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Entscheid des Bundesstrafgerichts: BG.2024.50, BP.2024.83 vom 30.07.2024

Hier finden Sie das Urteil BG.2024.50, BP.2024.83 vom 30.07.2024 - Beschwerdekammer: Strafverfahren

Sachverhalt des Entscheids BG.2024.50, BP.2024.83

Der Bundesstrafgericht BG.2024.20 hat einen Gerichtsstandskonflikt zwischen dem Kanton Bern und dem Kantone Aargau bezüglich der Zuständigkeit des Strafverfahrens gegen eine Person, die mehrere Straftaten an verschiedenen Orten verübt hat. Der Kanton Bern hat sich am 14. März 2024 nach einem Gerichtsstandsverfahren beim Kanton Aargau erkundigt und den Gerichtsstand für das Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland noch offen gemacht. Der Kanton Aargau hat einen Strafbefehl vom 21. März 2024 erlassen, ohne dass es um die Anfrage des Kantons Bern geht. Der Strafbefehl wurde jedoch erst nachdem der Kanton Bern den Gerichtsstand für das Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland noch offen gemacht hatte. Der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts BG.2024.20 hat in ihrem Beschluss vom 30. Juli 2024 festgestellt, dass die Voraussetzungen für den Abgeschlossenen Gerichtsstand des Art. 34 Abs. 1 StPO erfüllt sind und daher der Kanton Aargau zur Last gelegt ist. Der Beschwerdekammer hat auch festgestellt, dass die Strafbehörden des Kantons Aargau berechtigt und verpflichtet sind, die A. zur Last gelegten Straftaten zu verfolgen und zu beurteilen. Die Beschwerdekammer hat keinen ordentlichen Rechtsmittel gegeben.

Urteilsdetails des Bundesstrafgerichts

Instanz:

Bundesstrafgericht

Abteilung:

Beschwerdekammer: Strafverfahren

Fallnummer:

BG.2024.50, BP.2024.83

Datum:

30.07.2024

Leitsatz/Stichwort:

Schlagwörter

Kanton; Gericht; Gerichtsstand; Gerichtsstands; Verfahren; Staatsanwalt; Verfahren; StA/BZ; Staatsanwaltschaft; Kantons; Anfrage; Befehl; Gerichtsstandsanfrage; Behörden; Berner; Verfahrens; Gerichtsstandsverfahren; Bundesstrafgericht; GStA/BE; Bundesstrafgerichts; Verfolgung; Kantone; Taten; Behörde; Beschwerdekammer; Staatsanwaltschaften

Rechtskraft:

Kein Rechtsmittel gegeben

Rechtsgrundlagen des Urteils:

Art. 119 AIG ;Art. 13 StGB ;Art. 172 StGB ;Art. 18 StGB ;Art. 2 StPO ;Art. 29 StGB ;Art. 29 StPO ;Art. 34 StPO ;Art. 39 StPO ;Art. 40 StPO ;Art. 42 StPO ;

Referenz BGE:

138 IV 214; ;

Entscheid des Bundesstrafgerichts

BG.2024.20

Tribunal pénal fédéral

Tribunale penale federale

Tribunal penal federal

Geschäftsnummer: BG.2024.20

Beschluss vom 30. Juli 2024 Beschwerdekammer

Besetzung

Bundesstrafrichter

Patrick Robert-Nicoud, Vorsitz,

Daniel Kipfer Fasciati und Giorgio Bomio-Giovanascini,

Gerichtsschreiber Martin Eckner

Parteien

Kanton Bern, Generalstaatsanwaltschaft,

Gesuchsteller

gegen

Kanton Aargau, Oberstaatsanwaltschaft,

Gesuchsgegner

Gegenstand

Gerichtsstandskonflikt (Art. 40 Abs. 2 StPO)

Sachverhalt:

A. Das Migrationsamt des Kantons Zürich verfügte am 22. Dezember 2023 die Ausgrenzung von A. (nachfolgend «A.» oder «Beschuldigter») für das Gebiet der Stadt Zürich bis 22. Dezember 2025. Die Regionalpolizei Brugg erliess gegen A. am 18. Januar 2024 eine Wegweisung für das Stadtgebiet Brugg-Windisch bis zum 17. Februar 2024. Der Migrationsdienst des Kantons Neuenburg verbot A. mit Verfügung vom 30. Januar 2024 bis am 29. Februar 2024, sich ausserhalb eines Perimeters um das Bundesasylzentrum in Z. aufzuhalten. Der Dienst wies in der Verfügung darauf hin, dass eine Missachtung der Eingrenzung als Verstoss gegen Art. 119 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG; SR 142.20) strafbar ist.

