E-MailWeiterleiten
LinkedInLinkedIn

Entscheid des Bundesstrafgerichts: BG.2023.32 vom 09.11.2023

Hier finden Sie das Urteil BG.2023.32 vom 09.11.2023 - Beschwerdekammer: Strafverfahren

Sachverhalt des Entscheids BG.2023.32

Die Eidgenössische Steuerverwaltung (EStV) hat gegen die A. GmbH in Liquidation wegen Verdachts auf versuchte Hinterziehung hoher Steuerbeträge eine Untersuchung durchgeführt, die als besondere Steueruntersuchung gemäss Art. 190 ff. des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (DBG) begangen wurde. Die EStV hat sichergestellt, dass die A. GmbH in Liquidation gegenüber den mit ihr verbundenen Gruppengesellschaften für die Benutzung der Marke "sports-millions" auf eine angemessene Entschädigung verzichtet habe und somit ihre Gewinne in hohem Ausmass zu Unrecht verkürzt hat, was sie versucht haben könnte, Gewinnsteuern in Millionenhöhe zu hinterziehen. Die EStV hat auch festgestellt, dass die A. GmbH in Liquidation Anstiftung oder Gehilfenschaft zu Steuerhinterziehung begangen hat und somit eine förmliche Untersuchung durchgeführt wurde.

Urteilsdetails des Bundesstrafgerichts

Instanz:

Bundesstrafgericht

Abteilung:

Beschwerdekammer: Strafverfahren

Fallnummer:

BG.2023.32

Datum:

09.11.2023

Leitsatz/Stichwort:

Schlagwörter

Gesuch; Gesuchs; Entsiegelung; VStrR; Siegel; Gesuchsgegner; Beschwerdekammer; Gesuchsgegnerin; Daten; Siegelung; Gericht; Unterlagen; Hausdurchsuchung; Einsprache; Holding; Costa; Gewinn; Durchsuchung; Bundesgericht; Verdacht; Siegelungsbegehren; Kopie; Verfahren; Entsiegelungsgesuch; Eidgenössische; Gesellschaften; Leistung; üssen

Rechtskraft:

Kein Weiterzug, rechtskräftig

Rechtsgrundlagen des Urteils:

Art. 10 BGG ;Art. 17 DBG ;Art. 175 DBG ;Art. 176 DBG ;Art. 18 DBG ;Art. 181 DBG ;Art. 186 DBG ;Art. 190 DBG ;Art. 191 DBG ;Art. 24 StGB ;Art. 248 StPO ;Art. 29 BV ;Art. 48 BGG ;Art. 66 BGG ;

Referenz BGE:

139 IV 246; ;

Entscheid des Bundesstrafgerichts

BE.2023.15, BP.2023.60

Tribunal pénal fédéral

Tribunale penale federale

Tribunal penal federal

Geschäftsnummer: BE.2023.15

Nebenverfahren: BP.2023.60

Beschluss vom 9. November 2023 Beschwerdekammer

Besetzung

Bundesstrafrichter

Roy Garré, Vorsitz,

Patrick Robert-Nicoud und Felix Ulrich,

Gerichtsschreiber Martin Eckner

Parteien

Eidgenössische Steuerverwaltung EStV,

Gesuchstellerin

gegen

A. GmbH in Liquidation,

Gesuchsgegnerin

Gegenstand

Entsiegelung (Art. 50 Abs. 3 VStrR)

Sachverhalt:

A. Die ESTV, Abteilung Strafsachen und Untersuchungen (nachfolgend «ASU»), führte eine besondere Steueruntersuchung gemäss Art. 190 ff. des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11) gegen die A. GmbH in Liquidation wegen Verdachts auf versuchte Hinterziehung hoher Steuerbeträge (Art. 176 DBG i.V.m. Art. 181 Abs. 1 DBG), mutmasslich begangen betreffend die Steuerperioden 2017 bis 2019. Die A. GmbH in liq. sei 100%ige Tochter der A. Holding AG in Liquidation (act. 1 S. 2 Ziff. 1.1; act. 1.8).

