23.06.2015 |
Leitsatz/Stichwort: | Wegweisung und Wegweisungsvollzug (Beschwerde gegen Wiedererwägungsentscheid) |
Schlagwörter : | Dublin; II-VO; III-VO; Verfügung; Dublin-III-VO; Schweiz; Beschwerdeführers; Wiedererwägung; Bundesverwaltungsgericht; Familie; Recht; Italien; Mitglied; Vorinstanz; Kindes; Verfahren; Mitgliedstaat; Partnerin; Geburt; Zuständigkeit; Asylgesuch; Wegweisung; Urteil; Wiedererwägungsgesuch; Sinne; Selbsteintritt; Staat |
Rechtsnorm: | Art. 52 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 65 VwVG ; Art. 66 VwVG ; Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: | - |
Abteilung V E-2231/2015
Besetzung Richterin Muriel Beck Kadima (Vorsitz), Richter Bendicht Tellenbach,
Richterin Emilia Antonioni Luftensteiner, Gerichtsschreiberin Alexandra Püntener.
Parteien A. ,
Afghanistan,
vertreten durch lic. iur. Urs Ebnöther, Rechtsanwalt, Beschwerdeführer,
gegen
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Gegenstand Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren; Beschwerde gegen Wiedererwägungsentscheid); Verfügung des SEM vom 18. März 2015 / N ( ).
Der Beschwerdeführer suchte am 11. Oktober 2013 in der Schweiz um Asyl nach. Mit Verfügung vom 2. Dezember 2013 trat die Vorinstanz in Anwendung von Art. 31a Abs. 1 Bst b AsylG (SR 142.31) auf das Asylgesuch nicht ein und wies ihn aus der Schweiz nach Italien weg.
Die gegen diesen Nichteintretensentscheid erhobene Beschwerde vom 16. Dezember 2013 wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil E-7078/2013 vom 20. März 2014 rechtskräftig ab.
Mit Eingabe vom 10. März 2015 ersuchte der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter beim SEM um Wiedererwägung der Verfügung vom 2. Dezember 2013. Dabei machte er geltend, mit der Geburt seines mit B. (N ( )) gemeinsamen Kindes am ( ) Dezember 2014 verfüge er mit dem Kind über eine enge Bezugsperson in der Schweiz, welche zur Kernfamilie zähle und unter die Definition von "Familienangehörigen" gemäss Art. 2 Bst. g der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), ABl. L 180/31 vom 29.6.2013 (nachfolgend Dublin-III-VO) falle. Das Asylverfahren seiner Lebenspartnerin und des gemeinsamen Kindes werde in der Schweiz durchgeführt. Er lebe seit seiner Einreise in die Schweiz in einer Wohngemeinschaft mit der Kindsmutter und dem Kind. Es sei daher das Asylverfahren des Beschwerdeführers in der Schweiz durchzuführen. Zur Untermauerung seiner Anliegen reichte der Beschwerdeführer eine Geburtsbestätigung des Zivilstandesamtes C. vom ( ) Januar 2015 und ein Abstammungsgutachten vom ( ) Februar 2015 zu den Akten.
Mit Verfügung vom 18. März 2015 wies das SEM das Wiedererwägungsgesuch ab und erklärte seine Verfügung vom 2. Dezember 2013 als rechtskräftig und vollstreckbar. Gleichzeitig auferlegte es dem Beschwerdeführer eine Gebühr von Fr. 600.-. Zudem stellte es fest, einer allfälligen Beschwerde komme keine aufschiebende Wirkung zu. Auf die Begründung wird in den nachfolgenden Erwägungen eingegangen.
Mit vorab per Telefax eingereichter Eingabe vom 10. April 2015 an das Bundesverwaltungsgericht beantragte der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter die Aufhebung der Verfügung des SEM vom 18. März 2015 und die Anweisung an die Vorinstanz, es sei auf das Wiedererwägungsgesuch einzutreten und das Asylverfahren in der Schweiz durchzuführen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersuchte er um Gewährung der aufschiebenden Wirkung, um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung, um Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses und um Beiordnung des Rechtsvertreters als unentgeltlicher Rechtsbeistand. Gleichzeitig reichte er einen ärztlichen Bericht des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer vom ( ) April 2015 zu den Akten.
