Instanz: | Bundesstrafgericht |
Abteilung: | Strafkammer |
Fallnummer: | BH.2023.5 |
Datum: | 10.05.2023 |
Leitsatz/Stichwort: | |
Schlagwörter : | Bundes; Beschuldigte; Urteil; Beschuldigten; Recht; Beamte; Verfahren; Bundesgericht; Gewalt; Genugtuung; Bundesgerichts; Kammer; Schweiz; Bundesstrafgerichts; Verfahrens; Bundesanwaltschaft; Drohung; Apos;; Verteidigung; Person; Behörde; Lebenshaltungskosten; Hauptverhandlung; Amtshandlung; Sicherheit; Sinne; Zwang; Tagessatz; Berufung |
Rechtskraft: | Kein Weiterzug, rechtskräftig |
Rechtsnorm: | Art. 110 StGB ; Art. 12 StGB ; Art. 12 StPO ; Art. 123 StGB ; Art. 126 StGB ; Art. 13 StPO ; Art. 130 StPO ; Art. 135 StPO ; Art. 178 BV ; Art. 19 StPO ; Art. 23 StPO ; Art. 26 StPO ; Art. 28 StGB ; Art. 285 StGB ; Art. 319 StPO ; Art. 33 StPO ; Art. 356 StPO ; Art. 367 StPO ; Art. 393 StPO ; Art. 396 StPO ; Art. 398 StPO ; Art. 399 StPO ; Art. 42 StPO ; Art. 426 StPO ; Art. 429 StPO ; Art. 431 StPO ; Art. 5 StGB ; Art. 6 StPO ; Art. 7 OR ; Art. 91 StPO ; |
Referenz BGE: | 125 II 554; 129 IV 149; 131 III 12; 141 IV 329; 143 IV 339; 144 IV 202; 148 II 218; 95 IV 172; ; |
Kommentar: | Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
Tribunal pénal fédéral Tribunale penale federale Tribunal penal federal | |
Geschäftsnummer: SK.2021.5 |
Urteil vom 10. Mai 2023 Strafkammer | ||
Besetzung | Bundesstrafrichter Alberto Fabbri, Einzelrichter Gerichtsschreiberin Elena Inhelder | |
Parteien | Bundesanwaltschaft, vertreten durch Staatsanwalt des Bundes Vincens Nold
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gegen | ||
A., marokkanischer Staatsangehöriger, amtlich verteidigt durch Rechtsanwältin Sine Selman | ||
Gegenstand | Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte |
Anträge der Bundesanwaltschaft:
1. A. sei wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte (Art. 285 StGB) schuldig zu sprechen.
2. A. sei mit einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je Fr. 30.--, entsprechend Fr. 1'800.--, zu bestrafen. Die Geldstrafe sei zu bezahlen.
Die ausgestandene Untersuchungshaft von 25 Tagen sei auf die Strafe anzurechnen (Art. 51 StGB).
3. Die Verfahrenskosten in der Höhe von Fr. 500.-- seien A. aufzuerlegen.
4. Allfällige Zivilforderungen seien auf den Zivilweg zu verweisen.
5. Der Kanton Zürich sei mit dem Vollzug der Strafe zu beauftragen.
Anträge der Verteidigung:
1. Der Beschuldigte sei vollumfänglich vom Vorwurf der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte (Art. 285 StGB) freizusprechen.
2. Es sei das Strafverfahren gegen den Beschuldigten betreffend die Vorwürfe der Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 1 StGB) sowie der einfachen Körperverletzung (Art. 123 Abs. 1 StGB) einzustellen.
3. Dem Beschuldigten sei eine Genugtuung von Fr. 6'000.-- zzgl. 5 % Zins seit dem 15. Mai 2020 zuzusprechen.
4. Sämtliche Kosten des Vorverfahrens und des gerichtlichen Verfahrens (inkl. der Kosten der amtlichen Verteidigung) seien definitiv auf die Staatskasse zu nehmen.
Prozessgeschichte:
A. Am 15. Mai 2020 ereignete sich im Bundesasylzentrum Z. eine Auseinandersetzung zwischen mehreren Gesuchstellern. A. (nachfolgend: Beschuldigter), der den, ihn von der besagten Auseinandersetzung wegweisenden diensthabenden Sicherheitsmitarbeitenden der vom Bund für die Sicherheit im besagten Zentrum beauftragten B. SA, C., mit einem Griff an den Hals und anschliessendem Würgen tätlich angegriffen haben soll, wurde in der Folge verhaftet (pag. BA 06-01-0001 ff.).
B. Gleichentags erstattete C. Strafanzeige wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte beziehungsweise stellte Strafantrag wegen Tätlichkeit und einfacher Körperverletzung (pag. BA 15-01-0001 ff.).
C. Am 20. Mai 2020 unterbreitete die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland des Kantons Zürich eine Gerichtstandanfrage an die Bundesanwaltschaft, woraufhin diese am 22. Mai 2020 das Strafverfahren gegen den Beschuldigten wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte (Art. 285 StGB), Tätlichkeit (Art. 126 StGB) und einfacher Körperverletzung (Art. 123 StGB) in der Hand der Bundesbehörden vereinigte (pag. BA 02-00-0001 ff.; 01-01-0001; 03-00-0003).
D. Rechtsanwältin Sine Selman wurde am 20. Mai 2020 von der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland und nach Übernahme des Verfahrens durch die Bundesanwaltschaft am 11. Juni 2020 rückwirkend per 15. Mai 2020 als amtliche Verteidigerin des Beschuldigten eingesetzt (pag. BA 16-01-0003 ff.; -0017 ff.).
E. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland versetzte das Zwangsmassnahmengericht Bülach den Beschuldigten mit Verfügung vom 18. Mai 2020 in Untersuchungshaft (pag. BA 06-01-0007 ff.; -0013 ff.). Am 28. Mai 2020 erhob die amtliche Verteidigerin Beschwerde gegen die vorgenannte Verfügung. Da der Beschuldigte am 8. Juni 2020 aus der Untersuchungshaft zuhanden des Migrationsamtes des Kantons Zürich entlassen wurde (pag. BA 06-01-0033 f.), schrieb das Obergericht des Kantons Zürich das Beschwerdeverfahren als gegenstandslos ab und stellte gleichzeitig eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör fest (pag. BA 21-01-0030 ff.).