Die ASU untersuchte namentlich die Geschäftstätigkeit der A. GmbH in liq. innerhalb der A.-Gruppe. Es bestehe der Verdacht, dass ein erheblicher Teil der Gewinne, die B. SRL (Costa Rica; eine 100%-Tochter der A. Holding AG in liq.) zugerechnet worden seien, eigentlich der A. GmbH in liq. für die durch sie erbrachten Dienstleistungen zugestanden hätte. Zudem bestehe der Verdacht, dass die A. GmbH in liq. gegenüber den mit ihr verbundenen Gruppengesellschaften für die Benutzung der Marke «sports-millions» auf eine angemessene Entschädigung verzichtet habe. Die Erträge, auf welche die A. GmbH in liq. verzichtet habe, seien bei Bestätigung des Verdachts durch sie in der Schweiz zu versteuern und der Verzicht gegenüber nahestehenden Gesellschaften stelle eine geldwerte Leistung dar, auf welcher die Verrechnungssteuer hätte abgerechnet werden müssen. Die A. GmbH in liq. habe betreffend die Steuerperioden 2017 bis 2019 zudem auf ihr zustehende Entgelte für erbrachte Dienstleistungen sowie Lizenzertrag gegenüber nahestehenden Gesellschaften verzichtet und dadurch ihre Gewinne in hohem Ausmass zu Unrecht verkürzt, womit sie versucht habe, Gewinnsteuern in Millionenhöhe zu hinterziehen (act. 1 S. 6 Ziff. 2.2.12 und S. 7 Ziff. 2.5.1).

B. Gleichzeitig führt die ASU ein Verwaltungsstrafverfahren gegen natürliche Personen. C. sei bezüglich der A. GmbH in liq. Geschäftsführer und Liquidator; bezüglich der A. Holding AG in liq. Verwaltungsrat, Liquidator sowie Aktionär zu ca. 60% gewesen; bezüglich der B. SRL (Costa Rica) sei er zeichnungsberechtigt gewesen. D. seinerseits sei im Wesentlichen Verwaltungsratspräsident der A. Holding AG in liq. sowie für die B. SRL (Costa Rica) zeichnungsberechtigt gewesen (act. 1 S. 4 Ziff. 2.2.2; act. 1.8).

C. habe betreffend die Steuerperioden 2017 bis 2019 (1) Steuerbetrug (Art. 186 DBG) begangen, indem er als Geschäftsführer veranlasst habe, dass die zuständige Steuerbehörde unvollständige bzw. unwahre Jahresrechnungen der A. GmbH in liq. erhalten habe, dies mit der Absicht, damit Steuerhinterziehung zu begehen. Er habe sich auch der (2) Anstiftung oder Gehilfenschaft zu versuchter Steuerhinterziehung (Art. 177 DBG i.V.m. Art. 176 und 181 Abs. 1 DBG) schuldig gemacht, da die A. GmbH in liq. auf ihr zustehende Entgelte für erbrachte Dienstleistungen sowie Lizenzertrag gegenüber nahestehenden Gesellschaften verzichtet und dadurch ihre Gewinne mutmasslich in hohem Ausmass zu Unrecht verkürzt habe und versucht habe, Gewinnsteuern in Millionenhöhe zu hinterziehen. Er habe weiter (3) betreffend die Geschäftsjahre 2016/2017 bis 2019/2020 Abgabebetrug (Art. 14 Abs. 2 VStrR) begangen, eventuell Hinterziehung von Verrechnungssteuern (Art. 61 Bst. a VStG), indem er als Geschäftsführer der A. GmbH in liq. und als Vertreter der B. SRL (Costa Rica) mittels Einschaltung von Offshore-Gesellschaften ein regelrechtes Lügengebäude aufgebaut habe, um die Ausrichtung von geldwerten Leistungen durch die A. GmbH in liq. zu verschleiern, wobei er die geldwerten Leistungen gegenüber der EStV weder deklariert noch abgeliefert habe. Schliesslich habe er (4) betreffend die Geschäftsjahre 2016/2017 bis 2021/2022 eine Steuergefährdung (Art. 62 Abs. 1 Bst. a, f und g VStG) verursacht, indem er in seiner Funktion als Geschäftsführer der Pflicht zur Erteilung von Auskünften und zur Vorlage von Geschäftsbüchern und Belegen nicht nachgekommen sei, der Pflicht zur ordnungsgemässen Führung und Aufbewahrung der Geschäftsbücher, Register und Belege zuwidergehandelt habe und die ordnungsgemässe Durchführung einer Buchprüfung erschwert, behindert resp. verunmöglicht habe (act. 1 S. 7 f. Ziff. 2.5.2).