Die Instruktionsrichterin setzte mit Telefax vom 10. April 2015 den Vollzug der Wegweisung gestützt auf Art. 56 VwVG einstweilen aus.
Am 24. April 2015 wurde eine Unterstützungsbestätigung vom 20. April 2015 eingereicht.
Mit vorab per Telefax eingereichten Eingabe vom 5. Juni 2015 wurden eine Unterstützungsbestätigung betreffend die Partnerin des Beschwerdeführers sowie ein Brief von deren Rechtsvertreterin eingereicht, aus dem hervorgeht, dass der Partnerin und ihren Kindern in der Schweiz Asyl gewährt worden sei. Gleichzeitig wurde eine Kostennote eingereicht.
Am 10. Juni 2015 reichte der Rechtsvertreter eine Kopie der Verfügung des SEM vom 27. Mai 2015 betreffend die Ehefrau und die Kinder des Beschwerdeführers zu den Akten.
Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne
von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Nachdem gemäss Lehre und Praxis Wiedererwägungsentscheide grundsätzlich wie die ursprüngliche Verfügung auf dem ordentlichen Rechtsmittelweg weitergezogen werden können, ist das Bundesverwaltungsgericht für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde zuständig. Es entscheidet auf dem Gebiet des Asyls - in der Regel und auch vorliegend - endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).
Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht. Der Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und 108 Abs. 1 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist
unter Vorbehalt der nachfolgenden Erwägungen - einzutreten.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige und unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).
Gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG wurde vorliegend auf die Durchführung eines Schriftenwechsels verzichtet.
Das Wiedererwägungsverfahren ist im Asylrecht spezialgesetzlich geregelt (vgl. Art. 111b ff. AsylG). Ein entsprechendes Gesuch ist dem SEM innert 30 Tagen nach Entdeckung des Wiedererwägungsgrundes schriftlich und begründet einzureichen; im Übrigen richtet sich das Verfahren nach den revisionsrechtlichen Bestimmungen von Art. 66-68 VwVG (Art. 111b Abs. 1 AsylG).
In seiner praktisch relevantesten Form bezweckt das Wiedererwägungsgesuch die Änderung einer ursprünglich fehlerfreien Verfügung an eine nachträglich eingetretene erhebliche Veränderung der Sachlage (vgl. Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 1995 Nr. 21 E. 1 S. 202 ff.). Falls die abzuändernde Verfügung unangefochten blieb - oder ein eingeleitetes Beschwerdeverfahren mit einem blossen Prozessentscheid abgeschlossen wurde - können auch Revisionsgründe einen Anspruch auf Wiedererwägung begründen (zum sogenannten «qualifizierten Wiedererwägungsgesuch» vgl. etwa EMARK 2003 Nr. 17 E. 2.a S. 103 f. m.w.H. und BVGE 2013/22).
Nachdem das SEM das Wiedererwägungsgesuch des Beschwerdeführers materiell behandelt hat und - entgegen des diesbezüglichen Antrags in der Beschwerdeschrift - darauf eingetreten ist, hat das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen, ob die Vorinstanz in zutreffender Weise das Bestehen des geltend gemachten Wiedererwägungsgrundes verneint und an ihrer ursprünglichen Verfügung vom 2. Dezember 2013 festgehalten hat, wobei praxisgemäss der sich präsentierende Sachverhalt im Urteilszeitpunkt massgebend ist.
Prozessgegenstand bei einem Wiedererwägungsgesuch hinsichtlich eines gestützt auf Art. 31a Bs. 1 Bst. b AsylG gefällten Nichteintretensentscheides (Dublin-Verfahren) kann lediglich die Frage bilden, ob sich seit Abschluss des ordentlichen Verfahrens eine nachträglich veränderte Sachlage respektive Gründe nach Art. 66 Abs. 2 VwVG im Hinblick auf die staatsvertragliche Zuständigkeit des fraglichen Mitgliedstaates (vorliegend Italien) oder hinsichtlich Völkerrechtskonformität einer Wegweisung dorthin beziehungsweise humanitären Gründen nach Art. 29a Abs. 3 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) ergeben haben.
