Urteilsdetails des Bundesstrafgerichts
Instanz: | Bundesstrafgericht |
Abteilung: | Beschwerdekammer: Strafverfahren |
Fallnummer: | RR.2023.173 |
Datum: | 19.01.2024 |
Leitsatz/Stichwort: | |
Schlagwörter | Kanton; Staatsanwalt; Staatsanwaltschaft; Appenzell; Verfahren; Verfahrens; Kantons; Verfahrensakten; Gesuch; Ordner; Gerichtsstand; Lasche; Betrug; Beschwerdekammer; Zofingen-Kulm; Akten; Untersuchung; Rechnungen; Solothurn; Oberstaatsanwaltschaft; Betrugs; Sinne; Übernahme; Ganzen:; Bundesstrafgerichts; Kantone; Gesuchs |
Rechtskraft: | Kein Rechtsmittel gegeben |
Rechtsgrundlagen des Urteils: | Art. 138 StGB ;Art. 146 StGB ;Art. 158 StGB ;Art. 34 StPO ;Art. 39 StPO ;Art. 396 StPO ;Art. 4 StPO ;Art. 40 StPO ;Art. 423 StPO ;Art. 66 BGG ; |
Referenz BGE: | 87 IV 145; ; |
Entscheid des Bundesstrafgerichts
BG.2023.43
Tribunal pénal fédéral Tribunale penale federale Tribunal penal federal | |
Geschäftsnummer: BG.2023.43 |
Beschluss vom 19. Januar 2024 Beschwerdekammer | ||
Besetzung | Bundesstrafrichter Roy Garré, Vorsitz, Miriam Forni und Felix Ulrich, Gerichtsschreiberin Chantal Blättler Grivet Fojaja | |
Parteien | Kanton Appenzell I.Rh., Staatsanwaltschaft, Gesuchsteller | |
gegen | ||
Kanton Aargau, Oberstaatsanwaltschaft, Gesuchsgegner | ||
Gegenstand | Gerichtsstandskonflikt (Art. 40 Abs. 2 StPO) |
Sachverhalt:
A. Die Staatsanwaltschaft Appenzell I.Rh. führt seit September 2022 gestützt auf eine Strafanzeige der A. AG vom 9. September 2022 unter der Verfahrensnummer ST.2022.380 eine Strafuntersuchung gegen B. wegen Betrugs im Sinne von Art. 146 Abs. 1 StGB und eventuell ungetreuer Geschäftsbesorgung im Sinne von Art. 158 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. B. wird vorgeworfen, in seiner Funktion als Vertriebsleiter der A. AG in Z./AI zwischen dem 7. Juli und 31. August 2022 mutmasslich sieben falsche Rechnungen zugunsten seiner eigenen Gesellschaft, der C. AG, sowie der D. GmbH und der E. AG ausgestellt zu haben (Verfahrensakten Staatsanwaltschaft Appenzell I.Rh. [nachfolgend «Verfahrensakten Kt. AI»], Ordner 1/2, Lasche A, Urk. A1 ff.; Lasche S1, Urk. S1/1).
B. Aktenkundig ist ferner, dass die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm am 2. September 2022 gestützt auf eine Strafanzeige der Eidgenössischen Steuerverwaltung vom 11. Mai 2022 unter der Verfahrensnummer KSTA ST.2021.287 gegen die (ehemalige) Ehefrau von B., F., eine Strafuntersuchung wegen Betrugs im Sinne von Art. 146 Abs. 1 StGB eröffnet hat. Die Aargauer Strafverfolgungsbehörden haben den Verdacht, dass F. mittels unwahrer Angaben einen COVID-19-Kredit für die Gesellschaft G. GmbH erwirkt habe (Verfahrensakten Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm [nachfolgend «Verfahrensakten Kt. AG»], Ordner 1-2.5, Lasche 1.6). Am 10. März 2023 dehnte die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm das Verfahren KSTA ST.2021.287 auf B. aus (Verfahrensakten Kt. AG, Ordner 1-2.5, Lasche 1.9).