D. habe im Geschäftsbereich der A. GmbH in liq. betreffend die Steuerperioden 2017 bis 2019 (1) Anstiftung oder Gehilfenschaft zu Steuerbetrug (Art.186 DBG i.V.m. Art. 24 oder 25 StGB) begangen, indem er als Vertreter der B. SRL (Costa Rica) und als Verwaltungsratspräsident der A. Holding AG in liq. mitbewirkt habe, in der Absicht damit Steuerhinterziehung zu begehen, dass die A. GmbH in liq. in ihren Abschlüssen einen zu tiefen Gewinn ausgewiesen habe, was dazu beigetragen habe, dass die zuständige Steuerbehörde unvollständige bzw. unwahre Jahresrechnungen der A. GmbH in liq. erhalten habe. Er habe sodann (2) Anstiftung oder Gehilfenschaft zu versuchter Steuerhinterziehung (Art. 177 DBG i.V.m. Art. 176 DBG) begangen, indem er als Vertreter der B. SRL (Costa Rica) und als Verwaltungsratspräsident der A. Holding AG in liq. dabei mitgewirkt habe, dass die A. GmbH in liq. in ihren Abschlüssen einen zu tiefen Gewinn ausgewiesen habe. Er habe dadurch versucht, Steuern zu hinterziehen. Schliesslich habe er (3) im Geschäftsbereich der A. GmbH in liq. betreffend die Geschäftsjahre 2016/2017 bis 2019/2020 Anstiftung oder Gehilfenschaft zu Abgabebetrug (Art. 24 oder 25 StGB i.V.m. Art. 14 Abs. 2 VStrR) begangen, eventuell zu Hinterziehung von Verrechnungssteuern (Art. 5 VStrR i.V.m. Art. 61 Bst. a VStG), indem er als Vertreter der B. SRL (Costa Rica) und als Verwaltungsratspräsident der A. Holding AG in liq. dazu beigetragen habe, ein regelrechtes Lügengebäude aufzubauen, um die Ausrichtung von geldwerten Leistungen durch die A. GmbH in liq. zu verschleiern und die geldwerten Leistungen gegenüber der EStV weder zu deklarieren noch abzuliefern (act. 1 S. 8 Ziff. 2.5.3).

C. Am 26. Juni 2023 erliess die Direktorin der EStV den Durchsuchungsbefehl für die «A. GmbH in Liq., Zweigniederlassung, Z./TG» (act. 1.1). Die Hausdurchsuchung erfolge gemäss Durchsuchungsbefehl an der Zweigniederlassung, wo die Geschäftstätigkeit im Untersuchungszeitraum mehrheitlich erfolgt sei, und nicht am Hauptsitz der A. GmbH in liq. Die EStV interessierte sich für die Unterlagen zu zahlreichen Gesellschaften wie auch für solche betreffend C. und D.

Die Hausdurchsuchung fand am 5. Juli 2023 statt. Die EStV verfasste dazu ein Protokoll bezüglich der sichergestellten Akten (act. 1.3) und ein weiteres bezüglich der ab diversen Geräten sichergestellten Daten (act. 1.4). Im Protokoll fehlt eine namentliche Auflistung der anwesenden / partizipierenden Personen. Sie gibt lediglich die jeweiligen Funktionen an. Zudem ergibt sich daraus nicht direkt die Person, welche das Siegelungsbegehren stellte. Indizien deuten jedoch darauf hin, dass es sich um C. handeln muss.