F. Mit Verfügung des Staatssekretariats für Migration (SEM) vom 26. März 2020 wurde der Beschuldigte - unter Androhung von Zwangsgewalt im Unterlassungsfall - angewiesen die Schweiz bis am 25. September 2020 zu verlassen (pag. BA 18-02-0006 ff.). Am 10. Juni 2020 verschwand der Beschuldigte aus dem Bundesasylzentrum Z. (pag. BA 18-02-0003). Seither ist der Aufenthalt des Beschuldigten unbekannt.
G. Mit Strafbefehl vom 25. September 2020 verurteilte die Bundesanwaltschaft den Beschuldigten wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte zu einer unbedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je Fr. 30.--, unter Anrechnung der Untersuchungshaft von 25 Tagen und zur Tragung der Verfahrenskosten in Höhe von Fr. 500.-- (pag. BA 03-00-0001 ff.).
H. Die Verteidigerin erhob namens des Beschuldigten am 6. Oktober 2020 form- und fristgerecht Einsprache gegen den Strafbefehl und verlangte die Einstellung des Strafverfahrens in Anwendung von Art. 319 Abs. 1 lit. a StPO (pag. BA 03-00-0005 ff.).
I. In der Folge überwies die Bundesanwaltschaft am 10. Februar 2021 die Akten zur Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens an die Strafkammer des Bundesstrafgerichts, wobei der Strafbefehl als Anklageschrift gilt (TPF 2.100.001 ff.).
J. Mit Verfügung vom 19. Februar 2021 lud der Einzelrichter der Strafkammer des Bundesstrafgerichts die Parteien ein, bis zum 8. März 2021 Beweisanträge zu stellen und zu begründen (TPF 2.400.001 f.).
K. Mit Schreiben vom 24. Februar 2021 verzichtete die Bundesanwaltschaft auf das Stellen von Beweisanträgen (TPF 2.510.001 f.). Die Verteidigerin beantragte mit Eingabe vom 8. April 2021 die Einvernahme von C. als Auskunftsperson sowie die Identifizierung und Befragung der zum Tatzeitpunkt arbeitenden Mitarbeiter des Bundesasylzentrums Z. als Zeugen (TPF 2.521.004-009).
L. Mit Beweisverfügung vom 13. April 2021 wurden C. als Auskunftsperson und der am Vorfall ebenfalls anwesende D., Mitarbeiter der B. SA, als Zeuge zur Hauptverhandlung vorgeladen (TPF 2.250001 ff.).
M. Die Hauptverhandlung wurde auf den 11. Mai 2021 festgelegt, im Falle des Nichterscheinens des Beschuldigten wurde eine weitere Hauptverhandlung am 12. Mai 2021 terminiert. Die Vorladung I sowie die Vorladung II - für den Fall des Nichterscheinens des Beschuldigten gemäss Vorladung I - wurden an die im Vorverfahren angegebene Zustelladresse des Beschuldigten und damit an die Adresse seiner Verteidigerin ordnungsgemäss versendet (TPF 2.310.007 ff.; 2.320.001; 2.331.001 ff.; 2.331.009 ff.; 2.351.001 ff.; 2.361.001 ff.).
N. Mit prozessleitender Verfügung vom 7. Mai 2021 hielt das Gericht fest, dass der gemäss dem als Anklageschrift dienenden Strafbefehl, vom Tatbestand der Gewalt und Drohung betroffene Sicherheitsmitarbeitende C. mit Schreiben vom 27. April 2021 seine Strafklage betreffend die Tatbestände der einfachen Körperverletzung und Tätlichkeit unwiderruflich zurückzog sowie betreffend den Tatbestand der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte ausdrücklich auf die Konstituierung als Privatkläger i.S.v. Art. 120 StPO verzichtete (TPF 2.255.001; 2.351.010).
O. Der Einzelrichter eröffnete am 11. Mai 2020 in Anwesenheit der Verteidigerin des Beschuldigten die Hauptverhandlung am Sitz des Bundesstrafgerichts. Die Bundesanwaltschaft verzichtete auf eine Teilnahme an der Hauptverhandlung. Der ordnungsgemäss vorgeladene Beschuldigte blieb der Hauptverhandlung unentschuldigt fern (TPF 2.720.001 f.).
Am 12. Mai 2021 fand die zweite Hauptverhandlung in Anwesenheit der Verteidigerin und der Auskunftsperson C. am Sitz des Bundesgerichts statt. Der Beschuldigte blieb auch dieser Hauptverhandlung unentschuldigt fern, worauf diese in seiner Abwesenheit durchgeführt wurde (Art. 336 StPO; [TPF 2.720.003 ff.]). Der Zeuge D. blieb seiner Einvernahme anlässlich der Hauptverhandlung ebenfalls unentschuldigt fern und wurde in der Folge mit einer Ordnungsbusse nach Art. 64 StPO belegt (TPF 2.913.001 ff.). Die Auskunftsperson C. erklärte im Rahmen der Hauptverhandlung nochmals sein Desinteresse (TPF 2.771.006).
Der Einzelrichter sistierte das Verfahren gleichentags in Anwendung von Art. 367 Abs. 3 StPO, da die zu diesem Zeitpunkt bestehende Beweislage (Aussage-gegen-Aussage-Konstellation), die Ermittlung des Kerngeschehens mangels Sachbeweisen nicht zuliess und ein Urteil entsprechend nicht ergehen konnte (TPF 2.933.001 ff.).
P. Mit Verfügung vom 13. Februar 2023 hob der Einzelrichter der Strafkammer des Bundesstrafgerichts die Sistierung angesichts neuer bundesgerichtlicher Rechtsprechung zur Beamteneigenschaft von Sicherheitsmitarbeitenden in Bundes-asylzentren, die in vorliegendem Verfahren ein Urteil ohne Anwesenheit des Beschuldigten zulässt, auf und nahm das Verfahren von Amtes wegen wieder auf (TPF 2.933.008 ff.).
Q. Gleichentags ordnete der Einzelrichter der Strafkammer des Bundesstrafgerichts das schriftliche Verfahren an, unter Einräumung einer Frist zur Stellungnahme an die Parteien (TPF 2.400.003).