Gemäss VOSTRA-Auszug vom 13. März 2024 eröffneten verschiedene Staatsanwaltschaften Strafverfahren gegen A. namentlich wegen Verstosses gegen Art. 119 Abs. 1 AIG: die Berner Regionale Staatsanwaltschaften Emmental-Oberaargau (am 10. Februar 2024) und Bern-Mittelland (29. Februar 2024; Verfahren BM 24 / 11629 LEH) sowie die Zürcher Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat am 2. März 2024. Zwischenzeitlich eröffnete am 12. Februar 2024 die Aargauer Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach (nachfolgend «StA/BZ») ein Strafverfahren gegen A. wegen geringfügigen Diebstahls (Art. 139 StGB i.V.m. Art. 172ter StGB), Hausfriedensbruchs (Art. 186 StGB) sowie Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen (Art. 292 StGB; act. 3.1).

B. Am 14. März 2024 habe sich Frau B. von der regionalen Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland telefonisch bei der StA/BZ (Frau C.) nach dem Verfahrensstand erkundigt. Sie habe die Auskunft erhalten, dass das Verfahren ST.2024.521 der StA/BZ bei Staatsanwalt D. noch hängig sei.

C. Mit Schreiben vom 22. März 2024 ersuchte die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern (nachfolgend «GStA/BE») die StA/BZ mit Verweis auf die erhaltene telefonische Auskunft um Übernahme des Strafverfahrens, da die ersten Verfolgungshandlungen im Kanton Aargau erfolgt seien (act. 1.1). Staatsanwalt D. lehnte dies am 27. März 2024 für die StA/BZ ab, da sein Verfahren ST.2024.521 am 21. März 2024 bereits mit Strafbefehl erledigt worden sei (act. 1.2).

D. Am 28. März 2024 teilte die GStA/BE der StA/BZ mit, die Ablehnung nicht zu akzeptieren und stellte eine zweite Gerichtsstandsanfrage (act. 1.3). Habe eine Staatsanwaltschaft Kenntnis davon, dass dieselbe beschuldigte Person gleichzeitig in mehreren Kantonen verfolgt werde, so müsse sie sich um die Klärung des Gerichtsstands bemühen und könne sich nicht durch frühzeitige Beendigung ihres Verfahrens einer allfälligen Übernahme entziehen. Die StA/BZ habe mit der telefonischen Anfrage vom 14. März 2024 (vgl. obige litera B) um das Berner Verfahren gewusst. Die GStA/BE ersuchte die StA/BZ um Anerkennung der Zuständigkeit. Sie legte der Anfrage auch einen Anrufnachweis vom 14. März 2024 bei.

Am 4. April 2024 antwortete Staatsanwalt D. für die StA/BZ, dass er bis zur ersten schriftlichen Gerichtsstandsanfrage (Eingang am 26. März 2024) nicht um den Anruf vom 14. März 2024 gewusst habe. Der Anruf stelle auch nicht eine telefonische Gerichtsstandsanfrage oder dergleichen dar, sondern lediglich eine Auskunftsanfrage. Die StA/BZ lehnte die Übernahme mit Verweis auf den Strafbefehl erneut ab (act. 1.4).

E. Am 10. April 2024 leitete die GStA/BE den abschliessenden Meinungsaustausch mit der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau (nachfolgend «OStA/AG») ein (act. 1.5). Die OStA/AG lehnte es am 23. April 2024 ab, das Berner Strafverfahren zu übernehmen (act. 1.6).

F. Die GStA/BE ersuchte daraufhin am 29. April 2024 die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts um Bestimmung des Gerichtsstands (act. 1). Es sei der Kanton Aargau für zuständig zu erklären. Die OStA/AG hielt in ihrer Antwort vom 13. Mai 2024 dafür, die Zuständigkeit liege beim Kanton Bern (act. 3). Das Gericht brachte die Eingabe am 14. Mai 2024 der GStA/BE zur Kenntnis (act. 4).

