Urteilsdetails des Bundesstrafgerichts
Instanz: | Bundesstrafgericht |
Abteilung: | Strafkammer |
Fallnummer: | SN.2017.7 |
Datum: | 26.06.2017 |
Entscheid des Bundesstrafgerichts
Bundesstrafgericht Tribunal pénal fédéral Tribunale penale federale Tribunal penal federal | |
Geschäftsnummern: SK.2017.2 und SN.2017.7 |
| | Verfügung vom 26. Juni 2017 Strafkammer |
| | Bundesstrafrichter Stefan Heimgartner, Einzelrichter Gerichtsschreiber Hanspeter Lukács |
| | Bundesanwaltschaft , vertreten durch Werner Pfister, Staatsanwalt des Bundes, |
| gegen |
| | A., erbeten verteidigt durch Rechtsanwalt Mattia Tonella, |
| | Irreführung der Rechtspflege (Rückweisung); Bestellung einer amtlichen Verteidigung |
Der Einzelrichter erwägt:
1.
1.1 Die Bundesanwaltschaft erliess am 7. September 2016 einen Strafbefehl gegen A. gemäss Art. 352 StPO . Sie sprach A. der Irreführung der Rechtspflege gemäss Art. 304 Ziff. 1 StGB schuldig (Dispositiv Ziff. 1), bestrafte sie mit einer bedingt aufgeschobenen Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je Fr. 60.-- (Dispositiv Ziff. 2) und auferlegte ihr Verfahrenskosten von Fr. 2'000.--- (Dispositiv Ziff. 3). Der Kanton Zürich wurde für den Vollzug als zuständig erklärt (Dispositiv Ziff. 4). Dispositiv Ziff. 5 lautet: Zustellung an: A., zu den Akten". - A. verzeichnet Wohnsitz in Moskau.
Zur Begründung führt die Bundesanwaltschaft an, A. habe zusammen mit B. durch ihren Rechtsvertreter, Rechtsanwalt C., am 27. Januar 2012 bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich eine Strafanzeige gegen unbekannte Täterschaft wegen Vermögensdelikten eingereicht. Darin habe sie geltend gemacht, eine unbekannte Täterschaft habe auf mehreren Dokumenten ihre Unterschrift gefälscht und damit im Februar und März 2011 bei einer Privatbank in Zürich Vermögenswerte zu ihrem Nachteil abgeführt; der entstandene Schaden belaufe sich auf rund USD 11,7 Mio. Das kantonale Verfahren sei am 22. August 2012 von der Bundesanwaltschaft übernommen worden, da es denselben Sachverhalt betroffen habe, betreffend welchen die Privatbank eine Geldwäschereiverdachtsmeldung erstattet habe und die Bundesanwaltschaft gestützt darauf am 17. Januar 2012 ein Strafverfahren gegen zwei Beschuldigte wegen Urkundenfälschung und Betrugs eröffnet habe. Die Untersuchung habe ergeben, dass in den als Fälschung angezeigten Fällen der Schriftzug von A. echt und nicht von dritter Hand angebracht worden sei. A. habe somit wider besseres Wissen ein Urkundendelikt angezeigt.
In prozessualer Hinsicht wird ausgeführt, Rechtsanwalt C. sei seit Juni 2016 nicht mehr Bevollmächtigter mit Zustellungsdomizil für A. Diese habe trotz Aufforderung kein Zustellungsdomizil in der Schweiz bezeichnet. Die Zustellung des Strafbefehls erfolge deshalb ohne Veröffentlichung zu den Akten".
1.2 Mit Eingabe vom 4. Oktober 2016 konstituierte sich Fürsprecher D. als Rechtsvertreter von A. (pag. 16.1.157). Am 10. Oktober 2016 wurden dem Rechtsvertreter die Akten in elektronischer Form übermittelt, einschliesslich einer Kopie des Strafbefehls (pag. 16.1.159, 16.1.163).