R. Die Verteidigerin reichte am 16. Februar 2023 ihre diesbezügliche Stellungnahme ein und stellte die eingangs genannten Anträge (TPF 2.521.010 ff.). Die Bundesanwaltschaft verzichtete mit Schreiben vom 2. März 2023 auf die Einreichung einer Stellungnahme (TPF 2.510.003).
Der Einzelrichter erwägt:
1. Prozessuales
1.1 Zuständigkeit
Die Bundesgerichtsbarkeit ist vorliegend gestützt auf Art. 35 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Organisation der Strafbehörden des Bundes vom 19. März 2010 (Strafbehördenorganisationsgesetz, StBOG, SR 173.71) i.V.m. Art. 23 Abs. 1 lit. h StPO und Art. 26 Abs. 2 StPO gegeben.
Die Kompetenz des Einzelrichters der Strafkammer des Bundesstrafgerichts ergibt sich aus Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO i.V.m. Art. 36 Abs. 2 StBOG.
1.2 Gültigkeit des Strafbefehls und der Einsprache
Hinsichtlich der Gültigkeit des Strafbefehls und der Einsprache, die das Gericht vorfrageweise zu prüfen hat (Art. 356 Abs. 2 StPO), stellen sich keine Fragen; Strafbefehl und Einsprache sind gültig.
2. Materielles
2.1 Anklagevorwurf
2.1.1 Die Bundesanwaltschaft wirft dem Beschuldigten zusammengefasst vor, er habe am 15. Mai 2020, dem diensthabenden Sicherheitsbeamten C., welcher die Bewohner eines Bundesasylzentrums, darunter auch den Beschuldigten, daran zu hindern versuchte, sich einer dort stattfindenden Auseinandersetzung anzuschliessen, mit beiden Händen an den Hals gegriffen und zugedrückt, wodurch es ihm gelungen sei, C. für einige Sekunden zu würgen, bevor dieser den Angriff habe abwehren und den Beschuldigten zu Boden führen können. In der so beschriebenen Weise habe der Beschuldigte gehandelt, obschon er gewusst habe, dass es in die Zuständigkeit der im Bundesasylzentrum diensthabenden B.-Mitarbeitenden falle, für Ordnung und Sicherheit vor Ort besorgt zu sein. Der Beschuldigte habe gewusst bzw. zumindest billigend in Kauf genommen, dass er mit seinem Verhalten C. an der Ausübung seiner beruflichen Pflichten hindere und habe ihn darüber hinaus tätlich angegriffen.
2.2 Rechtliches
2.2.1 Nach Art. 285 Ziff. 1 StGB wird bestraft, wer eine Behörde, ein Mitglied einer Behörde oder einen Beamten durch Gewalt oder Drohung an einer Handlung, die innerhalb ihrer Amtsbefugnisse liegt, hindert, zu einer Amtshandlung nötigt oder während einer Amtshandlung tätlich angreift.
2.3 Als Beamte gelten die Beamten und Angestellten einer öffentlichen Verwaltung und der Rechtspflege sowie die Personen, die provisorisch ein Amt bekleiden oder provisorisch bei einer öffentlichen Verwaltung oder der Rechtspflege angestellt sind oder vorübergehend amtliche Funktionen ausüben (Art. 110 Abs. 3 StGB). Der strafrechtliche Beamtenbegriff im Sinne von Art. 110 Abs. 3 StGB erfasst sowohl institutionelle als auch funktionelle Beamte. Erstere sind die Beamten im öffentlich-rechtlichen Sinn sowie Angestellte im öffentlichen Dienst. Bei Letzteren ist es nicht von Bedeutung, in welcher Rechtsform diese für das Gemeinwesen tätig sind. Das Verhältnis kann öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich sein. Entscheidend ist vielmehr die Funktion der Verrichtungen. Bestehen diese in der Erfüllung öffentlicher Aufgaben, so sind die Tätigkeiten amtlich und die sie verrichtenden Personen Beamte im Sinne des Strafrechts (BGE 141 IV 329 E. 1.3; 135 IV 198 E. 3.3).
Als Amtshandlung gilt jede Handlung, die innerhalb der Amtsbefugnisse des Beamten fällt und in seiner örtlichen und sachlichen Zuständigkeit liegt. Eine Amtshandlung ist jede Betätigung in der Funktion als Beamter. Erfasst sind alle Teilakte der Amtstätigkeit, auch Vorbereitungs- und Begleithandlungen. Entscheidend ist, dass die Handlung im Zusammenhang mit der Erfüllung einer öffentlich-rechtlichen Funktion steht (Urteile des Bundesgerichts 6B_891/2010 vom 11. Januar 2011 E. 3.2; 6B_132/2008 vom 13. Mai 2008 E. 3.3). Innerhalb der Amtsbefugnis liegt die Handlung nach der Bestimmung des Art. 285 StGB dann, wenn die Behörde oder der Beamte zu ihrer Vornahme örtlich und sachlich zuständig ist (BGE 95 IV 172 E. 3; Heimgartner, Basler Kommentar, 4. Aufl. 2019, Vor Art. 285 StGB N. 12). Der tatbestandmässige Erfolg liegt in der Beeinträchtigung der Amtshandlung durch Einsatz der vom Gesetz genannten qualifizierten Mittel der Gewalt oder Drohung (Heimgartner, a.a.O., Art. 285 StGB N. 5).
2.3.1 Die Bestimmung stellt mehrere Tatvarianten unter Strafe, u.a. die Hinderung einer Amtshandlung mittels Gewalt oder durch einen tätlichen Angriff.
Unter Gewalt ist jede physische Einwirkung auf den Amtsträger zu verstehen. Diese muss indessen eine gewisse Intensität aufweisen, um tatbestandsmässig zu sein (Heimgartner, a.a.O., Art. 285 StGB N. 6 m.w.H.). Zu beachten ist, dass relative Kriterien zur Bestimmung der vorausgesetzten Intensität massgebend sind. Insbesondere ist auf die Konstitution, das Geschlecht und die Erfahrung des Opfers abzustellen. Vorausgesetzt wird eine eindeutige aggressive Kraftentfaltung gegen die betreffende Amtsperson. Entscheidend ist die Gesamtwürdigung bzw. -wirkung des Verhaltens des Beschuldigten (zum Ganzen Heimgartner, a.a.O., Art. 285 StGB N. 6 f.; Urteil des Bundesstrafgerichts SK.2018.50 vom 25. Januar 2019 E. 2.2.4; je m.w.H.).