Auf die Ausführungen der Parteien und die eingereichten Akten wird, soweit erforderlich, in den nachfolgenden rechtlichen Erwägungen Bezug genommen.

Die Beschwerdekammer zieht in Erwägung:

1. Die Eintretensvoraussetzungen (durchgeführter Meinungsaustausch zwischen den involvierten Kantonen und zuständigen Behörden, Frist und Form, vgl. Beschluss des Bundesstrafgerichts BG.2019.50 vom 22. Januar 2020 E. 1.1) geben keinen Anlass zu Bemerkungen. Auf das Gesuch ist einzutreten.

2.

2.1 Der Kanton Aargau führt aus (act. 3), die StA/BZ habe bereits mit der Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau eine Gerichtsstandskorrespondenz (in act. 3.1) geführt. Sie habe am 13. März 2024 das Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat und am 14. März 2024 dasjenige der Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau übernommen (S. 1). Nach Erhalt der Zürcher Abtretungsverfügung am 19. März 2024 sei das Verfahren entscheidreif gewesen und entsprechend habe die StA/BZ am 21. März 2024 einen Strafbefehl erlassen. Erst danach, am 26. März 2024, habe sie die Berner Gerichtsstandsanfrage vom 22. März 2024 betreffend das Verfahren der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland erhalten. Die StA/BZ habe entsprechend auf den Strafbefehl verwiesen und eine Übernahme abgelehnt. Sie habe eine (weitere) Gerichtsstandsanfrage, der Staatsanwaltschaft Winterthur-Unterland, ebenfalls abschlägig beantwortet.

Der Kanton Bern schildere eine telefonische Anfrage, wobei die Kanzlei der StA/BZ der Berner Sachbearbeiterin mitgeteilt habe, das Aargauer Verfahren sei noch hängig. Es habe kein Gespräch mit dem fallführenden Staatsanwalt der StA/BZ stattgefunden. Die Anfrage sei im Geschäftsverwaltungsprogramm praxisgemäss auch nicht vermerkt worden, würden doch von diversen Amtsstellen täglich diverse Anfragen erfolgen. Der genaue Inhalt des Telefonates vom 14. März 2024 sei unklar; insbesondere sei nicht belegt, dass der StA/BZ mitgeteilt worden sei, dass im Kanton Bern noch ein weiteres Verfahren gegen den Beschuldigten hängig sei. Alleine eine telefonische Anfrage «ob ein Verfahren bei der Staatsanwaltschaft noch hängig sei» vermöge ein Gerichtsstandsverfahren weder einzuleiten noch müsse darauf zwingend geschlossen werden. Die Kanzlei sei weder um ein Gespräch mit dem Staatsanwalt, noch um Vormerknahme eines neuen Verfahrens gebeten worden. Sie sei nicht auf den Grund der Anfrage hingewiesen worden und habe auch keine Dringlichkeit erkennen können. Eine einfache telefonische Anfrage könne nicht ein entscheidreifes Verfahren verzögern. Nach Ziffer 4 der Gerichtsstandsempfehlungen SSK erfolgten Gerichtsstandsanfragen schriftlich und unter Beilage der Akten (S. 2 f.).

Eine Gerichtsstandsanfrage sei sodann umgehend zu stellen resp. unzweifelhaft in Aussicht zu stellen und die StA/BZ habe nach 12 Tagen nicht mit einer solchen rechnen müssen. Die StA/BZ habe weder nach Treu und Glauben noch im Rahmen der interkantonalen Kollegialität mit einer neuerlichen Gerichtsstandsanfrage durch den Kanton Bern zu rechnen gehabt. Dass die GStA/BE bei solchen Anfragen praxisgemäss ausführe, es sei eine neue Anzeige eingegangen, sei eine reine Behauptung, die weder erstellt noch bestätigt werden könne. Es werde auch bestritten, dass die StA/BZ Kenntnis von einem neuen Verfahren im Kanton Bern hatte oder hätte haben müssen. Aufgrund des ergangenen Strafbefehls seien die Verfahren gemäss Art. 34 Abs. 2 StPO getrennt zu führen (S. 3).