Das SEM begründete seine Verfügung damit, es könne, wie in der Verfügung vom 2. Dezember 2013 und im Urteil BVGer E-2514/2014 (die Kindsmutter betreffend) festgestellt worden sei, nicht von einer dauerhaften Beziehung des Beschwerdeführers mit seiner Partnerin B. im Sinne von Art. 2 Bst. g Dublin-III-VO gesprochen werden. Weiter spreche die erfolgte Vaterschaftsanerkennung nicht gegen eine Wegweisung des Beschwerdeführers nach Italien. Aufgrund des noch jungen Alters des Kindes und der erst seit einem Jahr bestehenden Partnerschaft mit der Kindsmutter führe eine Überstellung des Beschwerdeführers nach Italien zu keiner Verletzung des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (KRK, SR 0.107). Eine solche würde zudem einen regelmässigen persönlichen Kontakt zu dessen Kind nicht verunmöglichen.
Es seien auch keine humanitären Gründe feststellbar, die einen Selbsteintritt von Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO i.V.m. Art. 29a Abs. 3 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) rechtfertigen würden.
In der Rechtsmitteleingabe wird dazu geltend gemacht, es seien beim Beschwerdeführer eine posttraumatische Belastungsstörung und eine mittelgradig depressive Episode diagnostiziert worden. Er befinde sich seit dem 22. Januar 2015 in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung. Er und seine Partnerin hätten sich in der Türkei im Mai/Juni 2013 kennengelernt und würden sich damit seit zwei Jahren kennen. Zudem würden sie in einer gemeinsamen Wohnung leben. Aufgrund der Geburt ihres gemeinsamen Kindes im Dezember 2014 könne nicht mehr von einer unverbindlichen und ungewissen Beziehung ausgegangen werden. Daran vermöge die Heirat der Beschwerdeführerin mit einem anderen Mann im Jahre 2009,
dieser sei extrem gewalttätig gewesen - die Ernstund Dauerhaftigkeit der heutigen Beziehung nicht in Zweifel zu ziehen. Mit der Überstellung des Beschwerdeführers nach Italien drohe daher eine Verletzung von Art. 8 EMRK. Die Vorinstanz hätte im Wiedererwägungsverfahren die Zuständigkeit gemäss Dublin-III-VO überprüfen müssen. Durch die Geburt des Kindes lebe nun ein Mitglied der Kernfamilie des Beschwerdeführers in der Schweiz und es sei Art. 2 Bst. g Dublin-III-VO anzuwenden. Die Zuständigkeit liege daher gemäss Art. 9 Dublin-III-VO bei der Schweiz, da der Beschwerdeführer mit seinem Kind einen hier aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen habe. Sollte das Gericht diese Ansicht nicht teilen, habe die Schweiz gestützt auf Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO i.V.m. Art. 8 EMRK auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers mittels Selbsteintritt einzutreten, ansonsten das Recht auf Familienleben verletzt wäre. Gleichzeitig wird auf BVGE 2013/24 hingewiesen. Eine Trennung von seinem Kind und der Kindsmutter hätte zudem auf diesen eine destabilisierende Wirkung.
Die Zuständigkeit ergibt sich aus Art. 7 Abs. 2 Dublin-III-VO, wonach bei der Bestimmung des Mitgliedstaates von der Situation auszugehen ist, die zu dem Zeitpunkt gegeben war, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat gestellt hat (sog. Versteinerungsprinzip; vgl. Christian FILZWIESER/SPRUNG, Dublin III-Verordnung, Stand: 1.2.2014 K4 zu Art. 7).
Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil E-7078/2013 vom
20. März 2014 die vorinstanzliche Verfügung bestätigt, wonach Italien zur Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens (Art. 31a Bs. 1 Bst.
b AsylG) staatsvertraglich zuständig ist (vgl. E. 6.1). Diese wurde im damaligen Beschwerdeverfahren auch nicht in Frage gestellt.