Der tätliche Angriff besteht in einer unmittelbaren, auf den Körper zielenden Aggression im Sinne der Verübung einer Tätlichkeit nach Art. 126 StGB, wobei die Tätlichkeit von einer gewissen Intensität sein muss (Heimgartner, a.a.O., Art. 285 StGB N. 14 f.).
2.3.2 Der subjektive Tatbestand verlangt Vorsatz, Eventualvorsatz genügt (Art. 12 Abs. 1 und 2 StGB). Dem Täter muss bewusst sein, dass es sich bei seinem Gegenüber möglicherweise um einen Amtsträger handelt. Zudem muss sich sein Vorsatz auch auf die Amtshandlung beziehen, d.h. der Täter muss um das mögliche Vorliegen einer Amtshandlung wissen, wobei auch hier Eventualvorsatz ausreicht. Die Handlung des Täters muss weiter vom Willen getragen sein, den Amtsträger an der Amtshandlung zu hindern (Urteil des Bundesgerichts 6B_132/2008 vom 13. Mai 2008 E. 3.3; Heimgartner, a.a.O., Art. 285 StGB N. 23 sowie Art. 286 StGB N. 15).
2.4 Tatsächliche und rechtliche Würdigung
2.4.1 Erstellt und unbestritten sind vorliegend einzig die Gegebenheiten, welche die Rahmenbedingungen betreffend die im Bundesasylzentrum Z. stattgefundene Auseinandersetzung bilden, d.h. Ort, Zeit und involvierte Personen. Der Beschuldigte weist den Anklagevorwurf von sich und bestreitet, C. angegriffen zu haben. Da der Beschuldigte den beiden terminierten Hauptverhandlungen fernblieb, der Zeuge D. als dritte, am Vorfall anwesende, aber nicht am anklagegegenständlichen Kerngeschehen direkt involvierte, Person seiner Vorladung ebenfalls keine Folge leistete, war die Ermittlung des Kerngeschehens in der bestehenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation mangels Sachbeweisen nicht möglich. Deshalb wurde das Verfahren im Rahmen der Hauptverhandlung vom 12. Mai 2021 sistiert (siehe vorne Prozessgeschichte Lit. O). An der, der Sistierung zu Grunde liegenden Beweislage hat sich nichts geändert und es kann bzw. muss offenbleiben, was sich tatsächlich zugetragen hat. Anders verhält es sich mit den rechtlichen Gegebenheiten, hat sich - wie nachfolgend zu zeigen sein wird - die Rechtsprechung zur Beamteneigenschaft von Sicherheitsmitarbeitenden in Bundesasylzentren seit dem Zeitpunkt der Sistierung geändert, weshalb in casu ein Urteil ergehen kann, ohne dass die Anwesenheit des Beschuldigten erforderlich ist.
2.4.2
2.4.2.1 Das Bundesgericht hielt in BGE 148 II 218 zusammengefasst fest, dass die Gewährleistung von Sicherheit in einer vom Bund errichteten und geführten Asylunterkunft als öffentlich-rechtliche Aufgabe des Bundes zu qualifizieren sei und für die Auslagerung sicherheitspolizeilicher Aufgaben namentlich in Bezug auf die formellgesetzliche Grundlage (Art. 178 Abs. 3 BV) besonders hohe Anforderungen gelten. Im zu beurteilenden Zeitpunkt, so das Bundesgericht, fehlte es an einer hinreichend bestimmten formellgesetzlichen Grundlage für die Auslagerung von Sicherheitsaufgaben in Asylzentren des Bundes, insbesondere genügte der damals noch massgebende aArt. 26 AsylG (in der Fassung vom 1. Juli 2013) den hohen Anforderungen an die Normbestimmtheit der formellgesetzlichen Regelung für die Übertragung sicherheitspolizeilicher Aufgaben nicht (BGE 148 II 218 E. 4.3 f. m.w.H. und E. 5.3.6).
2.4.2.2 Mit Urteil vom 14. Juli 2022 hielt die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts zusammengefasst mit Bezug auf BGE 148 II 218 fest, dass die Übertragung der polizeilichen und damit öffentlichen Aufgabe der Gewährung von Ruhe und Ordnung in der vom Bund errichteten und geführten Asylunterkunft Z. an die E. AG durch das SEM ohne formellgesetzliche Grundlage erfolgt sei, die E. AG daher nicht für sich beanspruchen könne, eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen und die vom Sicherheitsunternehmen eingesetzten Hilfspersonen den Beamtenbegriff von Art. 110 Abs. 3 StGB nicht erfüllen, womit die von den durch die E. AG eingesetzten Hilfspersonen ausgeführten Verrichtungen mangels funktionellem Beamtenstatus keine Amtshandlungen darstellen und diese mangels übertragenen Kompetenz zudem nicht befugt seien, polizeiliche Massnahmen durchzuführen oder polizeilichen Zwang auszuüben (CA.2022.9 E. 3.2.5).
2.4.2.3 Die von der Bundesanwaltschaft gegen den vorgenannten Entscheid der Berufungskammer des Bundesstrafgerichts erhobene Beschwerde wies das Bundesgericht mit Urteil 6B_947/2022 vom 6. Dezember 2022 ab. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Vorinstanz zu Recht von der in BGE 148 II 218 ausgeführten Rechtsprechung ausging, wonach das SEM keine Befugnis hat, polizeiliche Massnahmen oder polizeilichen Zwang auszulagern und von einem betrauten Dritten ausführen zu lassen, da der heute massgebende Art. 24b AsylG - dessen Wortlaut soweit relevant jenem von aArt. 26 AsylG entspricht - die hohen Anforderungen an die Normbestimmtheit der formellgesetzlichen Regelung zur Übertragung sicherheitspolizeilicher Aufgaben nicht zu genügen vermag und es somit an einer Delegationsnorm im Gesetz fehlt. Folglich bestand nach damals geltendem Recht kein Raum für die Anwendung polizeilichen Zwangs und polizeilicher Massnahmen durch die E. AG, womit deren Hilfspersonen bei der Verrichtung polizeilichen Zwangs nicht als Beamte i.S.v. Art. 110 Abs. 3 bzw. Art. 285 Ziff. 1 StGB handelten und die Fixierung, nicht der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe, sondern der privaten Gefahrenabwehr diente und damit keine amtliche Tätigkeit darstellt (Urteil 6B_947/2022 E. 3.2 ff. m.w.H.).