2.2 Der Kanton Bern hält fest (act. 1 S. 4 f.), es sei unbestritten, dass ein Telefongespräch geführt wurde und ebenso, dass die ersten Verfolgungshandlungen am 23. Januar 2024 im Kanton Aargau geschahen. Es liege zwar keine Aktennotiz mit dem genauen Wortlaut des Telefonates vor. Die Sachbearbeiterin weise bei gerichtsstandsrelevanten Abklärungen jedoch praxisgemäss darauf hin, dass im Kanton Bern eine neue Anzeige gegen die beschuldigte Person eingegangen sei und deshalb der Verfahrensstand angefragt werde. Offensichtlich diene ein solcher Anruf dazu, gerichtsstandsrelevante Informationen einzuholen und den anderen Kanton über ein Berner Verfahren in Kenntnis zu setzen. Die interne Kommunikation oder Vermerke im Geschäftsverwaltungssystem wiederum oblägen dem jeweilig angefragten Kanton selbst und entsprechende Schwierigkeiten dürften nicht zu Lasten des ersuchenden Kantons gehen. Ansonsten sei das grundlegende Vertrauen zwischen den Strafverfolgungsbehörde nicht mehr gegeben und jegliche Gerichtsstandskorrespondenz wertlos. Stehe somit fest, dass beide Kantone Kenntnis von den Verfahren hatten, stehe die Vorgehensweise des Kantons Aargau im Widerspruch zum gesetzlichen Gerichtsstand des Art. 34 Abs. 1 StPO und zur kollegialen und fairen Führung von Gerichtsstandsverfahren. Was die «lange» Dauer zwischen Telefonat und Eingang der Berner Gerichtsstandsanfrage betreffe, so sei die Dauer von vorliegend zwei Wochen üblich. Sie sei nicht übermässig lange, zumal im Kanton Bern die Gerichtsstandsverfahren zentral geführt würden.

3.

3.1 Hat eine beschuldigte Person mehrere Straftaten an verschiedenen Orten verübt, so sind für die Verfolgung und Beurteilung sämtlicher Taten die Behörden des Ortes zuständig, an dem die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat begangen worden ist. Bei gleicher Strafdrohung sind die Behörden des Ortes zuständig, an dem zuerst Verfolgungshandlungen vorgenommen worden sind (Art. 34 Abs. 1 StPO).

3.2 Erscheinen mehrere Strafbehörden als örtlich zuständig, so informieren sich die beteiligten Staatsanwaltschaften unverzüglich über die wesentlichen Elemente des Falles und bemühen sich um eine möglichst rasche Einigung (Art. 39 Abs. 2 StPO). Das Gerichtsstandsverfahren ist im Wesentlichen informeller Natur und eine Pflicht zur Schriftlichkeit eine blosse Ordnungsvorschrift. Ob und seit wann die ersuchte Behörde Kenntnis von weiteren Strafverfahren hat, ist eine Beweisfrage. Eine mündliche Information über ein zusammenhängendes Strafverfahren löst die Pflicht aus, sich um eine Einigung zu bemühen. Es kommt dabei nicht darauf an, ob diese Information behördenintern an die zuständige Stelle (den betreffenden Staatsanwalt) weitergeleitet worden war (Beschlüsse des Bundesstrafgerichts BG.2021.35 vom 6. Juli 2021 E. 3.4; BG.2017.21 vom 17. Januar 2018 E. 3.5/4.1).

3.3 Nach Art. 40 Abs. 2 StPO unterbreitet bei Nichteinigung die Staatsanwaltschaft des Kantons, der zuerst mit der Sache befasst war, die Frage unverzüglich, in jedem Fall vor der Anklageerhebung, dem Bundesstrafgericht zum Entscheid. Nach Art. 34 Abs. 2 StPO werden die Verfahren getrennt geführt, wenn in einem beteiligten Kanton im Zeitpunkt des Gerichtsstandsverfahrens nach den Artikeln 39‑42 wegen einer der Straftaten schon Anklage erhoben worden ist. Gemäss Art. 42 Abs. 3 StPO kann ein nach den Artikeln 38‑41 festgelegter Gerichtsstand nur aus neuen wichtigen Gründen und nur vor der Anklageerhebung geändert werden.