C. Ebenso kann den Akten entnommen werden, dass am 29. März 2023 die H. AG bei der Kantonspolizei Aargau eine Strafanzeige gegen B. wegen Veruntreuung, eventualiter Sachenziehung und weiterer Delikte erhob. B. wird vorgeworfen, die monatlichen Zahlungen der Raten für das Leasing eines Personenwagens Mercedes-Benz AMG GT S bei der H. AG nur unregelmässig geleistet und das Fahrzeug nach Vertragsauflösung nicht zurückgegeben zu haben. Die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm eröffnete unter der Verfahrensnummer STA2 ST.2023.3092 eine Strafuntersuchung gegen B. wegen Veruntreuung im Sinne von Art. 138 Ziff. 1 StGB. Mit Schreiben vom 4. Juni 2023 ersuchte die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm die Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh. um Übernahme des Verfahrens STA2 ST.2023.3092, da gemäss Strafregisterauszug im Kanton Appenzell A.Rh. bereits seit dem 19. Juli 2022 gegen B. ein Verfahren wegen Veruntreuung hängig sei. Soweit ersichtlich blieb das Gesuch unbeantwortet (zum Ganzen: Verfahrensakten Kt. AG, Ordner «Akten, Gerichtsstandsverfahren», Lasche ST.2023.3092).
D. Am 27. Juni 2023 erstattete sodann die Kantonspolizei Solothurn bei der Staatsanwaltschaft Solothurn gegen B. Strafanzeige wegen Nichtabgabe von Ausweisen und/oder Kontrollschildern. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn eröffnete in der Folge gegen B. unter der Verfahrensnummer STA.2023.3914 eine Strafuntersuchung wegen Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz (zum Ganzen: Verfahrensakten Kt. SO, Ordner, nicht paginiert).
E. Mit Schreiben vom 28. Juni 2023 richtete die Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell I.Rh. im Verfahren ST.2022.380 (vgl. supra lit. A) eine Gerichtsstandsanfrage an die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm und ersuchte um Übernahme der Strafuntersuchung gegen B., da im Kanton Aargau bereits seit mindestens Mai 2022 gegen B. und F. eine Untersuchung wegen Betrugs sowie Urkundenfälschung geführt werde (vgl. supra lit. B).
F. Am 17. Juli 2023 ersuchte die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau um Übernahme des Verfahrens STA.2023.3914 (vgl. supra lit. D; Verfahrensakten Kt. SO, Ordner, nicht paginiert).
G. Mit Schreiben vom 7. August 2023 lehnte die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm die Anfrage der Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell I.Rh. um Übernahme des Verfahrens ST.2022.380 ab (vgl. supra lit. E). Sie war insbesondere der Ansicht, dass die B. im Kanton Appenzell I.Rh. vorgeworfenen Straftaten den qualifizierten Tatbestand des gewerbsmässigen Betruges im Sinne von Art. 146 Abs. 2 StGB erfüllen würden, womit die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat im Kanton Appenzell I.Rh. begangen worden sei und die Zuständigkeit zur Verfolgung und Beurteilung der B. vorgeworfenen Straftaten daher im Kanton Appenzell I.Rh. liege. Mit Schreiben vom 29. August 2023 hielt der Leitende Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell I.Rh. fest, dass keine Hinweise für ein gewerbsmässiges Handeln von B. im Kanton Appenzell I.Rh. vorliegen würden, hingegen die ersten Verfolgungshandlungen im Kanton Aargau vorgenommen worden seien, weshalb gestützt auf Art. 34 Abs. 1 StPO der Kanton Aargau für die Verfolgung und Beurteilung der B. vorgeworfenen zuständig sei. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau lehnte das Ersuchen mit Schreiben vom 4. September 2023 ab (zum Ganzen: Verfahrensakten Kt. AG, Ordner «Akten, Gerichtsstandsverfahren», Lasche ST.2021287, ST.2022.380).
H. Am 21. September 2023 teilte die Kantonale Staatsanwaltschaft Aargau der Staatsanwaltschaft Solothurn telefonisch mit, dass deren Gerichtsstandsanfrage vom 17. Juli 2023 (vgl. supra lit. F) mit einer Ablehnung und gleichzeitigem Ersuchen um Verfahrensübernahme der Staatsanwaltschaft Appenzell I.Rh. weitergeleitet worden sei. Derzeit laufe diesbezüglich ein Meinungsaustausch zwischen den beiden Oberstaatsanwaltschaften. Anschliessend werde über die Übernahme des solothurnischen Verfahrens entschieden (act. 3).