2.4.3
2.4.3.1 Im Lichte der vorgenannten bundesgerichtlichen Rechtsprechung hatte das SEM mangels genügender formellgesetzlicher Grundlage keine Befugnis dazu, polizeiliche Massnahmen oder polizeilichen Zwang auszulagern und von einem betrauten Dritten ausführen zu lassen, womit die vom betrauten Dritten eingesetzten Hilfspersonen nicht als Beamte i.S.v. Art. 110 Ziff. 3 bzw. Art. 285 Ziff. 1 StGB handelten und deren ausgeführte Verrichtungen mangels Beamteneigenschaft nicht als Amtshandlungen zu qualifizieren sind.
2.4.3.2 Vorgenanntes trifft auch auf das hier gegenständliche Verfahren zu, insbesondere mangelte es im hier relevanten Tatzeitraum an einer genügenden formellgesetzlichen Grundlage im oben erläuterten Sinne, die es dem SEM ermöglicht hätte, die polizeiliche und damit öffentliche Aufgabe der Gewährleistung von Ruhe und Ordnung in der vom Bund errichteten und geführten Asylunterkunft Z. an die B. SA zu übertragen, hatte das SEM doch keine Befugnis dazu, polizeiliche Massnahmen oder polizeilichen Zwang auszulagern und von einem betrauten Dritten ausführen zu lassen. Bestand somit kein Raum für die Anwendung polizeilichen Zwangs und polizeilicher Massnahmen durch die B. SA, handelte deren Hilfspersonen, mitunter C., bei der Wegweisung und der anschliessenden Fixierung des Beschuldigten, die eine polizeiliche Massnahme im Sinne von Art. 6 lit. a ZAG darstellte, die mit körperlicher Gewalt, also polizeilichem Zwang im Sinne von Art. 5 lit. a ZAG durchgesetzt worden ist, nicht als Beamte im Sinne von Art. 110 Abs. 3 bzw. Art. 285 Ziff. 1 StGB.
2.4.3.3 Nach dem Gesagten ist der vorliegend vom Tatbestand der Gewalt und Drohung betroffene diensthabende Sicherheitsmitarbeiter C. nicht als Beamter und seine Handlungen in Zusammenhang mit der Durchsetzung bzw. Wahrung von Ruhe und Ordnung im Bundesasylzentrum Z., insbesondere die Wegweisung vom Ort der Auseinandersetzung und die anschliessende Fixierung des Beschuldigten, nicht als Amtshandlungen i.S.v. Art. 285 Ziff. 1 StGB zu qualifizieren. In Anbetracht dieser Faktoren ist der Beschuldigte im Ergebnis vom Vorwurf der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte freizusprechen.
3. Hinsichtlich des Antrags der Verteidigung auf Einstellung des Verfahrens wegen der in der Anklageschrift aufgeführten Tatbestände der Tätlichkeit gemäss Art. 126 StGB und einfachen Körperverletzung nach Art. 123 StGB, infolge Rückzugs der entsprechenden Strafanträge (siehe dazu vorne Prozessgeschichte Lit. N), gilt was folgt:
Dem Tatbestand der Tätlichkeit gemäss Art. 126 StGB liegt derselbe Lebenssachverhalt zugrunde wie dem hier gegenständlichen Freispruch vom Vorwurf der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, wobei der Unrechtsgehalt des Letzteren jenen der Tätlichkeit mitumfasst und dieser insofern konsumiert wäre, weshalb sich eine separate Erledigung erübrigt. Hingegen ist das Verfahren gegen den Beschuldigten wegen einfacher Körperverletzung im Sinne von Art. 123 StGB infolge Rückzugs des Strafantrags in Anwendung von Art. 319 Abs. 1 lit. d StPO einzustellen.
4. Verfahrenskosten
4.1 Wird das Verfahren eingestellt oder die beschuldigte Person freigesprochen, so können ihr die Verfahrenskosten ganz oder teilweise auferlegt werden, wenn sie rechtswidrig und schuldhaft die Einleitung des Verfahrens bewirkt oder dessen Durchführung erschwert hat (Art. 426 Abs. 2 StPO).
Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung handelt es sich bei der Kostenpflicht des freigesprochenen oder aus dem Verfahren entlassenen Beschuldigten nicht um eine Haftung für ein strafrechtliches Verschulden, sondern um eine an zivilrechtliche Grundsätze angenäherte Haftung für ein fehlerhaftes Verhalten. Verlangt wird die klare Verletzung einer geschriebenen oder ungeschriebenen Verhaltensnorm aus der gesamten schweizerischen Rechtsordnung, durch welche die Einleitung des Verfahrens bewirkt oder dessen Durchführung erschwert wurde (BGE 144 IV 202, E. 2.2 m.H.; Urteile des Bundesgerichts 6B_1314/2016 vom 10. Oktober 2018, E. 9.2; 1B_180/2012 vom 24. Mai 2012, E. 2.2; 1B_39 und 43/2012 vom 10. Mai 2012, E. 3.3 und 1B_21/2012 vom 27. März 2012, E. 2.1, je m.w.H.). In tatsächlicher Hinsicht darf sich die Kostenauflage nur auf unbestrittene oder bereits klar nachgewiesene Umstände stützen (Urteile des Bundesgerichts 1B_180/2012 vom 24. Mai 2012, E. 2.2; 1B_39 und 43/2012 vom 10. Mai 2012, E. 3.3 und 1B_21/2012 vom 27. März 2012, E. 2.1, je m.w.H.).
4.2 Vorliegend sind die Umstände weder klar nachgewiesen noch unbestritten, womit eine Kostenauflage zum vornherein ausser Betracht fällt.