Anders ist die Situation, wenn der Meinungsaustausch vor Anklageerhebung eingeleitet wird und eine anklagende Behörde schon Kenntnis von einem «Zusammentreffen mehrerer Straftaten» hat (vgl. Beschlüsse des Bundes—strafgerichts BG.2022.51 vom 22. Juni 2023 E. 3.4.3; BG.2012.24 vom 18. Oktober 2012 E. 3.2; Baumgartner, Die Zuständigkeit im Strafverfahren, 2014, S. 490). Die Form der Kenntnisnahme ist dabei ohne Belang. Die Situation ist vergleichbar mit derjenigen bei Einstellungsverfügungen oder Erlass von Strafbefehlen während laufendem Gerichtsstandsverfahren. Diese kann eine Behörde nur erlassen, wenn sie weder wusste noch wissen musste, dass die beschuldigte Person gleichzeitig noch in anderen Kantonen verfolgt wird. Andernfalls gilt der Grundsatz, wonach sich eine Staatsanwaltschaft nicht durch frühzeitiges Erlassen z.B. einer Einstellungsverfügung der sich aus Art. 34 Abs. 1 StPO ergebenden Verpflichtung zur Bestimmung des Gerichtsstandes und gegebenenfalls zur Übernahme der Strafverfolgung und Beurteilung entziehen kann. Nicht massgeblich ist, ob eine nach Einleitung des Meinungsaustausches erfolgte Beendigung Teil des «courant normal» war. Auf die Gültigkeit der zwischenzeitlich vorgenommenen Verfahrensschritte hat diese Rechtsprechung keine Auswirkungen (vgl. Beschlüsse des Bundesstrafgerichts BG.2021.35 vom 6. Juli 2021 E. 3.4 f.; BG.2017.21 vom 17. Januar 2018 E. 3.4/4.2; BG.2015.5 vom 26. März 2015 E. 2.1; BG.2014.31 vom 27. Januar 2015 E. 2.1; BG.2010.20 vom 27. Dezember 2010 E. 3.3.2; BG.2009.29 vom 30. März 2010 E. 2.5; vgl. auch Baumgartner, a.a.O., S. 226 ff., 239).

3.4 Vorliegend hat der Kanton Bern sich am 14. März 2024 im Zusammenhang mit einem Gerichtsstandsverfahren beim Kanton Aargau nach einem dortigen Verfahren erkundigt. Der zuständige Aargauer Staatsanwalt hat danach am 21. März 2024 einen Strafbefehl erlassen, ohne dass er um die Anfrage des Kantons Bern wusste. Wie im ebenfalls den Kanton Aargau betreffenden Fall BG.2017.21 vom 17. Januar 2018 ist jedoch auch vorliegend dem verfahrensführenden Staatsanwalt das Wissen seiner Kanzlei anzurechnen. Ein laufendes Gerichtsstandsverfahren kann nicht vermieden werden, indem das eigene Strafverfahren erledigt wird. Entsprechend ist der Gerichtsstand für das Berner Verfahren noch formell zu bestimmen, wobei vorliegend unbestritten ist, dass er nach Art. 34 Abs. 1 StPO (Ort der ersten Verfolgungshandlungen) im Kanton Aargau liegt.

3.5 Zum gleichen Resultat führen bereits die Regeln zum Strafregister VOSTRA.

3.5.1 Die Staatsanwaltschaften informieren sich hauptsächlich via das Strafregister-Informationssystem VOSTRA über die hängigen Strafverfahren. Ein Austausch der Staatsanwaltschaften zum Gerichtsstand ist nur möglich, wenn überhaupt bekannt ist, dass andere Strafbehörden ebenfalls gegen dieselben Beschuldigten ermitteln. Dem VOSTRA kommt im staatsanwaltschaftlichen Meinungsaustausch eine zentrale Rolle zu. Entsprechend sind die Strafbehörden verpflichtet, Daten zu ihren Strafverfahren innert 10 Tagen einzutragen (Beschluss des Bundesstrafgerichts BG.2023.35 vom 27. Juni 2024 E. 5.5).