Aus den Akten geht weiter hervor, dass der Beschwerdeführer am
11. Oktober 2013 - von Italien herkommend - erstmals in der Schweiz um Asyl ersucht hat. Zu diesem Zeitpunkt konnte aufgrund der Aussagen des Beschwerdeführers und von Frau B. von einer engen Bindung, indessen (noch) nicht von einer Beziehung ausgegangen werden, welche unter den Begriff der Familie hätte subsumiert werden können (vgl. Urteil E-7078/2013 E. 6.3 und Akten A5/11 S. 3).
Zwar wird in den Erwägungsgründen der Dublin-III-VO 14 und 15 festgehalten, dass der Achtung des Familienlebens eine vorrangige Bedeutung zukomme. Mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat kann sichergestellt werden, dass die Anträge sorgfältig geprüft werden, diesbezügliche Entscheidungen kohärent sind und dass die Mitglieder eine Familie nicht voneinander getrennt werden.
Indessen ist in Art. 2 Bst. g Dublin-III-VO klar definiert, wer als Familienangehöriger anzusehen ist, Ehegatten, Lebenspartner sowie minderjährige Kinder. Der Einleitungssatz beinhaltet zudem zwei Grundvoraussetzungen, nämlich erstens, dass zur Familie im Sinne von Dublin III nur im Hoheitsgebiet anwesende Menschen zählen - was vorliegend erfüllt wäre - und zweitens, dass die Familie schon im Herkunftsland bestanden haben muss
was vorliegend nicht der Fall ist - (vgl. FILZWIESER/SPRUNG, a.a.O., K 23 zu Art. 2). Der Beschwerdeführer kann sich gestützt auf die Geburt des mit seiner Partnerin gemeinsamen Kindes im Dezember 2014 auch nicht auf Art. 2 Bst. g Dublin-III-VO berufen respektive vermag dieser Umstand an der Zuständigkeit Italiens nichts zu ändern.
Überdies fällt vorliegend auch eine Anwendung von Art. 9 Dublin-III-VO ausser Betracht, da die Partnerin des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt dessen Asylgesuches noch keinen Status mit internationalem Schutz hatte.
Aufgrund des Gesagten ist die grundsätzliche Zuständigkeit Italiens im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO weiterhin gegeben. Diese ist im vorliegenden Wiedererwägungsverfahren nicht mehr weiter zu prüfen.
Jeder Mitgliedstaat kann abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO beschliessen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist (Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO; sog. Selbsteintrittsrecht), wobei diese Bestimmung nicht direkt anwendbar ist, sondern nur in Verbindung mit einer anderen Norm des nationalen oder internationalen Rechts angerufen werden kann (vgl. BVGE 2010/45 E. 5). Art. 29a Abs. 3 AsylV1 sieht vor, dass das BFM aus humanitären Gründen ein Gesuch behandeln kann, auch wenn nach den Kriterien der Dublin II-VO bzw. Dublin III-VO ein anderer Staat zuständig ist, wobei diese Bestimmung der Behörde einen gewissen Ermessensspielraum lässt und restriktiv auszulegen ist (vgl. BVGE 2011/9 E. 4.1, BVGE 2012/4). Es gibt andererseits auch Fälle, in denen die Durchsetzung der nach der Dublin-III-VO festgelegten Zuständigkeit einen Verstoss gegen Normen des Völkerrechts, wie insbesondere das flüchtlingsrechtliche Refoulement-Verbot nach Art. 33 FK, die menschenrechtlichen Garantien der EMRK, der UNO-Pakt II (SR 0.103.2) oder die FoK (SR 0.105), bedeuten würde (vgl. BVGE 2013/24; Filzwieser/Sprung, a.a.O., K 2 zu Art. 17). In einem solchen Fall besteht ein einklagbarer Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts (vgl. BVGE 2010/45 E. 7.2).
Aufgrund der erwähnten Partnerschaft des Beschwerdeführers und der Geburt eines gemeinsamen Kindes ist im Folgenden zu untersuchen, ob bei einer Überstellung des Beschwerdeführers nach Italien eine Verletzung internationalen öffentlichen Rechts drohen würde, welche die Schweiz zur Anwendung der Souveränitätsklausel und zur Prüfung des Asylgesuchs verpflichten würde.