Die EStV fertigte gemäss Protokoll vor Ort von vier der Geräte eine physische Sicherung an und stellte diese Kopie sicher (Asservat A.114–117). Sie machte auch bei vier Geräten aus einer Schuttmulde eine Sicherstellung (A.119–122). Davon sowie von einem iPhone (A.118) fertigte sie keine Sicherungen an. Der Inhaber der Papiere verlangte für sämtliche Unterlagen und Dateien die Siegelung. C. habe der EStV am 7. Juli 2023 per E-Mail bestätigt, im Namen der Gesuchsgegnerin am Siegelungsbegehren (resp. an der Einsprache gegen die Durchsuchung) festzuhalten (act. 1 S. 3 Ziff. 1.5).

D. Am 20. Juli 2023 stellte die EStV bei der Beschwerdekammer des Bundes—strafgerichts das Gesuch um Entsiegelung der sichergestellten Unterlagen und Daten (act. 1). Die Verfahrenskosten seien der Gesuchsgegnerin aufzuerlegen. Die EStV stellt zudem den prozessualen Antrag, es sei vorsorglich sicherzustellen, dass die in der Schuttmulde sichergestellten Akten mit den Asservatennummern A.016–031 fachgemäss getrocknet werden (act. 1 S. 2, 13; act. 1.3 S. 3). Die EStV übermittelte dem Gericht separat die Asservate des vorliegenden Verfahrens.

E. Das Gericht lud die A. GmbH in liq. am 21. Juli 2023 zur Gesuchsantwort ein (act. 3). Das Schreiben ging an die Zweigniederlassung der A. GmbH in liq. (Z./TG), wo auch die Hausdurchsuchung stattgefunden hatte. Die Post konnte die Sendung am 26. Juli 2023 in Y./TG zustellen.

F. Am 3. August 2023 beauftragte die Beschwerdekammer das Bundesamt für Polizei fedpol mit der Erstellung einer forensischen Kopie (2 Exemplare) der sichergestellten Daten (act. 5). Das Gericht erhielt am 10. August 2023 vom fedpol zwei Datenträger sowie den Bericht zur forensischen Sicherung (act. 7). Das fedpol fertigte von den bereits vor Ort kopierten Daten (A. 115–117) eine Kopie an. Die Daten der Asservate A.119–122 konnten forensisch gesichert werden. Da das Apple iPhone 6 (A.118) einen defekten Akku aufwies, konnte es nicht gesichert werden.

G. Da von der A. GmbH in liq. keine Gesuchsantwort einging, stellte die Beschwerdekammer am 13. September 2023 die Einladung nochmals an die Domiziladresse gemäss Handelsregisterauszug (act. 9) zu, X./SZ (act. 10). Die Post konnte sie am 14. September 2023 in W./ZH zustellen (act. 10.1). Innert der angesetzten Frist (25. September 2023) und bis heute ist beim Gericht keine Gesuchsantwort eingegangen.

Auf die Ausführungen der Parteien und die eingereichten Akten wird, soweit erforderlich, in den nachfolgenden rechtlichen Erwägungen Bezug genommen.

Die Beschwerdekammer zieht in Erwägung:

1.

1.1 Besteht der begründete Verdacht, dass schwere Steuerwiderhandlungen begangen wurden oder dass zu solchen Beihilfe geleistet oder angestiftet wurde, so kann der Vorsteher des Eidgenössischen Finanzdepartementes die ESTV ermächtigen, in Zusammenarbeit mit den kantonalen Steuerverwaltungen eine Untersuchung durchzuführen (Art. 190 Abs. 1 DBG). Schwe—re Steuerwiderhandlungen sind insbesondere die fortgesetzte Hinterziehung grosser Steuerbeträge (Art. 175 und Art. 176 DBG) und die Steuervergehen nach Art. 186 und Art. 187 DBG (Art. 190 Abs. 2 DBG). Gemäss Art. 191 Abs. 1 DBG richtet sich das Verfahren wegen des Verdachts schwerer Steuerwiderhandlungen gegenüber dem Täter, dem Gehilfen und dem Anstifter nach den Artikeln 19–50 VStrR. Bei der Verfolgung von Wider—handlungen gegen das Verrechnungssteuergesetz findet ebenfalls das VStrR Anwendung und die ESTV ist die verfolgende und urteilende Verwaltungsbehörde (Art. 67 Abs. 1 VStG).