5. Entschädigung und Genugtuung des Beschuldigten
5.1
5.1.1 Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO hat die beschuldigte Person bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens Anspruch auf Genugtuung für besonders schwere Verletzungen ihrer persönlichen Verhältnisse, namentlich bei Freiheitsentzug. Gemäss Art. 429 lit. c StPO ist eine schwere Verletzung anzunehmen und eine Genugtuung zuzusprechen, wenn sich die beschuldigte Person ungerechtfertigt in Untersuchungshaft befand (Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1329; Wehrenberg/Frank, Basler Kommentar, 2. Aufl. 2014, Art. 429 StPO N. 27; Urteil des Bundesgerichts 6B_502/2020 vom 6. Mai 2021 E. 2.2). Der Anspruch ist nach Art. 429 Abs. 2 StPO von Amtes wegen zu prüfen. Die Festlegung der Höhe der Genugtuung beruht auf richterlichem Ermessen. Bei dessen Ausübung kommt den Besonderheiten des Einzelfalls grosses Gewicht zu (Wehrenberg/Frank, a.a.O., Art. 429 StPO N. 28).
5.1.2 Das Bundesgericht erachtet bei kürzeren Freiheitsentzügen Fr. 200.-- pro Tag als angemessene Genugtuung, sofern nicht aussergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine höhere oder eine geringere Entschädigung zu rechtfertigen vermögen (statt vieler Urteil des Bundesgerichts 6B_502/2020 vom 6. Mai 2021 E. 2.2). Dieser Tagessatz ist indes nur ein Kriterium für die Ermittlung der Grössenordnung der Entschädigung. In einem zweiten Schritt sind auch die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen wie namentlich die Dauer des Freiheitsentzugs, die Auswirkungen des Strafverfahrens auf die betroffene Person und die Schwere der ihr vorgeworfenen Taten (zum Ganzen: BGE 143 IV 339 E. 3.1 S. 342; Urteile des Bundesgerichts 6B_974/2020 vom 31. März 2021 E. 2.1 ff.; 6B_531/2019 vom 20. Juni 2019 E. 1.2.2; 6B_506/2015 vom 6. August 2015 E. 1.3.1; mit Hinweisen).
5.1.3 Die Lebenshaltungskosten am Wohnsitz der anspruchsberechtigten Person haben bei der Festsetzung der Genugtuung im Sinne von Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO grundsätzlich unberücksichtigt zu bleiben (BGE 125 II 554 E. 4a). Von diesem Grundsatz darf abgewichen werden, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten am Wohnsitz der anspruchsberechtigten Person von den hiesigen Verhältnissen markant abweichen und eine Entschädigung nach dem üblichen Ansatz daher eine krasse Besserstellung der anspruchsberechtigten Person zur Folge hätte. Sind die am Wohnort tieferen Lebenshaltungskosten bei der Festsetzung der Genugtuung im Sinne von Art. 431 Abs. 2 StPO ausnahmsweise zu berücksichtigen, darf indes nicht schematisch auf das (ungefähre) Verhältnis zwischen den Lebenshaltungskosten am Wohnsitz der anspruchsberechtigten Person und in der Schweiz abgestellt werden. Das Bundesgericht liess eine gewisse, nicht schematische Genugtuungsreduktion in Fällen zu, in denen die Lebenshaltungskosten am Wohnsitz der anspruchsberechtigten Person viel niedriger lagen als in der Schweiz (BGE 125 II 554 E. 4a: Vojvodina, autonome Provinz in der Republik Serbien, 18-mal tiefere Kaufkraft lässt eine Reduktion der Genugtuung um die Hälfte als angemessen erscheinen, wobei die mögliche Wohnsitznahme der zu Entschädigenden in der Schweiz berücksichtigt wurde; Urteil des Bundesgerichts 6B_502/2020 vom 6. Mai 2021 E. 2.2: Serbien, dessen Lebenshaltungskosten-Index bei 51.5 und die Kaufkraft rund 75 % tiefer als in der Schweiz liegen und das Lohnniveau weniger als 1/12 des schweizerischen Lohnniveaus beträgt, rechtfertigt eine Reduktion des Tagessatzes um 40 %; Urteil des Bundesgerichts 6B_974/2020 vom 31. März 2021 E. 2.1.2 ff.: Georgien, um 3.6-mal tiefere Lebenshaltungskosten und ca. 18.4-mal tieferer Durchschnittslohn rechtfertigt die Kürzung des üblichen Tagessatzes um 80 %, von Fr. 100.-- auf Fr. 20.--; Urteil des Bundesgerichts 6B_531/2019 vom 20. Juni 2019 E. 1.2.2: Polen, Reduktion der Genugtuung auf Fr. 160.-- pro Tag infolge der 60 % tieferen Kaufkraft im Vergleich zur Schweiz und einem Lohnniveau von 1/5 des schweizerischen Lohn-niveaus; Urteil 6B_242/2019 vom 18. März 2019 E. 2: Algerien, Reduktion der Genugtuung von Fr. 100.-- auf Fr. 70.-- infolge des 20-mal tieferen BIP pro Kopf; Urteil des Bundesgerichts 1A.299/200 vom 30. Mai 2001 E. 5c: Bosnien und Herzegowina, Reduktion der Haftentschädigung um 75 % bei sechs- bis siebenfach tiefere Lebenshaltungskosten; je mit Hinweisen).
5.2 Die Verteidigerin macht unter Berücksichtigung der Gesamtumstände (fehlende Bestellung einer anwaltlichen Vertretung zu Beginn des Verfahrens trotz offensichtlicher Notwendigkeit; krasse Gehörsverletzung im Haftverfahren vor dem Zwangsmassnahmengericht; systematische Schlechtbehandlung des Beschuldigten als Asylsuchender) eine Entschädigung von total Fr. 6'000.-- für 25 Tage Haft und damit Fr. 240.-- pro Hafttag geltend (TPF 2.521.014 ff.).