Art. 8 EMRK garantiert den Schutz des Familienlebens.
Alle Mitgliedstaaten, die gleichzeitig Signatarstaaten der EMRK sind, sind gehalten, die Dublin-III-VO im Einklang mit diesem Vertragswerk und mithin auch mit Art. 8 EMRK umzusetzen. So trifft den befassten Staat die völkerrechtliche Pflicht, die Souveränitätsklausel anzuwenden, wenn die Einheit der Familie gemäss Art. 8 EMRK durch einen Entscheid, einen Asylantrag nicht zu prüfen und die antragstellende Person in den grundsätzlich zuständigen Staat zu überstellen, gefährdet wird (FRANCESCO MAIANI, L'unité familiale et le système de Dublin - Entre gestion des flux migratoires et respect des droits fondamentaux, Basel 2006, S. 278 ff. und S. 297).
Angesichts dessen, dass der Beschwerdeführer und seine Partnerin seit ihrem Kennenlernen in der Türkei im Mai/Juni 2013 zusammen sind und seit ihrer Einreise in die Schweiz im Oktober 2013 zusammen in einer gemeinsamen Wohnung leben, kann von einem bereits längere Zeit andauernden Zusammenleben in einer dauerhaften, eheähnlichen Gemeinschaft beziehungsweise einer nahen, echten und tatsächlich gelebten Beziehung im Sinne von Art. 8 EMRK gesprochen werden (vgl. BVGE 2008 Nr. 47 E. 4.1.1. und EMARK 1993 Nr. 24). Hinzu kommt, dass im Dezember 2014 ein gemeinsames Kind geboren worden ist. Aus diesen Gründen kann im heutigen Zeitpunkt vom Bestehen einer Familie im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK ausgegangen werden.
Damit stellt sich die Frage nach einem wiedererwägungsweisen Selbsteintritt gemäss Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO. Aufgrund der hievor gemachten Feststellungen kommt das Bundesverwaltungsgericht vorliegend zum Schluss, dass mit der nunmehr als dauerhaft zu bezeichnenden Partnerschaft und der Geburt des gemeinsamen Kindes des Beschwerdeführers und seiner Partnerin eine wesentliche Veränderung des rechtserheblichen Sachverhalts vorliegt und als Folge davon eine Überstellung des Beschwerdeführers nach Italien mit Art. 8 EMRK nicht vereinbar wäre. Deshalb sind vorliegend die Voraussetzungen für einen völkerrechtlich gebotenen Selbsteintritt der Schweiz gegeben.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen und die angefochtene Verfügung aufzuheben. Die Vorinstanz wird angewiesen, sich für die Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens zuständig zu erklären und das Asylverfahren in der Schweiz durchzuführen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG), wodurch die Gesuche um Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses und um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gemäss Art. 65 Abs. 1 VwVG gegenstandslos werden.
Dem vertretenen Beschwerdeführer ist angesichts seines Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom
21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine Entschädigung für die ihm notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen. Das Bundesverwaltungsgericht erachtet den in der Kostennote vom 5. Juni 2015 ausgewiesenen Aufwand für das Beschwerdeverfahren als angemessen und den veranschlagten Stundenansatz von Fr. 300.- als reglementskonform (vgl. Art. 10 Abs. 2 VGKE). Gestützt auf die in Betracht zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 9-13 VGKE) ist dem Beschwerdeführer zulasten der Vorinstanz eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 1'701.65 (inklusive Auslagen und Mehrwertsteuer) zuzusprechen. Mit der Zusprechung dieser Parteientschädigung wird auch das Gesuch um Beiordnung eines amtlichen Anwalts gemäss Art. 65 Abs. 2 VwVG gegenstandslos.
(Dispositiv nächste Seite)
Die Beschwerde wird gutgeheissen.
Die Verfügung des SEM vom 18. März 2015 wird aufgehoben. Das SEM wird angewiesen, auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers einzutreten und das nationale Asylverfahren aufzunehmen.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
Das SEM wird angewiesen, dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 1'701.65 auszurichten.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.
Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:
Muriel Beck Kadima Alexandra Püntener
Versand:
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