3.5.2 Die Bestimmungen des Gerichtsstandsrechtes greifen grundsätzlich bei einem «Zusammentreffen mehrerer Straftaten» (vgl. die Titelüberschrift zu Art. 29/30 StPO). Entsprechend schafft schon die Tatsache der gleichzeitigen Verfolgung mehrerer an verschiedenen Orten verübter strafbarer Handlungen den Gerichtsstand des Art. 344 Abs. 1 aStGB (entspricht heutigem Art. 34 Abs. 1 StPO) und nicht erst die tatsächliche Vereinigung der Verfahren (Beschluss des Bundesstrafgerichts BG.2009.29 vom 30. März 2010 E. 2.5; Schweri/Bänziger, Interkantonale Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, 2. Aufl. 2004, N. 300). Die Anwendbarkeit der Bestimmungen des Gerichtsstandsrechtes setzt also nur voraus, dass der Beschuldigte in verschiedenen Kantonen gleichzeitig verfolgt wird. Massgeblich ist sodann der Grundsatz der Verfahrenseinheit nach Art. 29 StPO. Er ist Ausfluss des verfassungsmässigen Gleichbehandlungsgebots. Er bildet seit langem ein Wesensmerkmal des schweizerischen Straf- und Strafverfahrensrechts (BGE 138 IV 214 E. 3.2; 138 IV 29 E. 3.2). Der Grundsatz der Verfahrenseinheit ist als strafprozessualer Grundsatz von den Strafbehörden von Amtes wegen zu verwirklichen, wobei Strafbehörden bereits ihre eigene Zuständigkeit von Amtes wegen zu prüfen haben (Art. 39 Abs. 1 StPO).

3.5.3 Die Strafverfolgungsbehörden können das Strafregister VOSTRA ohne weiteres elektronisch konsultieren und erhalten in gewissen Fällen automatisierte Meldungen. Bei Verfahrenshandlungen (sei es ein Strafbefehl, eine Einstellung oder Anklageerhebung) ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen dafür vorliegen. Sind noch Gerichtsstandsfragen offen, so sind diese zu klären, bevor eine Strafuntersuchung abgeschlossen werden kann. Die Strafverfolgungsbehörden können dabei grundsätzlich nicht geltend machen, sie hätten das Strafregister nicht konsultiert oder sein Inhalt sei ihnen nicht bekannt gewesen.

3.6 Vorliegend ergab sich bereits aus dem Strafregister, dass der Beschuldigte in verschiedenen Kantonen gleichzeitig verfolgt wird, was die Pflicht zum Austausch über den Gerichtsstand und zu einer möglichst raschen Einigung (Art. 39 Abs. 2 StPO) auslöst. Damit ist nicht entscheidend auf die Anfrage des Kantons Bern abzustellen und auch der genaue Inhalt des Gespräches ist nicht ausschlaggebend. Am 21. März 2024 waren demnach die Voraussetzungen noch nicht gegeben, um das Aargauer Verfahren durch Strafbefehl abzuschliessen. Dies hat keine Auswirkung auf die Gültigkeit des Strafbefehls. Indessen ist der Gerichtsstand für das Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland noch offen und zu klären. Vorliegend ist unbestritten, dass die StA/BZ die ersten Verfolgungshandlungen im vorliegenden Zusammenhang am 23. Januar 2024 vornahm. Dies führt nach Art. 34 Abs. 1 StPO zur Zuständigkeit des Kantons Aargau.

3.7 Damit sind die Strafbehörden des Kantons Aargau für berechtigt und verpflichtet zu erklären, die A. zur Last gelegten Straftaten zu verfolgen und zu beurteilen.

4. Praxisgemäss ist bei interkantonalen Gerichtsstandskonflikten keine Gerichtsgebühr zu erheben (TPF 2023 130 E. 5.1 m.w.H.).

Demnach erkennt die Beschwerdekammer:

1. Die Strafbehörden des Kantons Aargau sind berechtigt und verpflichtet, die A. zur Last gelegten Straftaten zu verfolgen und zu beurteilen.

2. Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.

Bellinzona, 31. Juli 2024

Im Namen der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts

Der Vizepräsident:                                                     Der Gerichtsschreiber:

Zustellung an

- Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern

- Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau

Rechtsmittelbelehrung

Gegen diesen Entscheid ist kein ordentliches Rechtsmittel gegeben.

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