1.3 Mit Eingabe vom 9. November 2016 ersuchte Fürsprecher D. gemäss Art. 94 StPO um Wiederherstellung der Frist zur Einsprache gegen den Strafbefehl; gleichzeitig erhob er vorsorglich Einsprache gegen den Strafbefehl (pag. 3.0.11 f.).
1.4 Mit Verfügung vom 10. Januar 2017 wies die Bundesanwaltschaft das Gesuch um Wiederherstellung der Frist ab (pag. 3.0.16 f.).
1.5 Am 9. Februar 2017 überwies die Bundesanwaltschaft den Strafbefehl vom 7. September 2016 an die Strafkammer des Bundesstrafgerichts (TPF 3.100.1 ff.).
2.
2.1 Die Strafkammer eröffnete ein Verfahren unter Geschäftsnummer SK.2017.2 und teilte den Parteien die Besetzung des Gerichts mit (TPF 3.160.1).
2.2 Der Einzelrichter der Strafkammer lud mit Schreiben vom 21. Februar 2017 unter Hinweis auf Art. 356 Abs. 2 StPO die Parteien zur Stellungnahme zur Frage der Gültigkeit des Strafbefehls und der Einsprache ein (TPF 3.300.1).
Die Bundesanwaltschaft verzichtete mit Eingabe vom 3. März 2017 unter Hinweis auf den Strafbefehl und die Akten auf weitere Ausführungen (TPF 3.510.1). Im Überweisungsschreiben vom 9. Februar 2017 vertrat sie die Auffassung, dass die Einsprache gegen den Strafbefehl verspätet erhoben worden sei; das Gericht werde ersucht, darüber gegebenenfalls im schriftlichen Verfahren zu entscheiden.
Am 10. April 2017 konstituierte sich Rechtsanwalt Mattia Tonella als Rechtsvertreter von A. (TPF 3.521.2 ff.). Er trug innert erstreckter Frist an, es sei festzustellen, dass die Einsprache gegen den Strafbefehl rechtzeitig erfolgt sei.
Die Bundesanwaltschaft liess sich am 13. April 2017 vernehmen (TPF 3.510.3 f.).
2.3 Mit Eingabe vom 10. April 2017 ersuchte Rechtsanwalt Mattia Tonella namens A. um Bestellung einer amtlichen Verteidigung und seine Einsetzung als deren amtlicher Verteidiger (TPF 3.521.2 ff.; Geschäftsnummer SN.2017.7 ).
Am 13. Juni 2017 wurde der Rechtsanwalt aufgefordert, das Gesuch zu ergänzen.
Mit Eingabe vom 23. Juni 2017 reichte der Rechtsanwalt das von A. ausgefüllte und unterzeichnete Formular Persönliche und finanzielle Situation" ein.
3. Gültigkeit des Strafbefehls
3.1
3.1.1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt (Art. 85 Abs. 1 StPO). Die Zustellung erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung, insbesondere durch die Polizei (Art. 85 Abs. 2 StPO). Mit dem Einverständnis der betroffenen Person kann jede Zustellung elektronisch erfolgen (Art. 86 StPO ). Parteien und Rechtsbeistände mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland haben in der Schweiz ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen; vorbehalten bleiben staatsvertragliche Vereinbarungen, wonach Mitteilungen direkt zugestellt werden können (Art. 87 Abs. 2 StPO ). Mitteilungen an Parteien, die einen Rechtsbeistand bestellt haben, werden rechtsgültig an diesen zugestellt (Art. 87 Abs. 3 StPO). Die Zustellung erfolgt durch Veröffentlichung in dem durch den Bund bezeichneten Amtsblatt, wenn: a) der Aufenthaltsort der Adressatin unbekannt ist und trotz zumutbarer Nachforschungen nicht ermittelt werden kann; b) eine Zustellung unmöglich ist oder mit ausserordentlichen Umtrieben verbunden wäre; c) eine Partei oder ihr Rechtsbeistand mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland kein Zustellungsdomizil in der Schweiz bezeichnet hat (Art. 88 Abs. 1 StPO ). Die Zustellung gilt am Tag der Veröffentlichung als erfolgt (Art. 88 Abs. 2 StPO). Von Endentscheiden wird nur das Dispositiv veröffentlicht (Art. 88 Abs. 3 StPO). Einstellungsverfügungen und Strafbefehle gelten auch ohne Veröffentlichung als zugestellt (Art. 88 Abs. 4 StPO).