I. Mit Eingabe vom 12. Oktober 2023 an die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts beantragt der Leitende Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Appenzell I.Rh., es sei die Staatsanwaltschaft Aargau für zuständig zu erklären, das Strafverfahren ST.2022.380 der Staatsanwaltschaft Appenzell I.Rh. gegen B. wegen mehrfachen Betruges zu übernehmen (act. 1). In ihrer Gesuchsantwort vom 24. Oktober 2023 beantragt die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, auf das Gesuch sei nicht einzutreten. Eventuell sei es abzuweisen, und es sei der Kanton Appenzell I.Rh. berechtigt und verpflichtet zu erklären, die Strafverfahren ST.2022.380, KSTA ST.2021.287, STA ST.2023.3092 und STA.2023.3914 gegen B. und F. zu übernehmen (act. 3). Die Gesuchsantwort wurde dem Kanton Appenzell I.Rh. am 25. Oktober 2023 zur Kenntnis übermittelt (act. 4).
Auf die Ausführungen der Parteien und die eingereichten Akten wird, soweit erforderlich, in den nachfolgenden Erwägungen eingegangen.
Die Beschwerdekammer zieht in Erwägung:
1.
1.1 Die Strafbehörden prüfen ihre Zuständigkeit von Amtes wegen und leiten einen Fall wenn nötig der zuständigen Stelle weiter (Art. 39 Abs. 1 StPO). Erscheinen mehrere Strafbehörden als örtlich zuständig, so informieren sich die beteiligten Staatsanwaltschaften unverzüglich über die wesentlichen Elemente des Falles und bemühen sich um eine möglichst rasche Einigung (Art. 39 Abs. 2 StPO). Können sich die Strafverfolgungsbehörden verschiedener Kantone über den Gerichtsstand nicht einigen, so unterbreitet die Staatsanwaltschaft des Kantons, der zuerst mit der Sache befasst war, die Frage unverzüglich, in jedem Fall vor der Anklageerhebung, der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts zum Entscheid (Art. 40 Abs. 2 StPO i.V.m. Art. 37 Abs. 1StBOG). Voraussetzung für die Anrufung der Beschwerdekammer ist allerdings, dass mit allen ernsthaft in Frage kommenden Kantonen ein Meinungsaustausch durchgeführt wurde (Beschluss des Bundesstrafgerichts BG.2013.32 vom 27. Februar 2014 E. 1.1 und 2.3; Schweri/Bänziger, Interkantonale Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, 2. Aufl. 2004, N. 599). Hinsichtlich der Frist, innerhalb welcher die ersuchende Behörde ihr Gesuch einzureichen hat, ist im Normalfall die Frist von zehn Tagen gemäss Art. 396 Abs. 1 StPO analog anzuwenden (TPF 2011 94 E. 2.2). Ein Abweichen von dieser Frist ist ausnahmsweise in begründeten Fällen zulässig, so zum Beispiel, wenn die schriftliche Stellungnahme des ersuchten Kantons noch Verhandlungsspielraum bietet, der Fall aufgrund noch unklarer Faktenlage weiterer Erörterung bedarf oder aber während laufender Frist neue Fakten bekannt werden (Beschluss des Bundesstrafgerichts BG.2012.20 vom 12. März 2014 E. 1.4; Schlegel, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 2020, N. 6 zu Art. 40 StPO).