5.3
5.3.1 Der Beschuldigte hat sich vom 15. Mai 2020 bis am 8. Juni 2020 und somit für eine Dauer von 25 Tagen in Untersuchungshaft befunden (pag. BA 06-01-0001; -0033). Grundsätzlich ist vom üblichen Tagessatz von Fr. 200.-- auszugehen. Eine Erhöhung desselben aufgrund der Verfahrensdauer, wie von der Verteidigung geltend gemacht, rechtfertigt sich nicht, zumal die Verfahrensverzögerung durch das Untertauchen des Beschuldigten gleich im Anschluss an seine Haftentlassung wesentlich mitverursacht wurde. Ebenso wenig vermag die von der Verteidigung vorgebrachte «fehlende Bestellung einer anwaltlichen Vertretung zu Beginn des Verfahrens trotz offensichtlicher Notwendigkeit» eine Erhöhung des Tagessatzes zu rechtfertigen, wurde die notwendige Verteidigung doch am 20. Mai 2020, als sich abzeichnete, dass sich der Beschuldigte länger als 10 Tage in Untersuchungshaft befinden und somit die Voraussetzung zur Anordnung einer amtlichen Verteidigung i.S.v. Art. 130 Abs. 1 lit. a StPO erfüllt sein werde, bestellt. Schliesslich ist die von der Verteidigung vorgebrachte systematische Schlechtbehandlung des Beschuldigten als Asylsuchender im konkreten Fall nicht ersichtlich, geschweige denn erstellt, und fällt daher zum vornherein als genugtuungserhöhender Faktor ausser Betracht. Der vom Obergericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 11. Juni 2020 festgestellten Gehörsverletzung ist als in casu vorliegender Besonderheit mit einer leichten Erhöhung des Tagessatzes Rechnung zu tragen. Ins Gewicht fällt indes weiter, dass die Haft nicht dazu geführt hat, dass dem Beschuldigten (enge) soziale Bindungen entzogen oder er aus einer normalen beruflichen Tätigkeit gerissen wurde, wie dies einem Freiheitsentzug ansonsten inhärent ist, schliesslich wurde der Beschuldigte bereits mit Entscheid vom 26. März 2020 aus der Schweiz weggewiesen (siehe dazu Prozessgeschichte Lit. F), was wiederum genugtuungsmindernd zu berücksichtigen ist (vgl. dazu Urteil des Bundesgerichts 6B_974/2020 vom 31. März 2021 E. 2.2 f.). Unter Berücksichtigung der vorgenannten gesamten Umstände ist es angemessen, den Tagsatz bei Fr. 150.-- festzusetzen.
5.3.2 Indes ist eine Reduktion der Genugtuung mit Blick auf die Lebenshaltungskosten im Herkunftsland und damit dem mutmasslichen (und rechtmässigen) Wohnsitz des Beschuldigten, der mittels Boot über Spanien illegal in die Schweiz eingereist und derzeit unbekannten Aufenthalts ist (pag. BA 18-02-0001 ff.), vorzunehmen, weichen diese - wie nachfolgend zu zeigen sein wird - markant von den hiesigen ab, weshalb eine Entschädigung nach dem üblichen Ansatz eine krasse Besserstellung von A. zur Folge hätte.
Die Lebenshaltungskosten sind in Marokko unter Berücksichtigung des Lebenshaltungskosten-Index, der für Marokko bei 48.2 liegt, rund dreimal und damit markant tiefer als in der Schweiz. Entsprechend belegt die Schweiz in einem Vergleich der weltweiten Lebenshaltungskosten den zweiten Platz, Marokko Platz 60 (<https://www.laenderdaten.info/lebenshaltungskosten.php>; zuletzt aufgerufen am 9. Mai 2023). Während das durchschnittliche Minimaleinkommen in der Schweiz im Jahr 2022 bei US-Dollar 4'216 lag, belief sich dieses 2021 in Marokko auf US-Dollar 315 und lag somit 13.4-mal tiefer, mit anderen Worten, verdient man in der Schweiz in einem Monat mehr als während einem Jahr in Marokko (<https://ilostat.ilo.org/topics/wages/>; zuletzt aufgerufen am 9. Mai 2023). Schliesslich lag das BIP in Marokko im Jahr 2018 bei US-Dollar 7'928, jenes der Schweiz im Jahr 2020 bei US-Dollar 71'705 und damit rund 9-mal höher (<https://www.oecd.org/berlin/statistiken/bruttoinlandsprodukt.htm>; zuletzt besucht 9. Mai 2023).
Im Lichte dieser Faktoren und unter Berücksichtigung, der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, die namentlich aufgrund des 18.4-mal tieferen Lohndurchschnitts eine Reduktion des Tagessatzes um 80 % und mit Bezug auf die autonome Provinz Serbiens Vojvodina eine Reduktion der Haftentschädigung um die Hälfte als angemessen erachtet hat (siehe dazu vorne E. 5.1.3), der durchschnittliche Minimallohn in Marokko rund 13.4-mal tiefer liegt als in der Schweiz und sich Marokko in Bezug auf die Lebenshaltungskosten im internationalen Vergleich hinter Serbien (Platz 50 im Vergleich der weltweiten Lebenshaltungskosten) befindet, rechtfertigt sich in casu eine Reduktion des Tagessatzes auf einen Drittel. Diese Tagessatzhöhe hat nach dem Gesagten etwa die gleiche wiederherstellende Wirkung wie ein Tagessatz von Fr. 150.-- für einen in der Schweiz lebenden Genugtuungsberechtigten. Nach dem Gesagten ist der Tagessatz auf Fr. 50.-- zu reduzieren.
5.3.3 Der Zinssatz beträgt gemäss Art. 73 OR 5 % (BGE 129 IV 149 E. 4.1 - 4.3 mit Hinweisen; Urteil des Bundesgerichts 6B_534/2018 vom 21. Februar 2019 E. 4.2). Die ungerechtfertigte Untersuchungshaft stellt im Falle der Genugtuung nach Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO das zinsauslösende schädigende Ereignis im Sinne der dargelegten Rechtsprechung dar (Urteile des Bundesgerichts 6B_20/2016 vom 20. September 2016 E. 2.5.1; 6B_1404/2016 vom 13. Juni 2017 E. 2.2). Sofern – wie vorliegend – eine für jeden Hafttag gleichbleibende Genugtuungssumme zuzusprechen ist, kann der Zins ab einem mittleren Verfalltag zugesprochen werden (BGE 131 III 12 E. 9.5; Urteil des Bundesgerichts 6B_1404/2016 vom 13. Juni 2017 E. 2.2).