3.1.2 Die Zustellung gerichtlicher Urkunden an Personen im Ausland hat grundsätzlich auf dem Weg der internationalen Rechtshilfe zu erfolgen. Eine direkte Zustellung an eine Person im Ausland verletzt die Hoheitsrechte des betreffenden Staates. Russland bildet nicht Teil des Schengen-Raumes. Die im Schengen-Raum geltenden Regeln über die direkte Zustellung von gerichtlichen Urkunden (Art. 52 SDÜ) sind nicht anwendbar. Die Schweiz hat mit Russland keinerlei staatsvertragliche Vereinbarung über die direkte Zustellung von gerichtlichen Urkunden getroffen.
3.1.3 Gemäss der Verordnung über die elektronische Übermittlung im Rahmen von Zivil- und Strafprozessen sowie von Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren vom 18. Juni 2010 (VeÜ-ZSSV, SR 272.1) können Vorladungen, Verfügungen, Entscheide und andere Mitteilungen (Mitteilungen) auf elektronischem Weg zugestellt werden, sofern die betroffene Person dieser Art der Zustellung entweder für das konkrete Verfahren oder generell für sämtliche Verfahren vor einer bestimmten Behörde zugestimmt hat (Art. 9 Abs. 2 VeÜ-ZSSV) . Wer Mitteilungen auf elektronischem Weg zugestellt erhalten will, hat sich auf einer anerkannten Zustellplattform einzutragen (Art. 9 Abs. 1 VeÜ-ZSSV) . Die Zustellung erfolgt über eine anerkannte Zustellplattform (Art. 10 Abs. 1 VeÜ-ZSSV ). Die Zustellung gilt im Zeitpunkt des Herunterladens von der Zustellplattform als erfolgt (Art. 11 Abs. 1 VeÜ-ZSSV ).
3.1.4 Die Pflicht zur Bezeichnung eines Zustellungsdomizils gilt auch dann, wenn eine Partei ihren Wohnsitz oder Sitz während eines hängigen Verfahrens dauerhaft ins Ausland verlegt. Ist die Partei einmal aufgefordert worden, ein Zustellungsdomizil in der Schweiz zu bezeichnen, muss die Strafbehörde nicht erneut eine entsprechende Aufforderung erlassen, wenn das erste Zustellungsdomizil (etwa durch Mandatsniederlegung des beauftragten Anwalts) entfällt ( Brüschweiler , in: Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2014, Art. 87 StPO N. 3 f.; Merz , Basler Kommentar, Basel 2008, Art. 39 BGG N. 35 f.). Im Hinblick auf das Fairnessgebot ist die Partei mit der ersten Aufforderung zur Bezeichnung eines Zustellungsdomizils auf diesen Umstand hinzuweisen ( Brüschweiler , a.a.O., Art. 87 StPO N. 4).