1.2 Die Bestimmungen der Eidgenössischen Strafprozessordnung (StPO; SR 312.0) sind insoweit ergänzend oder sinngemäss anwendbar, als das VStrR dies ausdrücklich festlegt (vgl. Art. 22, Art. 30 Abs. 2-3, Art. 31 Abs. 2, Art. 41 Abs. 2, Art. 43 Abs. 2, Art. 58 Abs. 3, Art. 60 Abs. 2, Art. 80 Abs. 1, Art. 82, Art. 89 und Art. 97 Abs. 1 VStrR). Soweit das VStrR einzelne Fragen nicht abschliessend regelt, sind die Bestimmungen der StPO grundsätzlich analog anwendbar (BGE 139 IV 246 E. 1.2 S. 248, E. 3.2 S. 249; Urteile des Bundesgerichts 1B_210/2017 vom 23. Oktober 2017 E. 1.1; 1B_91/2016 vom 4. August 2016 E. 4.1; zum Ganzen Urteil des Bundesgerichts 1B_433/2017 vom 21. März 2018 E. 1.1). Die allgemeinen strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Grundsätze sind jedenfalls auch im Verwaltungsstrafverfahren zu berücksichtigen (BGE 139 IV 246 E. 1.2 und E. 3.2; TPF 2018 162 E. 3; 2017 107 E. 1.2 und E. 1.3; 2016 55 E. 2.3).

1.3 Die Ermächtigung vom 9. Juni 2023 der Vorsteherin des Eidgenössischen Finanzdepartementes gemäss Art. 190 Abs. 1 DBG findet sich nicht in den eingereichten Verfahrensakten. Dass sie erfolgt sei, wird nicht bestritten (vgl. act. 1.1 S. 1).

Über die Zulässigkeit der Durchsuchung entscheidet sodann die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts (Art. 50 Abs. 3 i.V.m. Art. 25 Abs. 1 VStrR und Art. 37 Abs. 2 lit. b StBOG). Dieses Gericht ist somit zur Behandlung des vorliegenden Gesuchs zuständig.

1.4 Eine förmliche (Verwirkungs-)Frist zur Einreichung des Entsiegelungsgesuchs analog dem Art. 248 Abs. 2 StPO ist den Bestimmungen des VStrR nicht zu entnehmen (Jeker, Basler Kommentar, 2020, Art. 50 VStrR N. 62). Die betroffene Verwaltungsbehörde hat bei der Stellung von Entsiegelungsgesuchen dem Beschleunigungsgebot ausreichend Rechnung zu tragen (Art. 29 Abs. 1 BV; BGE 139 IV 246 E. 3.2). Erfolgt ein Entsiegelungsgesuch knapp anderthalb Monate nach der Hausdurchsuchung und Siegelung, ist dem Beschleunigungsgebot in Strafsachen genügend Rechnung getragen (Urteil des Bundesgerichts 1B_641/2012 vom 8. Mai 2013 E. 3.3). Die Beschwerdekammer hat auch Fristen von rund zwei Monaten wiederholt als mit dem Beschleunigungsgebot vereinbar angesehen, wobei innerhalb dieser zwei Monate allerdings jeweils noch Abklärungen bezüglich des Festhaltens an der Einsprache bzw. bezüglich des Umfangs der Einsprache erfolgten (siehe die Beschlüsse des Bundesstrafgerichts BE.2018.8 vom 22. November 2018; BE.2013.4 vom 14. Oktober 2014 E. 1.3.3; BE.2013.7 vom 6. November 2013 E. 1.3.3; BE.2013.6 vom 29. Oktober 2013 E. 1.3.3; BE.2013.5 vom 16. Oktober 2013 E. 1.3.3; BE.2018.13 vom 1. Februar 2019 E. 2.3). Sie erkannte aber eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in einem Fall, in welchem das Gesuch ohne erkennbaren Grund erst zweieinhalb Monate nach der Hausdurchsuchung und Siegelung erfolgte (Beschluss des Bundesstrafgerichts BE.2013.8 vom 5. Dezember 2013 E. 1.4.3).