5.4 Insgesamt ist A. eine Haftentschädigung von Fr. 1'250.-- (25 Tage x Fr. 50.--), zzgl. Zins zu 5 % seit dem 27. Mai 2020 auszurichten.
6. Entschädigung der amtlichen Verteidigung
6.1 Mit Verfügung vom 11. Juni 2020 setzte die Bundesanwaltschaft Rechtsanwältin Sine Selman in Anwendung von Art. 132 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 130 lit. a und c StPO rückwirkend per 15. Mai 2020 als amtliche Verteidigerin des Beschuldigten ein (pag. BA 16-01-0017). Die Bestellung der amtlichen Verteidigung im Vorverfahren erstreckt sich auch auf das gerichtliche Verfahren (Art. 134 StPO in fine), womit die Strafkammer zur Festlegung der Entschädigung der amtlichen Verteidigung zuständig ist (Art. 135 Abs. 2 StPO).
6.2 Mit Verfügung vom 12. Mai 2021 wurde Rechtsanwältin Selman für ihre bisherigen Aufwendungen in Anwendung des Anwaltstarifs des Bundes gemäss BStKR (SR.173.713.162) mit insgesamt Fr. 8'338.35 (inkl. MWST), davon 7 h à Fr. 200.-- Reisezeit, 25.6 h à Fr. 230.-- Arbeitszeit sowie Auslagen in der Höhe von Fr. 454.20, entschädigt (TPF 2.821.005 ff.).
6.3 Die seit dem Erlass der Sistierungsverfügung ergangen Aufwendungen beziffert Rechtsanwältin Selman mit Fr. 1'244.85, davon 5 h Arbeitszeit à Fr. 230.-- sowie Fr. 5.85 Barauslagen, zzgl. der Mehrwertsteuer in Höhe von Fr. 89.--. Der geltend gemachte Arbeitsaufwand erscheint angemessen.
6.4 Im Ergebnis ist Rechtsanwältin Selman für die amtliche Verteidigung des Beschuldigten mit insgesamt Fr. 9'583.20 (inkl. Auslagen und 7.7 % MWST) zu entschädigen, wobei die bereits geleistete Zahlung in Höhe von Fr. 8'338.35 auf diesen Betrag angerechnet wird. Zu entrichten sind somit noch Fr. 1'244.85 (inkl. 7.7 % MWST).
Der Einzelrichter erkennt:
1. Das Verfahren gegen A. wegen einfacher Körperverletzung (Art. 123 StGB) wird eingestellt.
2. A. wird freigesprochen vom Vorwurf der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte (Art. 285 StGB).
3. Die Kosten des Verfahrens trägt die Eidgenossenschaft.
4. Die Eidgenossenschaft bezahlt A. Fr. 1'250.--, zuzüglich 5 % Zins seit dem 27. Mai 2020, als Genugtuung.
5. Rechtsanwältin Sine Selman wird für die amtliche Verteidigung von A. mit Fr. 9'583.20 (inkl. MWST) durch die Eidgenossenschaft entschädigt, unter Anrechnung ausgerichteter Zahlungen.
6. Dieser Entscheid wird den Parteien schriftlich eröffnet.
Im Namen der Strafkammer
des Bundesstrafgerichts
Der Einzelrichter Die Gerichtsschreiberin
Eine vollständige schriftliche Ausfertigung wird zugestellt an
- Bundesanwaltschaft
- Rechtsanwältin Selman
Nach Eintritt der Rechtskraft mitzuteilen an
- Bundesanwaltschaft als Vollzugsbehörde (vollständig)
- Staatssekretariat für Migration (Art. 68 Abs. 1 StBOG)
- Fedpol (Art. 1 Ziff. 9 Mitteilungsverordnung)
Rechtsmittelbelehrung
Berufung an die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts
Gegen Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichts, die das Verfahren ganz oder teilweise abschliessen, kann innert 10 Tagen seit Eröffnung des Urteils bei der Strafkammer des Bundesstrafgerichts mündlich oder schriftlich Berufung angemeldet werden (Art. 399 Abs. 1 i.V.m. Art. 398 Abs. 1 StPO; Art. 38a StBOG).
Mit der Berufung kann das Urteil in allen Punkten umfassend angefochten werden. Mit der Berufung können gerügt werden: Rechtsverletzungen, einschliesslich Überschreitung und Missbrauch des Ermessens, Rechtsverweigerung und Rechtsverzögerung, die unvollständige oder unrichtige Feststellung des Sachverhaltes sowie Unangemessenheit (Art. 398 Abs. 2 und 3 StPO).
Die Berufung erhebende Partei hat innert 20 Tagen nach Zustellung des begründeten Urteils der Berufungskammer des Bundesstrafgerichts eine schriftliche Berufungserklärung einzureichen. Sie hat darin anzugeben, ob sie das Urteil vollumfänglich oder nur in Teilen anficht, welche Abänderungen des erstinstanzlichen Urteils sie verlangt und welche Beweisanträge sie stellt. Werden nur Teile des Urteils angefochten, ist verbindlich anzugeben, auf welche sich die Berufung beschränkt (Art. 399 Abs. 3 und 4 StPO).
Beschwerde an die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts
Gegen den Entschädigungsentscheid kann die amtliche Verteidigung innert 10 Tagen schriftlich und begründet Beschwerde bei der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts führen (Art. 135 Abs. 3 lit. a und Art. 396 Abs. 1 StPO; Art. 37 Abs. 1 StBOG).
Mit der Beschwerde können gerügt werden: Rechtsverletzungen, einschliesslich Überschreitung und Missbrauch des Ermessens, Rechtsverweigerung und Rechtsverzögerung; die unvollständige oder unrichtige Feststellung des Sachverhalts sowie Unangemessenheit (Art. 393 Abs. 2 StPO).
Einhaltung der Fristen
Eingaben müssen spätestens am letzten Tag der Frist bei der Strafbehörde abgegeben oder zu deren Handen der Schweizerischen Post, einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung oder, im Falle von inhaftierten Personen, der Anstaltsleitung übergeben werden (Art. 91 Abs. 2 StPO).
Versand: 10. Mai 2023
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
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