3.2 Rechtsanwalt C. bezeichnete in der Strafanzeige vom 27. Januar 2012 den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt von A. nicht (pag. 5.101.1 ff.). Er geht auch nicht aus der beigelegten Anwaltsvollmacht hervor (pag. 5.101.16). Aus weiteren Beilagen sowie einer Eingabe von Rechtsanwalt C. vom 30. Januar 2012 geht jedoch hervor, dass A. bis zur Anzeige offenbar in Moskau Domizil verzeichnete (pag. 5.101.11, 5.101.63). Mit Eingabe an die Bundesanwaltschaft vom 15. November 2012 erklärte Rechtsanwalt C., dass sich A. im Strafverfahren als Straf- und Zivilkläger im Sinne von Art. 18 StPO beteilige; als ihr Wohnsitz gab er Moskau an (pag. 16.1.5). Da A. durch einen schweizerischen Rechtsanwalt vertreten war, erübrigte sich die Aufforderung an sie, ein Zustelldomizil in der Schweiz zu bezeichnen (Art. 87 Abs. 3 StPO). Die Bundesanwaltschaft sistierte am 15. Januar 2016 das im Strafbefehl erwähnte Strafverfahren gegen Dritte wegen Betrugs und Urkundenfälschung, an welchem sich A. und deren Sohn als Privatkläger beteiligt hatten. Die Verfügung wurde deren Rechtsvertreter, Rechtsanwalt C., zugestellt (pag. 3.0.1 ff.).
3.3
3.3.1 Am 26. Februar 2014 eröffnete die Bundesanwaltschaft die vorliegend interessierende Strafuntersuchung gegen A. wegen Irreführung der Rechtspflege gemäss Art. 304 Ziff. 1 StGB (Verfahrensnummer SV.14.0213-PFW). Die Mitteilung darüber erfolgte an A. "vorerst ad acta". Als Wohnsitz von A. wurde in der Eröffnungsverfügung Moskau angegeben (pag. 1.100.1 f.).
3.3.2 Am 26. Februar 2014 wurde A. zur Einvernahme als Beschuldigte im gegen sie eröffneten Strafverfahren vorgeladen. Die Vorladung wurde per Einschreiben zugestellt an Rechtsanwalt C. mit der Bitte um Weiterleitung an die Beschuldigte A.". Die Vorladung enthält folgenden weiteren Hinweis: Die Beschuldigte hat in der Schweiz zurzeit keine Rechtsvertretung, welche ihre Verteidigung übernommen hat. Die Vorladung wird Rechtsanwalt Dr. C. zugestellt mit der Bitte um Weiterleitung. Er vertritt A. in dem konnexen Verfahren SV.12.0058-PFW als Privatklägerin" (pag. 13.1.1 f.). Mit Schreiben vom 24. März 2014 teilte Rechtsanwalt C. mit, dass er eine Beschwerde betreffend Amtsführung erhoben habe und deshalb [s]eine Klienten am 3. und 4. April nicht zu einer Befragung in Bern erscheinen werden" (pag. 16.1.66 f.). Mit Verfügung vom 1. April 2014 zitierte die Bundesanwaltschaft unter Hinweis auf die vorgenannte Eingabe den Einvernahmetermin ab (pag. 13.1.5 f.). Am 17. Juni 2014 erliess die Bundesanwaltschaft eine Vorladung an A. zur Einvernahme am 9./10. September 2014 als Auskunftsperson im Verfahren SV.12.0058-PFW und als beschuldigte Person im Verfahren SV.14.0213-PFW. Die Vorladung wurde an Rechtsanwalt C. zugestellt; sie enthält die gleichen Hinweise bezüglich Weiterleitung wie die erste Vorladung (pag. 13.1.8 f.). Am 9. September 2014 führte die Bundesanwaltschaft mit A. in Bern eine Einvernahme als beschuldigte Person betreffend Irreführung der Rechtspflege sowie als Auskunftsperson durch. Die Einvernahme erfolgte in Anwesenheit von Rechtsanwalt C. (pag. 13.1.12 ff.). A. erklärte, dass sie sich im Strafverfahren gegen ihre Person durch Rechtsanwalt C. verteidigen lassen wolle, da dieser sie schon als Privatklägerin vertrete (pag. 13.1.15 Z. 5). Der Rechtsanwalt erklärte die Mandatsannahme zu Protokoll (pag. 13.1.15 Z. 15 f.).