1.5 Vorliegend stellte die Gesuchsgegnerin das Siegelungsbegehren anlässlich der Hausdurchsuchung vom 5. Juli 2023. Das am 20. Juli 2023 erfolgte Entsiegelungsgesuch der EStV ist rechtzeitig erfolgt. Gegenstand des Gesuchs bildet die Entsiegelung von in Räumlichkeiten der Gesuchsgegnerin sichergestellten Unterlagen und elektronischen Daten. Die Gesuchsgegnerin ist deren Inhaberin und war somit zur erhobenen Einsprache (also zur Stellung des Siegelungsbegehrens) legitimiert.

1.6 In prozessualer Hinsicht beantragt die EStV, die in einer Schuttmulde sichergestellten Unterlagen seien Niederschlägen ausgesetzt gewesen. Um ihren Erhalt zu sichern, seien die Papiere unverzüglich fachgemäss zu trocknen, andernfalls deren Zerstörung durch Schimmelbefall drohe. Inwieweit darauf einzutreten ist, kann offenbleiben, da der Antrag ohnehin gegenstandslos ist: Bei der Öffnung des Kartons waren die Unterlagen trocken und das Gericht lagerte sie an einem trockenen und belüfteten Ort. Der prozessuale Antrag ist damit von der Geschäftskontrolle als gegenstandslos abzuschreiben, soweit darauf einzutreten ist.

2.

2.1 Im Entsiegelungsverfahren trifft Gesuchsgegner nicht nur eine spezielle prozessuale Substantiierungsobliegenheit hinsichtlich der von ihnen geltend gemachten Geheimnisinteressen und sowie der Untersuchungsrelevanz, sondern sie trifft auch dergestalt eine allgemeine Rügepflicht, als sie das Fehlen der übrigen allgemeinen Voraussetzungen (hinreichender Tatverdacht, Zulässigkeit der zugrunde liegenden Zwangsmassnahme, Verhältnis—mässig—keit) substantiiert behaupten müssen. Richtigerweise – und entgegen der gelebten Praxis – sind die allgemeinen Voraussetzungen der Entsiegelung folglich nicht von Amtes wegen zu prüfen, sondern nur, falls deren Fehlen explizit gerügt wird (so Graf, Praxishandbuch zur Siegelung, 2022, S. 121 Rz. 347).

2.2 Vorliegend wurde gemäss den Durchsuchungsprotokollen noch während der Hausdurchsuchung die Siegelung verlangt (in der Terminologie des VStrR: Einsprache gegen die Durchsuchung erhoben) und die EStV hat sogleich die Siegel angebracht (act. 1.3 S. 1 f.; act. 1.4 S. 1 f.). Allerdings erlaubt das von der EStV verwendete Formular nicht, konkrete Geheimnisinteressen anzuführen, sondern gibt nur Kästchen vor, die angekreuzt werden können («der Inhaber erklärt, keine Einsprache / Einsprache zu erheben»). Leerraum gibt es nur am Schluss des Protokolls unter «Bemerkungen». Dies stellt keine genügende Aufforderung an den Inhaber der Unterlagen/Daten dar, spezifische Geheimnisinteressen anzurufen. Ohne eine Kurzbegründung kann die EStV nicht prüfen, ob eine Siegelung zu erfolgen hat (vgl. Graf, a.a.O., S. 64 f.). Diese Prüfung wird so ins Entsiegelungsverfahren verschoben. Das verwendete Formular ist insoweit nicht ganz zweckdienlich (vgl. im Übrigen auch obige Erwägung C).