1.2 Die Parteien gehen zu Recht davon aus, dass gerichtsstandbestimmend die Frage ist, ob die im Kanton Appenzell I.Rh. beanzeigten und B. vorgeworfenen Betrugshandlungen das Merkmal der Gewerbsmässigkeit aufweisen. Dabei gehen die beteiligten Kantone offenbar stillschweigend davon aus, dass die Tathandlungen des im Kanton Appenzell I.Rh. zur Anzeige gebrachten Betrugs in diesem Kanton verübt worden sind. Ein Betrug gilt als dort ausgeführt, wo der Täter jemanden durch Vorspiegelung oder Unterdrückung von Tatsachen zu einem Verhalten bestimmt, das den sich Irrenden oder einen Dritten am Vermögen schädigt (Schweri/Bänziger, a.a.O., N. 106). B. wird vorgeworfen, als Vertriebsleiter der in Z./AI ansässigen A. AG zwischen dem 7. Juli und 31. August 2022 zum Nachteil der A. AG mutmasslich sieben fiktive Rechnungen zugunsten seiner eigenen Gesellschaft, der C. AG, sowie zugunsten der D. GmbH und der E. AG ausgestellt zu haben. Die Rechnungen habe er in der Folge per E-Mail der I. AG geschickt, welche die Zahlungen für die A. AG vorgenommen habe. Auch habe er verschiedentlich telefonisch bei der I. AG um Begleichung der fiktiven Rechnungen gebeten (vgl. supra lit. A; zum Ganzen: Verfahrensakten Kt. AI, Ordner 1/2, Lasche S1). Gemäss Sammelbericht der Kantonspolizei des Kantons Appenzell I.Rh. vom 30. Mai 2023 befindet sich das Domizil der A. AG in Z./AI bei der I. AG. J., Geschäftsführer des österreichischen Mutterhauses der A. AG, hatte anlässlich der Einvernahme durch die Landespolizeidirektion Oberösterreich vom 9. September 2022 ausgesagt, dass sich die Büros der A. AG hingegen an der […]-Strasse in Y./ZH befänden. J. hielt ausserdem im Rahmen einer E-Mail-Korrespondenz vom September 2022 mit dem in der Strafuntersuchung des Kantons Appenzell I.Rh. zuständigen polizeilichen Sachbearbeiter fest, dass am Rande noch weitere Personen involviert gewesen seien, die mit B. im Büro in Y./ZH gearbeitet hätten. Aufgrund der heutigen Aktenlage ist daher davon auszugehen, dass B. von Y./ZH aus für die A. AG tätig war. So sind denn auch die von B. ausgestellten Rechnungen jeweils an die A. AG, […]-Strasse in Y./ZH (bzw. X./ZH) adressiert worden (vgl. zum Ganzen: Verfahrensakten Kt. AI, Ordner 1/2, Lasche S1). An welchem Ort B. die fingierten Rechnungen erstellt und von wo aus er die E‑Mails an die I. AG mit den Zahlungsanweisungen geschickt bzw. die entsprechenden Telefonate mit der I. AG geführt hat, ist aufgrund der vorliegenden Aktenlage unklar. In Betracht kommt sein Arbeitsort an der […]-Strasse in Y./ZH. Nicht auszuschliessen sind auch sein Wohnort in W./SO oder der Sitz der C. AG in V./ZG. Ein Meinungsaustausch mit den Kantonen Zürich, Solothurn oder Zug hinsichtlich der im Kanton Appenzell I.Rh. beanzeigten Delikte hat jedoch nicht stattgefunden. Entsprechend ist der Meinungsaustausch nicht vollständig durchgeführt worden.
1.3 Daraus ergibt sich, dass mangels eines vollständigen Austauschs über den Gerichtsstand mit sämtlichen in Frage kommenden Kantonen auf das Gesuch nicht einzutreten ist. Vor diesem Hintergrund braucht der Frage nach der Rechtzeitigkeit des Gesuchs nicht weiter nachgegangen zu werden.
2. Praxisgemäss ist bei interkantonalen Gerichtsstandskonflikten keine Gerichtsgebühr zu erheben (vgl. Art. 423 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 66 Abs. 4 BGG per analogiam; vgl. schon BGE 87 IV 145).
Demnach erkennt die Beschwerdekammer:
1. Auf das Gesuch des Kantons Appenzell I.Rh. wird nicht eingetreten.
2. Es werden keine Kosten erhoben.
Bellinzona, 19. Januar 2024
Im Namen der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
Zustellung an
- Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell I.Rh.
- Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid ist kein ordentliches Rechtsmittel gegeben.
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