3.3.3 Die (weiteren) Zustellungen von Mitteilungen der Strafbehörden an die Beschuldigte konnten damit rechtsgültig an den schweizerischen Rechtsvertreter erfolgen.
3.4
3.4.1 Am 15. Juni 2016 teilte die Bundesanwaltschaft Rechtsanwalt C. den bevorstehenden Abschluss der Strafuntersuchung gegen A. wegen Irreführung der Rechtspflege mittels Strafbefehl mit und lud ihn ein, allfällige Beweisanträge bis zum 6. Juli 2016 einzureichen (pag. 16.1.139). Mit E-Mail vom 22. Juni 2016 teilte A. der Bundesanwaltschaft in englischer Sprache mit, C. sei nicht mehr ihr Rechtsvertreter; sie habe keinen Rechtsvertreter mehr in der Schweiz. Sie werde sich in allen Fällen selber vertreten (all cases I solve by myself"). Sie bat darum, sämtliche Mitteilungen an die von ihr angegebene E-Mail-Adresse oder an ihre Postadresse in Moskau zu senden (pag. 16.1.142). Rechtsanwalt C. bestätigte mit Schreiben vom 27. Juni 2016, dass er die Interessen von A. im Verfahren SV.14.0213-PFW nicht mehr vertrete (pag. 16.1.146). Am 4. Juli 2016 erhielt die Bundesanwaltschaft von A. eine schriftliche Eingabe in russischer Sprache (pag. 16.1.149). Laut interner Übersetzung teilte sie mit, dass Rechtsanwalt C. nicht mehr ihr Vertreter sei; Mitteilungen seien direkt an sie zu richten. Sie teilte ihre Postanschrift und E-Mail-Adresse mit. Sie erklärte, die Frist bis 6. Juli 2016 nicht einhalten zu können, und ersuchte um Fristerstreckung bis 1. September 2016. Aus finanziellen Gründen könne sie nicht termingerecht einen neuen Rechtsanwalt suchen (pag. 16.1.151).
3.4.2 Mit E-Mail vom 18. Juli 2016 an die von A. angegebene E-Mail-Adresse bestätigte die Bundesanwaltschaft den Empfang der E-Mail von A. vom 22. Juni 2016. Sie wies A. in englischer Sprache darauf hin, dass sie bis 15. August 2016 einen neuen Rechtsvertreter in der Schweiz zu bezeichnen habe. Bei Unterlassen werde der Strafbefehl, den die Bundesanwaltschaft zu erlassen gedenke, ohne Mitteilung an die Beschuldigte zu den Akten gelegt (pag. 16.1.152).
3.4.3 Am 7. September 2016 erliess die Bundesanwaltschaft den Strafbefehl (E. 1.1).
3.5
3.5.1 A. war seit ihrer ersten Einvernahme gültig durch einen schweizerischen Rechtsanwalt vertreten; die Bezeichnung bzw. die Aufforderung zur Bezeichnung eines Zustellungsdomizils erübrigte sich daher. Nach Beendigung des Mandatsverhältnisses hatte A. ein neues Zustellungsdomizil in der Schweiz zu bezeichnen (Art. 87 Abs. 2 StPO ). Dem gleichgestellt ist die Bestellung einer Rechtsvertretung, an die rechtsgültig zugestellt werden kann (Art. 87 Abs. 3 StPO ).
3.5.2 Da A. Wohnsitz in Russland hat, war ihr die Aufforderung zur Bezeichnung eines Zustellungsdomizils auf dem Weg der internationalen Rechtshilfe zuzustellen (E. 3.1.2). Daran ändert nichts, dass A. sich bereit erklärt hatte, Mitteilungen an ihre E-Mail-Adresse entgegenzunehmen. Die Voraussetzungen für eine elektronische Mitteilung sind vorliegend nicht erfüllt (E. 3.1.3). Zudem stünden einer solchen Mitteilung die ausländischen Hoheitsrechte entgegen (E. 3.1.2).