2.3 Vorliegend hat das Gericht die Gesuchsgegnerin einmal an der Adresse der Hausdurchsuchung und einmal an ihrem Domizil zur Gesuchsantwort eingeladen, ohne dass eine solche eingegangen wäre. Die Gesuchsgegnerin hat damit keine Geheimnisse geltend gemacht, die im Entsiegelungsverfahren zu wahren wären. Damit ist die Beschwerdekammer nicht in der Lage zu prüfen, ob Geheimnisse einer Entsiegelung und Durchsuchung entgegenstehen. Auch im Parallverfahren hat der Liquidator der Gesuchsgegnerin, C., Vollmacht nur für sich persönlich erteilt und hat sich dort ebenfalls nicht zu den vorliegend sichergestellten Asservaten geäussert. Dazu kommt, dass die Gesuchsgegnerin die in der offenen Schuttmulde angetroffenen und von dort sichergestellten Unterlagen und Datenträger aufgegeben (derelinquiert), die dort enthaltenen Informationen somit preisgegeben hat, mithin auch damit daran kein Geheimhaltungsinteresse bekundet.

2.4 Wurde vorliegend überhaupt kein Geheimnisschutzinteresse geltend gemacht, so wurde die Einsprache (das Siegelungsbegehren) offensichtlich unbegründet bzw. rechtsmissbräuchlich erhoben. Ein förmliches Entsiegelungsverfahren vor der Beschwerdekammer käme diesfalls zum Vornherein einem Prozessleerlauf gleich (vgl. Urteil des Bundesgerichts 7B_99/2022 vom 28. September 2023 E. 4.5). Mangels gültig erfolgtem Siegelungsbegehren ist damit auf das Entsiegelungsgesuch der EStV nicht einzutreten. Die von den Siegeln befreiten Unterlagen und Datenträger sowie die forensischen Kopien des fedpol sind der EStV zur weiteren Verwendung zu überlassen.

3. Die Gerichtskosten sind bei diesem Ausgang des Verfahrens der Gesuchsgegnerin aufzuerlegen (vgl. Art. 25 Abs. 4 VStrR i.V.m. Art. 66 Abs. 1 BGG analog; TPF 2011 25 E. 3). Die Gerichtsgebühr ist auf Fr. 1'000.-- festzusetzen (vgl. Art. 5 sowie Art. 8 Abs. 1 des Reglements des Bundesstrafgerichts vom 31. August 2010 über die Kosten, Gebühren und Entschädigungen in Bundesstrafverfahren [BStKR; SR 173.713.162]).

Demnach erkennt die Beschwerdekammer:

1. Der prozessuale Antrag wird als gegenstandslos abgeschrieben, soweit darauf einzutreten ist.

2. Auf das Entsiegelungsgesuch wird nicht eingetreten. Die Unterlagen und Datenträger sowie die forensischen Kopien des fedpol werden der EStV zur weiteren Verwendung überlassen.

3. Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird der Gesuchsgegnerin auferlegt.

Bellinzona, 15. November 2023

Im Namen der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts

Der Präsident:                                                            Der Gerichtsschreiber:

Zustellung an

- Eidgenössische Steuerverwaltung, mit (nach Eintritt der Rechtskraft) Zusendung der entsiegelten Unterlagen und Datenträger sowie der forensischen Kopien des fedpol

- A. GmbH in Liquidation, X./SZ

Rechtsmittelbelehrung

Gegen Entscheide der Beschwerdekammer über Zwangsmassnahmen kann innert 30 Tagen nach der Eröffnung der vollständigen Ausfertigung beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden (Art. 79 und 100 Abs. 1 des Bundesgesetzes über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005; BGG). Eingaben müssen spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht eingereicht oder zu dessen Handen der Schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsula—rischen Vertretung übergeben werden (Art. 48 Abs. 1 BGG). Im Falle der elektronischen Einreichung ist für die Wahrung einer Frist der Zeitpunkt massgebend, in dem die Quittung ausgestellt wird, die bestätigt, dass alle Schritte abgeschlossen sind, die auf der Seite der Partei für die Übermittlung notwendig sind (Art. 48 Abs. 2 BGG).

Das Verfahren richtet sich nach den Artikeln 90 ff. BGG.

Eine Beschwerde hemmt den Vollzug des angefochtenen Entscheides nur, wenn der Instruktions—richter oder die Instruktionsrichterin es anordnet (Art. 103 BGG).

Wollen Sie werbefrei und mehr Einträge sehen? Hier geht es zur Registrierung.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

Hier geht es zurück zur Suchmaschine.