3.5.3 Die E-Mail-Mitteilung der Bundesanwaltschaft an A. vom 18. Juli 2016 ist somit ungültig; sie entfaltete keinerlei Rechtswirkungen gegenüber A.
3.6
3.6.1 Die Zustellungsfiktion gemäss Art. 88 Abs. 4 StPO ist im Lichte der Verfahrensgarantien gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK problematisch. Die Anwendung dieser Bestimmung setzt jedenfalls voraus, dass die Staatsanwaltschaft alle Anstrengungen unternommen hat, um den Aufenthaltsort des Beschuldigten zu erforschen, unabhängig davon, welcher Anwendungsfall von Art. 88 Abs. 1 StPO - lit. a, b oder c - vorliegt (Urteil des Bundesgerichts 6B_421/2016 vom 12. Januar 2017 E. 1.1, 1.3, mit Hinweisen; Urteil des Bundesgerichts 6B_738/2011 vom 20. März 2012 E. 3.1, 3.3).
3.6.2 Der ausländische Aufenthaltsort von A. war der Bundesanwaltschaft bekannt; A. hatte ihre Adresse der Strafbehörde mehrmals mitgeteilt, letztmals schriftlich am 4. Juli 2016 (Posteingang; E. 3.4.1). Eine Zustellung der Aufforderung zur Bezeichnung eines Zustellungsdomizils nach Art. 87 Abs. 2 SPO durch Veröffentlichung im Bundesblatt wäre daher unzulässig gewesen. Nichts anderes gilt für den Strafbefehl vom 7. September 2016. Auch im Zeitpunkt des Erlasses des Strafbefehls war der Aufenthalt von A. bekannt. Der Strafbefehl hätte A. daher auf dem Rechtshilfeweg zugestellt werden müssen. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Zustellung des Strafbefehls durch Veröffentlichung im Bundesblatt waren demzufolge nicht gegeben. Dementsprechend ist auch die Zustellungsfiktion gemäss Art. 88 Abs. 4 StPO nicht anwendbar.
3.7 Der Strafbefehl vom 7. September 2016 wurde nach dem Gesagten nicht rechtsgültig zugestellt. Die Frist zur Einsprache konnte daher nicht zu laufen beginnen. Es liegt mithin ein ungültiger Strafbefehl im Sinne von Art. 356 Abs. 5 StPO vor. Der Strafbefehl ist aufzuheben und der Fall zur Durchführung eines neuen Vorverfahrens an die Bundesanwaltschaft zurückzuweisen (Art. 356 Abs. 5 StPO ).
3.8 Für diesen Entscheid sind keine Kosten zu erheben.
4. Amtliche Verteidigung
4.1 Ein Fall notwendiger Verteidigung wird vorliegend weder geltend gemacht noch sind diesbezügliche Gründe im Sinne von Art. 130 StPO aus den Akten ersichtlich. Abgesehen von Fällen notwendiger Verteidigung ist auf Antrag hin eine amtliche Verteidigung anzuordnen, wenn die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist (Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO ). Eine Verteidigung ist namentlich geboten, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Fall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre. Nach der Legaldefinition liegt ein Bagatellfall namentlich nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als 4 Monaten bzw. eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen droht.
4.2 Was das Kriterium der Mittellosigkeit betrifft, hat A. einen Lohnausweis aus dem Jahr 2016 ins Recht gelegt. Dieser bescheinigt ihr ein Einkommen von RUB 792'170.28, wovon RUB 102'982.-- als Einkommenssteuer vom Staat abgezogen wurden. Aus der eingereichten Mietkostenabrechnung ergeben sich Kosten von insgesamt RUB 121'620. Was die Vermögensverhältnisse betrifft, ist A. (Mit-) Eigentümerin einer selbst bewohnten Wohnung in Moskau im geschätzten Wert von CHF 150'000.--; sie weist ein Bankguthaben von umgerechnet ca. CHF 135.-- aus. Bei diesen Einkommensverhältnissen verbleiben A. weit weniger als CHF 1000.-- monatlich, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bei den bestehenden Vermögensverhältnissen erscheint eine Eigentumsveräusserung oder eine Kreditaufnahme zur Finanzierung einer Verteidigung nicht zumutbar. Auch unter Berücksichtigung der (im Vergleich zur Schweiz) tieferen Lebenshaltungskosten in Moskau verbleiben A. demnach nicht genügend Mittel, um in der Schweiz einen Strafverteidiger zu finanzieren bzw. zu bevorschussen.
4.3 Obschon die mit Strafbefehl vom 7. September 2016 ausgesprochene Strafe von 120 Tagessätzen formal an der Grenze des Bagatellfalls anzusiedeln ist, kann angesichts der inkriminierten Vorwürfe und der in einem gerichtlichen Verfahren im Fall eines Schuldspruchs drohenden Strafe nicht mehr von einem Bagatellfall ausgegangen werden (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_746/2012 vom 5. März 2013 E. 2.5, wonach im Einzelfall selbst dann nicht von einem Bagatellfall auszugehen sei, wenn der Schwellenwert gemäss Art. 132 Abs. 3 StPO nicht erreicht wird).
4.4 Tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten lassen eine Verteidigung als geboten erscheinen, wenn der Straffall für die beschuldigte Person mit derartigen Schwierigkeiten behaftet ist, dass sie alleine nicht dazu in der Lage ist, sich selber zu verteidigen. Dabei sind die persönlichen Fähigkeiten der beschuldigten Person zu berücksichtigen. Als in Russland lebende, die Verfahrenssprache und das schweizerische Strafjustizsystem nicht kennende Russin, sind die Anforderungen an die Komplexität des Straffalls nicht allzu hoch. Der vorliegende Fall erscheint zwar in tatsächlicher Hinsicht nicht komplex, steht doch der überschaubare Vorwurf im Raum, dass die beschuldigte Person ihren ehemaligen Anwalt dazu veranlasst habe, eine Strafanzeige wegen Betrugs und Urkundenfälschung zu verfassen, wodurch sie die Justiz irregeführt habe. Inhaltlich soll die betreffende Anzeige tatsachenwidrig festgehalten haben, dass die Unterschrift der (vorliegend) beschuldigten Person auf Dokumenten gefälscht worden sei. Prozessual ist zu berücksichtigen, dass das von der beschuldigten Person initiierte Strafverfahren lediglich sistiert wurde, mithin in keiner rechtskräftigen Einstellungsverfügung oder in einem allfälligen Urteil der Vorwurf der Urkundenfälschung materiell geklärt wurde. Die Beweislage erweist sich vorliegend für die beschuldigte Person nicht a priori als einfach, basiert doch der Strafbefehl nicht auf einem Geständnis oder einem direkten Beweis, sondern primär auf einem Schriftengutachten betreffend ihre Unterschriften mit Wahrscheinlichkeitsaussagen. Hinzu kommen, dass die Figur der mittelbaren Täterschaft im Raum steht, indem der ehemalige Anwalt von A. als Tatwerkzeug fungiert haben soll, und dass der Tatbestand von Art. 304 StGB direkten Vorsatz voraussetzt. In vorliegender Konstellation mit einer fremdsprachigen, anwaltlich vertretenen Anzeigeerstatterin stellt sich mithin - bei in objektiver Hinsicht geklärtem Sachverhalt - die beweisrechtliche Frage, inwieweit die in der Strafanzeige angeführte Behauptung durch die Beschuldigte wider besseres Wissen erfolgt ist. Auch erscheint die prozessuale Frage bezüglich der Zustellung/Einsprache für einen Laien rechtlich anspruchsvoll.
Zusammenfassend erweist sich der vorliegende Straffall für eine nicht mit der schweizerischen Strafjustiz vertraute Person, die nicht der deutschen Sprache mächtig ist, in prozessualer und materieller Hinsicht als hinreichend komplex, sodass eine amtliche Verteidigung als geboten erscheint.
4.5 Das Gesuch um Bestellung einer amtlichen Verteidigung ist somit gutzuheissen.
4.6 Die Verfahrensleitung berücksichtigt bei der Bestellung der amtlichen Verteidigung nach Möglichkeit die Wünsche der beschuldigten Person (Art. 133 Abs. 2 StPO ).
Dem von A. ausgedrückten Anwaltswunsch kann entsprochen werden. Die amtliche Verteidigung in der Person von Rechtsanwalt Mattia Tonella wird rückwirkend auf das Datum der Gesuchseinreichung (10. April 2017) bestellt; Gründe für eine weiter gehende Rückwirkung werden weder geltend gemacht noch sind solche aus den Akten ersichtlich.
4.7 Die Entschädigung der amtlichen Verteidigung durch den Bund erfolgt unter dem Vorbehalt der Rückerstattungspflicht der beschuldigten Person, wenn sie zu den Verfahrenskosten verurteilt wird (Art. 135 Abs. 4 StPO ). In dieser Hinsicht wird darauf hingewiesen, dass A. in der Strafanzeige geltend gemacht hat, es seien ihr auf betrügerische Art und Weise USD 11,7 Mio. entzogen worden.
4.8 Für diesen Entscheid sind keine Kosten zu erheben.
Der Einzelrichter verfügt:
I. Verfahren SK.2017.2
1. Das Verfahren SK.2017.2 wird sistiert.
2. Der Strafbefehl vom 7. September 2016 wird aufgehoben und der Fall zur Durchführung eines neuen Vorverfahrens an die Bundesanwaltschaft zurückgewiesen.
3. Die Rechtshängigkeit verbleibt nicht beim Gericht. Die Akten werden an die Bundesanwaltschaft retourniert.
4. Es werden keine Kosten erhoben.
5. Dieser Entscheid wird den Parteien schriftlich mitgeteilt.
II. Verfahren SN.2017.7
1. Das Gesuch von A. um Anordnung einer amtlichen Verteidigung im Verfahren SK.2017.2 wird gutgeheissen.
2. Rechtsanwalt Mattia Tonella wird mit Wirkung ab dem 10. April 2017 zum amtlichen Verteidiger von A. bestellt.
3. Es werden keine Kosten erhoben.
4. Dieser Entscheid wird Rechtsanwalt Mattia Tonella zugestellt.
Im Namen der Strafkammer
des Bundesstrafgerichts
Der Einzelrichter Der Gerichtsschreiber
Rechtsmittelbelehrung
Beschwerde an die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts
Gegen Verfügungen und Beschlüsse sowie die Verfahrenshandlungen der Strafkammer des Bundesstrafgerichts als erstinstanzliches Gericht, ausgenommen verfahrensleitende Entscheide, kann innert 10 Tagen schriftlich und begründet Beschwerde bei der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts geführt werden (Art. 393 Abs. 1 lit. b und Art. 396 Abs. 1 StPO ; Art. 37 Abs. 1 StBOG ).
Mit der Beschwerde können gerügt werden: a. Rechtsverletzungen, einschliesslich Überschreitung und Missbrauch des Ermessens, Rechtsverweigerung und Rechtsverzögerung; b. die unvollständige oder unrichtige Feststellung des Sachverhalts; c. Unangemessenheit (Art. 393 Abs. 2 StPO ).
Beschwerde an das Bundesgericht
Gegen verfahrensabschliessende Entscheide der Strafkammer des Bundesstrafgerichts kann beim Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, innert 30 Tagen nach der Zustellung der vollständigen Ausfertigung Beschwerde eingelegt werden (Art. 78 , Art. 80 Abs. 1 , Art. 90 und Art. 100 Abs. 1 BGG ).
Mit der Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht und Völkerrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a und b BGG ). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG ).
Versand: 26. Juni 2017
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